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Der Riese

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21.08.2025
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Der Riese

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Dutzende Wellenkämme schauten aus wie riesige Schwanzflossen eines Pottwals, die sich mal hier und mal da blicken ließen. Ich schaute aufmerksam in die dunkelblaue Tiefe und hoffte, auch den Rücken des majestätischen Riesen zu erkennen. Genau hier, unter diesem Boot, folgte er ganz gelassen seiner gewöhnlichen Route und erblickte den Meeresboden mit seinen müden und traurigen Augen. Er weiß nichts von meiner Existenz. Das Boot an der Oberfläche erschien ihm genauso klein und ebenso unwichtig wie die Hektik der Wochentage. Er weiß genauso wenig von mir, wie ich von ihm – und trotzdem hoffen wir beide, uns einmal zu begegnen.

„Bist du noch hier?“
Mein Freund berührte leicht meine Hand und riss mich von meinen Gedanken über den Riesen weg.
„Ja“, antwortete ich. „Schau!“
Mehrere fliegende Fische schwebten gerade an der Meeresoberfläche und glänzten mit all ihrem Silber in den Sonnenstrahlen. Unweit machten kleinere, dunklere Raubvögel ihre Kreise, aber keiner von ihnen hatte bisher Glück. Die Fische waren schnell und furchtlos in ihrem Ehrenflug.

„Der Riese mag sie ganz bestimmt!“ sagte ich.
„Welcher Riese?“ wunderte sich mein Freund, sein gebräuntes Gesicht war im Schatten seines weißen Strohhutes versteckt.
„Ah, nichts!“ Ich küsste ihn kurz und zärtlich auf die Wange. „Bald sind wir endlich da!“

Die Wellen brachen sich in mikroskopische Tröpfchen, vermischten sich mit dem Wind und landeten auf Gesicht und Haaren als eine leichte, salzige Brise. Ich schloss die Augen und lauschte eine Weile den Wellen. Plötzlich hörte ich die Atmung des Riesen, schwer und zugleich unbesorgt. Das Echo klingelte in jeder Welle nach, sodass ich das Gefühl bekam, den Ozean atmen zu hören.

„Ich weiß, dass du da bist. Auch wenn ich dich nicht sehen kann“, hörte ich seine tiefe und freundliche Stimme.
„Ich… ich habe gehofft, dich zu sehen!“ erwiderte ich, zittrig vor Aufregung und Freude.
„Aber du hast mich doch gesehen! Ich spielte die ganze Zeit mit den Wellen!“
„Ja, ich habe dich gesehen! Und ich dachte, ich habe es mir nur eingebildet.“
„Du bist komisch! Glaubst du deinen Augen nicht?“
„Ja, es scheint so zu sein. Es tut mir leid, dass ich nicht an dich geglaubt habe!“
„Vielmehr glaubst du nicht an dich“, sagte die Stimme des Riesen leise und nachdenklich. Ich erinnerte mich an die stolze Pracht seiner Flossen, die mir nun so deutlich und real erschien.

„Gehetzt vom Alltag hast du vergessen, wer du bist“, fuhr er melancholisch fort, „aber sei nicht traurig, es ist nie zu spät, sich zu erinnern!“

Die Wellen wurden stiller, ihr Rauschen weich und wohltuend.
„Aber wie? Wie kann ich mich erinnern?“ fragte ich den Riesen. Ich hörte seinen bedächtigen Atem nur noch ganz leicht aus der Tiefe. „Wie kann ich mich daran erinnern, wer ich wirklich bin?“

Der Riese antwortete nicht.

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder!“ – eine fröhliche Stimme ertönte plötzlich aus dem Lautsprecher und weckte eingenickte Passagiere. „In wenigen Minuten erreichen wir unser Zielhafen!“ Passagiere streckten sich und schauten sich um. Der Hafen schimmerte im gelblichen Sand und wartete geduldig auf seine Gäste.

Ich drehte mich um, dorthin, wo die gerade hingezogene Horizontlinie im Ozean versank. Zum letzten Mal sah ich die schwarze Flosse des Riesen, die sich mal hier, mal da aus der Wellenspitze zeigte.
„Auf Wiedersehen, Riese!“ flüsterte ich.
„Auf ein baldiges Wiedersehen!“

Der Riese erhob senkrecht seine geriffelte Schwanzflosse und winkte mir zu. Ich winkte zurück, bis die Flosse endgültig im Meer verschwand.

„Gehen wir?“ Mein Freund drückte sanft meine Hand und lächelte. Ich blickte das letzte Mal zurück in die tiefblaue Ferne.
„Ja, es wird Zeit!“

 

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