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Der Ring

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06.10.2001
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Der Ring

Ewald boxte sich durch die dichtgedrängte Menschenmenge. Die vielen fröhlichen Gesichter, die an ihm vorbeitanzten, beachtete er nicht. Vom Bratwurststand wehte ihm ein wohlbekannter Duft in die Nase. Zwei Männer traten vom einen Fuß auf den anderen und schoben sich hastig eine Rote mit Senf in den Mund. Appetit hatte Ewald jedoch keinen. Das Herz schlug ihm bis zum Halse. Er drückte seine schwarze Ledertasche fest an sich und schaufelte sich noch etwas schneller durch den zähen Menschenteig.
Gewöhnlich zogen Volksmassen ihn unwiderstehlich an. Und nun konnte er den Marktplatz gar nicht schnell genug hinter sich lassen. Der Gemüsehändler Bosfahl nickte ihm, wie an jedem Samstag und an jedem Montag freundlich zu. Ein netter Kerl war der Alte, echt.
Ewald hatte den kühlen Stadtpark erreicht. Er setzte sich auf die Holzbank unter der großen Lerche. Der Taubendreck störte ihn nicht, dafür hatte man es hier am Ruhigsten. Er atmete tief durch und wartete, bis sich sein rasender Puls ein wenig verlangsamt hatte. Jedesmal dasselbe. Er blickte sich prüfend um. Dann öffnete er seine Tasche eine Handbreit. Ganz zu oberst lag die rote Geldbörse. Ewald untersuchte sie mit fliegenden Fingern. Kleinere Geldscheine. Um die Hundertachzig Mark, überschlug er schnell. Das konnter er recht gut. Kein Schlüssel, keine Papiere. Es mochte wohl nur die Börse einer Rentnerin sein. An die Menschen erinnerte sich Ewald nie. Wozu auch?
Ewald angelte erneut in der Tasche. Eine goldene Armbanduhr kam zum Vorschein. Wertvoll? Zu Hause hatte er einen ausführlichen Katalog. Seit vier Jahren interessierte er sich für solche Dinge. Nicht übel, dieses Stück, soviel wußte er schon. Ein wohliger Schauer überkam ihn. Er ließ die Uhr in das Mittelfach zurückgleiten und förderte nun einen Ring zutage. Gut sah der aus. Bei näherem Betrachten allerdings erwies er sich als billiger Modeschmuck. Bescheuert, dachte Ewald, es werden doch so viele teure Ringe gekauft. Zur Verlobung, Hochzeit und so weiter. Aber vielleicht sieht man den teuren ihren Wert gerade nicht an, kam ihm plötzlich der Gedanke.
Ein Stadtarbeiter machte sich am Rasensprenger zu schaffen und zwar gar nicht weit von der Bank. Ewald zog schnell den Reißverschluß der Tasche zu und ging zurück zum Marktplatz. Die dunkelhäutigen Blumenverkäufer in den Jogginghosen hörte er schon von weitem schreien. "Swei Bund fünf Mark. Alles frrrisch! Schauen, nehmen! Kommen Sie!" Bei Bosfahl stand eine große Kiste schöner, saftiger Pfirsiche. Warum eigentlich nicht? Ewald zog die rote Geldbörse heraus und stellte sich an. Die Kunden hingen meistens in Trauben an Bosfahls Stand. Ewald wunderte das nicht. Wohlwollen betrachtete er den fröhlichen, alten Mann. Dessen Augen blitzten vergnügt, er scherzte mit den Kunden, fragte nach den werten Befinden und schenkte den Kindern eine Kleinigkeit. Ewald kannte keinen, der sich Bosfahls Charme entziehen konnte. Beneidenswert, durch und durch gut und so beliebt!
Gewiß könnte er niemandem ein Haar krümmen, dachte Ewald. Bosfahls Bewegungen waren so flüssig und so geschickt, fast als habe er sie vorher genau einstudiert. "Elf Mark, fünfzich, bitte!" Die junge Frau reichte ihm einen Zwanziger. Bosfahl zählte auf seine Handfläche. "Fünfzich Pfennig macht zwölf und drei macht fünfzehn Mark und fünf macht zwanzig. Dankeschön!" Er schüttete der Kundin mit einer schnellen Bewegung die Münzen in die offene Hand, sie lächelte bezaubernd und verschwand in der Menge. Da entdeckte Ewald einen Ring an Bosfahls rechter Hand. Er war unverziert, glatt und schlicht. "Bitteschön?" Ewald räusperte sich. "Vier Pfirsiche hätte ich gerne." "Oh, guten Morgen! Sie sieht man ja wirklich an allen Markttagen. Ein eifriger Kunde, so haben wirs gern." Ewald grinste schief. "Jaja, Markt ist 'urbane Sinneswelt', so heißt es doch, nicht wahr?" Er schluckte. Wieder fiel sein Blick auf den Ring. Der matte, dezente Schimmer schien ihm besonders edel zu sein. Pfui! Schäm' dich, schalt er sich, so ein netter, alter Mann....! Nein, diesmal konnte er sich beherrschen. Der Ring sollte bleiben, wo er hingehörte.
"Zwei Mark fünfzich, macht das bitte!....Jawoll Und fünfzich Pfennig sind drei Mark und sieben sind zehn Mark. Herzlichen Dank!" Wieder der selbe Bewegungsablauf mit den Münzen in der Handfläche. "Schönes Wochenende!" Ewald schwamm zurück in den Menschenstrom und ließ sich gemächlich weitertreiben.
Unterwegs aß er eine Wurst mit Ketchup, genoß die Sonne auf der Haut und strahlte mit den vielen, fröhlichen Gesichtern um die Wette.
Irgendwann, es war schon recht spät geworden, wurde er am Käsestand angeschwemmt. Auch gut, dachte er und stellte sich in die Reihe. Da entdeckte er plötzlich die grüne Schürze wieder. Offenbar wollte Bosfahl hier seine eigenen Einkäufe erledigen. Er schwatzte mit einer Bekannten und war bester Laune wie immer. Unwillkürlich blickte Ewald auf den Ringfinger von Bosfahls rechter Hand. Der Ring war weg! Sonderbar. Plötzlich bemerkte er, dass in der größen, grünen Schürzentasche etwas schimmerte. Bosfahl hatte den Ring offenbar aus irgendwelchen Gründen abgestreift. Ewalds Herz begann wieder hart zu klopfen. Unauffällig blickte er um sich. Er fühlte sich unbeobachtet und recht sicher. Der Pöbel schien wie stets arglos ins Leere zu stieren. Mit einer vorsichtigen, schnellen Bewegung griff Ewald zu. Hastig wandte er sich ab und schlängelte sich, so schnell es ging, durch den bereits nachlassenden Menschenstrom. Nichts wie nach Hause, dachte er und sprang kopflos in den nächststehenden Bus. Die ganze Fahrt über streifte er die schwarze Tasche mit keinem Blick. Seine Gedanken jedoch kreisten nur um den Ring. Mußte das wirklich sein? quälte ihn sein Gewissen. Der liebe alte Bosfahl. In den letzten vier Jahren hatte es immer genügend unsympatische, auf jeden Fall aber unbekannte Menschen gegeben. Und nun so etwas! Ewald schüttelte unwillig den Kopf. Doch sein Gewissen plagte ihn weiter. Womöglich ist es sein Hochzeitsring. Bestimmt ist er das! Wie wird er sich grämen! Und seine Frau erst!
Es war natürlich er falsche Bus und es wurde ein endloser Umweg. Ewald stieg aus und um, sein Gewissen immer hinterher. Es ließ sich einfach nicht abschütteln.
Jetzt will ichs aber wissen, murmelte Ewald und schloß die Tür auf. Den Inhalt der schwarzen Tasche schüttete er auf den großen Küchentisch. Drei Uhren, einen Armreif, ein goldenes Kettchen, einen Kaugummi, vier Pfirsiche, eine Perlenbrosche, und... die zwei Ringe. Ewald hielt den Atem an. Was war denn das? Er betrachtet Bosfahls Rong genauer. Dann stieß er wutschnaubend einen Schrei aus und schleuderte beide Ringe im hohen Bogen aus dem Fenster.
Die Rentnerin, die die Ringe noch am selben Tage fand, fühlte sich zumindest ein wenig getröstet, wenn dies auch ein schlechter Ersatz für ihre rote Geldbörse mit den Hundertneunzig Mark war, die ihr noch zum Monatsende hätten reichen müssen. Den hübschen Modeschmuckring wollte sie ihrer Enkelin schenken. Aber mit dem alten Messingring, an den ein Fünfzig-Pfennigstück angelötet war, wußte sie nichts anzufangen.

 

Etwas verwirrend für mein Hirn, die Geschichte - aber die Idee ist hervorragend und am Stil kann man auch nicht meckern...! ;)

Grizze
stephy

 

Witzig erzählt, gute Atmosphäre, läßt sich flott lesen, schön lebendig...du packst viele Details in deine Erzählung, ohne den Text vollzustopfen, find ich gut :-)

San

 

@Stephy:

Etwas verwirrend für mein Hirn

Was? Hirn? Du??? :D

Nun zur Geschichte:

und strahlte mit den vielen, fröhlichen Gesichtern um die Wette.

Wie soll man sich das vorstellen?
Laufen da alle grinsend rum?

Insgesamt net schlecht.

Mfg: Uffmucker

 

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