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Der Raum
Man hatte ihm gesagt, er stünde vor der Aufgabe seines Lebens. Man hatte ihm gesagt, die wenigsten Menschen schaffen es, sie zu lösen. Und man hatte ihm gesagt, die die es schaffen, wären einzigartig und besonders. Allerdings hatte man ihm nicht gesagt, was diese Aufgabe sei. Und darum hatte er sich auf alles vorbereitet, was ihm eingefallen war: Er studierte Jahre an den besten Schulen, trainierte Jahre in Sportclubs und betete täglich in der Kirche. Er hatte reiten gelernt, er hatte fechten gelernt und er hatte Inline-Skaten gelernt. Innerhalb von seinen achtzehn Jahren, die er schon auf diesen Planeten verbracht hatte, war er von einem hilflosen Kleinkind zu einem starken Mann herangewachsen. Er hatte viele Schlägereien in seinem Leben gewonnen, viel mehr als verloren; und er hatte oft Mädchen in seinem Bett gehabt, viel öfter, als das er allein geschlafen hatte. Er konnte sich an alles erinnern: an jeden einzelnen blauen Fleck und an jeden einzelnen zärtlichen Kuss. Und das hatte ihm stark gemach, stark genug, um an diese Aufgabe heranzugehen.
Nun stand er vor einer Tür. "Trete ein, bewältige deine Aufgabe, gehe wieder und sei ein Held", verkündete sie, doch als er das las, fühlte er sich schon längst als Held. Er hatte in seinem Leben Erfolg gehabt, "Gewinner" nannten ihm die Leute oft. Ja, ich bin ein Gewinner, dachte er nun. Er hatte für diesen Tag extra seinen besten Anzug angezogen, seine besten Schuhe und seine beste Uhr. Das würde sicher Eindruck machen, dachte er und fühlte sich wieder als Gewinner, noch mehr als zuvor.
Er griff zu der Türklinke und drückte sie hinab. Die Tür ging leicht auf und er freute sich, als hätte er die erste Aufgabe bereits gemeistert. Er trat ein. Er hatte eine kleine Kammer erwartet, doch der Raum war riesengroß und angenehmes Licht füllte ihn aus. Auf dem Boden stand mit großen Lettern "DU". Was ist denn das für eine Aufgabe, dachte er sich. Dann sah er den Pfeil, der über dem "DU" gemalt war. Er folgte ihm. Der Pfeil führte weit in den Raum und bald wurde er schmäler und bald wurde er finsterer!
Sollte ich mich jetzt etwa fürchten? dachte er so laut er konnte und ging weiter.
Weit ging er den Weg entlang, und es wurde immer finsterer und der Raum wurde immer enger und schnürte sich um seinen Hals. Das angenehme Licht, das den Raum am Anfang ausgefüllt hatte, war nur noch ein kleines Glimmen am Horizont! "Sollte ich mich jetzt fürchten?" Diesmal schrie er die Worte. Aber es war niemand da, der sie hören konnte.
Er war doch der Held.
Er war doch der Erfolgreiche.
Er war doch der Gewinner.
Und so ging er weiter. Bald konnte er nichts mehr sehen, bald schlang sich der Raum immer enger um ihn.
Dann sah er eine einsame Kerze brennen. Sie spendete genug Licht, sodass er sehen konnte, was am Boden stand. "DU" stand dort mit großen Lettern geschrieben. Auch die Wände verkündeten "DU", "du", "dU", in all möglichen Formen. "TU" stand dort, "YOU" stand dort und viele andere Sprachen erklärten ihm, wer er war. Er verstand sie alle. Wieder fühlte er sich als Gewinner.
Dann sah er noch etwas. Ein Spiegel hing an der Wand. Ich bin ein Held, dachte er, sah in den Spiegel und fiel auf der Stelle tot um.