Der Rachehaufen
Ab und zu kann Fahrrad fahren, oder auch anderer Sport, aber in diesem Fall eben Fahrrad fahren, sehr erfrischend und belebend wirken.
Gerade wenn der Organismus so schwunglos ist und die Lungen voller Wohnungsluft sind, ist es wieder mal an der Zeit sich das Rad zu schnappen und über die Wiese in den nahegelegenen Wald zu fahren. Nicht etwa mit enganliegenden Radlershorts oder Trikot und Helm, sondern ganz leger in den Sporthosen des Vaters und irgendwelchen ranzigen Sportschuhen deren Ursprung nicht ganz klar ist.
Ein kurzes Stück führt die Strecke noch durch die kleine Stadt.
In dynamischer Weise fuhr ich über den Bürgersteig, wich einigen Fußgängern aus, schnappte Wortfetzen auf, dachte über deren Bedeutung nach bog hier und da in andere Sträßchen ein, bis ich schon ein wenig außer Atem das Feld erreichte.
Dem ganzen "Zivilsationsmist" würde ich nun für einige Zeit den Rücken zukehren und durch das ursprüngliche, unverfälschte Wesen der Natur seelische Regeneration erlangen.
Natürlich ist Radfahren in erster Linie ein körperlicher Kraftaufwand, doch da Körper und Seele einen ineinandergreifenden, untrennbaren Komplex darstellen, erwartete ich besonders sehnsüchtig die seelische Erholung, die spätestens, wenn ich mir zuhause den Schweiß abduschen würde, eintreten müsste.
Über jene Wiese gelangte ich letztendlich in den Wald, der mich nun vollends abkapselte von der trostlosen Stimmung der Stadt.
Ich hielt an, atmete tief ein, hörte die Vögel, wie sie von allen Seiten her zwitscherten, hier und da flog ein Insekt und manchmal knisterte und knackte es im Gehölz.
Ja, diese Waldluft hatte ein besonderes Aroma.
Alle Sorgen, die Trivialitäten des alltäglichen Lebens, Missverständinisse in meinen zwischenmenschlichen Angelegenheiten verloren an Bedeutung oder verschwammen in der Peripherie meines Denkens.
Nur ein Flugzeug, das ganz weit oben am Himmel flog, beeinträchtigte dieses Idyll durch sein vereinnahmendes Rauschen und Dröhnen und die strichförmige Abgaswolke, die es hinter sich zurückließ.
Ich radelte weiter, kam wieder auf eine Wiese, auf der ich einmal mit Freunden nachts gesessen, geraucht und Gitarre gespielt hatte.
Damals waren wir nicht nüchtern gewesen und es war dunkel. Wie anders nun der Ort erschien.
Noch ganz vertieft in dieser Erinnerung schwelgend, umfuhr ich eine kleine Pfütze, als plötzlich eine Stimme lauthals schrie : "Wolln se mir die ganzn Tiere vertreibe ?"
Völlig erschrocken blickte ich mich um, bis ich eines am Waldrand, zwischen einigen kleinen Bäumchen versteckten Jägerhochsitzes gewahr wurde, auf dem sich auch der Schreier befand, der mich so unsanft mit regional-typischem Zungenschlag attakierte.
"Du verscheuchst mir de Tiere, wenn de da mit de Fahrrad langfährst !"
Ich entgegnete ihm, dass es gewiss nicht mein Anliegen sei, ihm die Tiere zu verjagen, dass mich ganz andere Gründe hier hinaus in die Natur führten, und dass ich obendrein, und das hätten wir ja wohl gemeinsam, Naturfreund sei, und er sich doch freuen solle, dass dies bei jemandem in meinem Alter der Fall wäre.
"Du brauchst doch hier nit in de Dämmerung langfahre, wenn wir Jäger hier im Wald sind !", kläffte er von seinem Hochsitz zu mir hinab.
Unter dem grünen Mützchen, das auf traditionelle Weise mit einer Art Pinsel verziert war, verfärbte sich der Kopf des Jägers voller Wut und Fassungslosigkeit in einen ungesunden Rotton.
Der Gedanke beunruhigte mich, dass dieser Jäger, ein Gewehr mit sich führte.
"Isch kann dir auch mal den Hintern versohlen !" ertönte es plötzlich aus dem Mund, über dem ein Kaiser Wilhelm-Schnurrbart wuchs.
Daraufhin, sprintete ich voller Angst, hinterrücks von einem wohlmöglich alkoholisierten Jägersmann erschossen zu werden, den Hang hinab.
Normalerweise bemitleidete ich solche Menschen, doch infolge dieser unmittelbaren Auseinandersetzung, Auge in Auge, wichen die Gefühle der "Bewusstseinsüberlegenheit" gegenüber dieser Art von Menschen einem Gefühl, was man wohl eher als Verachtung bezeichnen kann.
Bald machte der Weg einen Knick und in einiger Entfernung, sah ich einen grünen Jeep auf einem kleinen Seitenweg stehen.
Ich brauchte nicht lange überlegen, bis mir klar wurde, dass der Choleriker von eben wohl mit eben diesem Vehikel angereist kam, um ein paar Rehe aus seinem Versteck herraus zu erschießen.
Die Aufregung, in die mich der Mann versetzt hatte, machte es wohl möglich, dass ich einen kühnen Einfall bekam und diesen auch noch, schnell bevor ich es mir vielleicht noch anders überlegen könnte, in die Tat umzusetzen begann.
Ich stieg vom Rad und schaute mit Herzklopfen in alle Richtungen. Ich war unbeobachtet. Und dann überraschte ich mich selbst : Ich kletterte auf die Motorhaube des Wagens, schaute mich nocheinmal ängstlich um, bis ich endlich mit zitternder Hand meinen Hosenknopf löste, mir die Hose samt Unterhose herrunterzog und meinen Arsch, den dann ein kühler Abendwind umsäuselte, über die Windschutzscheibe hielt.
Ich presste mir ganz geschwind eine lange, nicht sehr saftige Wurst herraus, die es noch nicht einmal erforderlich machte, Klopapier zum Einsatz kommen zu lassen, was aber auch gut war - es war nämlich keines zur Stelle.
Erschüttert und schockiert über mich selbst, aber auch irgendwie von einer euphorischen Gefühlsregung gepackt, besah ich noch auf der Motorhaube stehend meinen "Rachehaufen".
Dann schwang ich mich auf das Fahrrad und strampelte in Richtung Zivilisation. Unterwegs erschauderte ich unter dem berauschenden Gefühl, eine völlig neue, ungeahnte Seite an mir selbst entdeckt zu haben...