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Der Ringelwurm
Kai war kribbelig an diesem Morgen. Früh aufgestanden, musste er die Entscheidung fällen, ob er duschen oder sich im Chatroom anmelden wollte. Er entschied sich für den Chat, wie meistens. Er füllte das Feld "Benutzername" mit "Ringelwurm26" aus und gab sein Passwort ein. Es war noch nicht viel los, sodass er Kaffee aufsetzen und sich die Zähne putzen konnte.
Im Chatroom war der "Ringelwurm" eine Art Lokalmatador mit bereits anderthalb Jahren Chaterfahrung. "Eindringlinge" und Leute die Stunk machten, wurden verbal von ihm aufgemischt, meistens zusammen mit den Administratoren des Chats. Er hatte einen unvergleichlichen Chat-Stil, dem andere kaum etwas entgegensetzen konnten. Heute wartete Kai ungeduldig auf eine Chatterin mit dem Pseudonym "Liebevolle_sie". Er kannte sie schon ein paar Wochen, und sie hatten bereits Cybersex zusammen gehabt. Außerdem wusste Kai, dass sie mit Vornamen Sybille hieß und 19 Jahre alt war.
Ein Blick zur Uhr sagte Kai, dass er die Bahn zur Arbeit heute nicht mehr erwischen würde. Er tauschte einige Begrüßungen und Floskeln mit den anderen Chattern aus. Endlich kam auch Sybille online. Heftig flirtete er sie an und "Liebevolle_sie" zog mit. Bevor Kai sich schließlich verabschiedete, tauschten sie Handynummern aus. "Das ist gut gelaufen" dachte Kai, als er in rasendem Tempo seine Schuhe und Jacke anzog und aus dem Haus stürmte.
***
Nachdem er sich beim Bäcker mit einem belegten Baguette ausgerüstet hatte, begab Kai sich zum Taxistand. "In die Regensburger Straße bitte, wir müssen bis halb neun da sein" instruierte er den Taxifahrer. Das Auto setzte sich in Bewegung, und der Fahrer fing an, Konversation zu machen. Er war sehr redselig. Obwohl Kai nur einsilbige Antworten gab, redete der Taxifahrer unbeschwert weiter. Kai wollte lieber an Sybille denken und fluchte innerlich.
Auch bei den Taxifahrern war Kai inzwischen wohlbekannt, da er des öfteren seine Bahn verpasste, nachdem er sich im Chat verplappert hatte, und mit dem Taxi versuchte, trotzdem pünktlich ins Büro zu kommen.
Der Fahrer war Perser oder Araber, Kai wusste es nicht genau, doch er wollte den Mann nicht danach fragen, um einen weiteren Redeschwall zu vermeiden. Als sie am Ziel angelangt waren, gab Kai zwei Geldscheine an den Fahrer, murmelte ein "Stimmt so" und stieg schnell aus.
***
Während der Arbeitstag voranschritt, konnte sich Kai kaum konzentrieren, da er sich ausmalte, wie er abends bei Sybille anrufen würde. Er fantasierte, wie wohl ihre Stimme klingen mochte und legte sich verschiedene Szenarien zurecht, wie er das Gespräch gestalten wollte. Ein freudiges Gefühl der Vorfreude und der Zufriedenheit machte sich bei ihm breit, und fast hätte er begonnen, ein Liedchen zu pfeifen.
Gegen Mittag kam Frau Schmoller, Mitte 40, mit einem Berg Akten zu ihm. "Vom Chef mit den besten Grüßen" feixte sie, drehte sich um und verließ den Raum wieder. Ein Blatt Papier fiel zu Boden als sie zur Tür hinausging. Kai hob es auf und warf einen Blick darauf. Er las "Ringelwurm26" und seine Handynummer. Er erbleichte und knüllte das Papier in seine Hosentasche.
Als er abends das Büro verließ, schwor Kai sich, sein Handy zu verkaufen, nie mehr in den Chatroom zu gehen und überhaupt gleich nach Amerika auszuwandern.
***
Erschöpft vom Treppensteigen und vom Schleppen der Einkaufstaschen öffnete Franziska Schmoller die Wohnungstür. Sie stellte die Tüten neben den bequemen Sessel und warf sich hinein. Sie streckte die Beine von sich, kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.
Nach ein paar Augenblicken rief sie "Sybille ?". Ein "Ja ?" kam zurück. "Ich hab's leider nicht geschafft diesen Ringelwurm für dich anzurufen, hab irgendwo die Nummer verbaselt." Sybille bog um die Ecke und antwortete "Macht nichts, ich treff' ihn wahrscheinlich später im Chat, dann frag' ich einfach nochmal."