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Der Rotkohl

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09.01.2007
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Der Rotkohl

Der Rotkohl
od.
wie mache ich mich bei meiner Schwiegertochter beliebt.


Die Einsamkeit fraß Ludwina Löcher ins Gehirn und rumorte in den Eingeweiden. Jeder Winkel, jede Ecke der Luxuswohnung gähnte sie dunkel an, atmete halbverwehte, schwere Erinnerungen. Sie hasste Erinnerungen, hasste die Zeit, hasste das Leben, hasste es, schon dreiundachtzig zu sein. Jeder Schritt verursachte Schmerzen. Die Luft stand still, war fast zu greifen, machte das Atmen schwer. Es roch muffig in den Räumen und ein pelziger Geschmack nach Schimmel lag ihr auf der Zunge. Hier hatte einmal das Leben getobt. Alles vorbei. Der Ehemann war seit vielen Jahren tot, der Sohn verheiratet, von den acht Geschwistern drei verstorben und die anderen krank oder gebrechlich, sodass es Familienfeste, auch sonstige Zusammenkünfte, nur noch selten gab.

Sie war alleine, alleine mit sich und ihren geliebten Kontoauszügen, die ihr regelmäßig per Post ins Haus flatterten. Ohne diese Strohhalme wären ihre Tage noch trostloser und dunkler, hätte sie sich wahrscheinlich längst in Luft aufgelöst. Dessen zumindest war sich die jüngere Schwester Lisa hundertprozentig sicher. Sie wohnte eine Etage unter Ludwina und kannte diese besser als alle anderen in der Großfamilie.

In Sorge um die alten Glasknochen hangelte sich Ludwina an der Wand entlang aus ihrem Schlafzimmer, durch den mit teuren Antiquitäten voll gestellten Flur, hinüber ins Arbeitszimmer des verstorbenen Gatten, fand dort nicht wonach sie suchte, warf einen ergebnislosen Blick ins Esszimmer, und entdeckte schließlich die Familienflasche Melissengeist auf dem Küchentisch nebenan. Gute Medizin, eine, die alles in Watte packte, das große Elend mit der Gnade des Vergessen zudeckte. Der Vollrausch, die Bewusstlosigkeit, wunderbar. Es gluggerte leise als die Kräutermischung das Wasserglas füllte. Nicht mehr lange und der Kanal wäre für Heute voll.

*

Erschöpft ruhte Lisas Blick auf ihrem Sohn Max. Sie dachte an die ältere Schwester. „Es liegt an den Genen. Ludwina war schon immer so!“ Ihre Stimme sackte ab in einen Tonfall der verriet, dass sie sich über das habgierige Wesen der Älteren keine Illusionen mehr machte. Eine Weile nestelte sie noch mit unruhigen Fingern am Taschentuch in ihrem Schoß, unterbrach schließlich abrupt ihre Tätigkeit und seufzte schwer. „Alles ist, wie es ist, sagt Buddha.“ Sie schaute kurz an die Küchendecke, so, als könne sie ihre Schwester in der Wohnung darüber sehen, blickte dann ins Leere, nickte vielsagend, presste den Mund zusammen, und schwieg.

Bitterkeit hatte in ihren Worten mitgeklungen. Nun hing sie mit großen Augen an den Lippen des Sohnes, wartete auf die Absolution, zumindest jedoch auf ein Zeichen dem sie entnehmen konnte, dass er ihren heißen Zorn verstand, ihre Empörung über den Diebstahl der dreißig Portionen Rotkohl teilte. Ein Diebstahl, der durch den Umstand, dass die eigene Schwester den Kohl gestohlen hatte, besonders schwer wog und sie abgrundtief enttäuschte. Max schloss die Kühlschranktür und setzte sich, die Wasserflasche in der Hand, zurück an den Küchentisch.

Der bereits vor vielen Jahren verstorbene Großvater fiel ihm ein. „Denk doch nur mal an die goldene Taschenuhr von Opa Gustav! Rotgold, Rotgold mit Kette. Mein ganzer Stolz als Kind. Opa Gustav schenkt mir seine Uhr, die er im ersten Weltkrieg aus der Türkei mitgebracht hatte. Stell dir das mal vor. Plötzlich war die Uhr weg. Alle wussten, dass es nur Ludwina gewesen sein konnte.“ Dankbar schaute Lisa ihren Sohn an. „Ja, genauso war’s. Das meinte ich damit, die Gene, es liegt bei Ludwina an den Genen. Sie kann nicht anders, wie eine Elster, die muss auch immer klauen.“ Mühsam kam die alte Dame auf die Beine und tippelte hinüber zur Küchenzeile. „Na ja, Jammern bringt auch nichts, dann gibt’s heute etwas Anderes.“ Indes Max seiner Mutter zuschaute wie sie ersatzweise Grießklöße mit Birnenschnitze und Krachelchen vorbereitete, beschäftigte ihn noch immer die Rotkohlgeschichte.

Volle acht Stunden lang war Lisa damit beschäftigt, Kohlkopf für Kohlkopf zu verarbeiten; vierteln, Strunk entfernen, feine lange Streifen schneiden, peinlichst darauf achten, dass kein welkes Blättchen die gute Qualität beeinträchtigte, und ab in den Dreißiglitertopf. Dazu Kochäpfel, Nelken, Lorbeer, Pfeffer, Salz und eine Prise Zucker. Das Wichtigste jedoch, war die Liebe bei der Arbeit. Ein Gewürz, dass man nicht kaufen konnte. Entweder man hatte es, oder nicht. Mit Liebe wurde jedes Essen besser, feiner, ausgewogener. Mit eben dieser Liebe ging sie zu Werke, im Bestreben, einen Rotkohl zu zaubern, der Seinesgleichen suchte, ihrer Familie schmeckte, und getrost eingefroren werden konnte. Sie kam erst zur Ruhe, als alle Portionen in der Tiefkühltruhe gebunkert waren. Jetzt konnten der Winter und der Sohn kommen.

Doch dann zerstörte Ludwina mit ihrem Diebstahl Lisas Vorfreude auf den Besuch aus Hamburg. Die engherzige, berechnende und habgierige Schwester, die mit dem geklauten Rotkohl als Geschenk, den vergeblichen Versuch unternahm, sich bei ihrer Schwiegertochter Verona beliebt zu machen. Sie erkannte nicht, dass diese und sie selbst, im höchsten Maße narzisstisch waren, kaltherzig und ichbezogen, sensibel nur dann, wenn es um das eigene Ego ging. Die Ähnlichkeit der Charaktere, der Wesensart, das konnte nicht klappen, nie und nimmer; zumal die Schwiegertochter ganz andere Ziele verfolgte als Ludwina. Hart wie ein Fels stand Verona zwischen ihr, dem einzigen Sohn und den beiden Enkelkindern. Da war nichts zu machen.

Ludwinas Verzweiflung darüber, dass sie sich im Laufe der Jahre immer weiter von ihrer Familie entfernte, lies bei ihr die fixe Idee keimen, sie müsse Verona nur irgendwie für sich gewinnen, um sich so der eigenen Familie wieder zu nähern. Doch sie hatte den Sohn und die beiden Enkelkinder längst verloren. Den Sohn bereits in der Jugend, als sie ihn ohne Zeitnot ins Internat weggab, obwohl sie als wohlhabende Ehefrau eines erfolgreichen Geschäftsmannes, überwiegend mit Däumchendrehen beschäftigt war. Die Enkelkinder entglitten ihr, als ihnen klar wurde, dass Omas Liebe nichts mit dem Herzen zu tun hatte, vielmehr damit, wieviel Geld man von ihr bekam.

„Woher weißt du, dass Tante Ludwina den Kohl geklaut hat?“, wollte Max wissen. Lisa hielt inne, legte den Löffel aus der Hand und drehte sich langsam um. „Na, Verona hat mich vorhin angerufen,´ne Stunde bevor du gekommen bist. Ganz ungläubig war sie, ungläubig und angenehm überrascht darüber, dass ihr Ludwina soviel leckeren Rotkohl geschenkt hat. Rotkohl, den sie, Ludwina, selbst gekocht habe, sagt sie.“ Lisas Augen funkelten zornig. „Die alte Ehrabschneiderin, die dumme Kuh, meine ach so vornehme Schwester!“ Wütend griff sich die Mutter den Kochlöffel, um den Grießteig für etwas zu bestrafen, dass er gar nicht getan hatte. Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach, war außer den Küchengeräuschen und dem leisen ticken der Wanduhr nichts zu hören.

Schließlich brach Lisa das Schweigen, legte den Löffel zur Seite und imitierte gekonnt Veronas sparsame doch vielsagende Mimik, die diese an den Tag legte, sobald sie mitteilsam wurde. „Ach Lisa, ob du´s glaubst oder nicht“, äffte sie die Schwiegertochter nach, „der Rotkohl hat genauso gut geschmeckt, als ob du ihn gemacht hättest!“ Für einen Augenblick sah es danach aus, als ob die Mutter gleich einen Herzinfarkt bekommen würde. „Du kannst doch Verona keine Schuld geben“, bremste sie Max. „Verantwortlich ist deine saubere Schwester, sonst niemand!“ Lisa war die Luft weggeblieben. Wie aus weiter Ferne drangen die Worte des Sohnes an ihr Ohr, rollten aus wie eine lange Welle und verebbten schließlich. Ihre Wut kippte um in Resignation. „Du hast ja recht, bei meiner Schwester, bei diesem verlogenen Miststück ist Hopfen und Malz verloren, so oder so; ich hätte Verona am Telefon gleich sagen sollen, dass der Rotkohl von mir ist! Habe ich aber nicht, schade!“

In diesem Augenblick dröhnte es dumpf, klapperten die Untertassen und die gläserne Deckenlampe zitterte kurz. Mutter und Sohn schauten einander an. Ärger, Fassungslosigkeit, Wut, kalte Verachtung und die tiefe Enttäuschung traten in den Hintergrund. Während Max noch rätselte was dieses Geräusch verursacht haben könnte, wusste Lisa sofort was los war. „Ludwina ist hingefallen. Es ist mal wieder soweit. Sie hat ihr Pensum erreicht. Ich muss hoch, schauen, ob etwas passiert ist.“

*

Es war die Teppichkante. Ludwina hatte sie übersehen, nur Augen gehabt für den Klosterfrau Melissengeist. Im Fallen riss sie die Arme hoch, schleuderte die Flasche quer durch die Küche und umklammerte mit beiden Händen das volle Wasserglas. Der harte Aufprall am Boden schlug ihr das Glas aus der Hand und ließ den kostbaren Inhalt überschwappen. Es flog im hohen Bogen durch die Luft, fand seinen Weg durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Zarge ins Bad, und zerbrach mit einem lauten Knall auf dem Terrakottaboden. Doch davon bekam Ludwina nichts mehr mit. Sie wurde bewusstlos.

Zeit hatte für Ludwina ihre Bedeutung verloren. Ihr war ganz leicht zumute, leicht und luftig, so als sei sie ein Schleier. Der Gedanke ein Schleier zu sein hätte sie beunruhigen müssen, tat es aber nicht. Im Gegenteil. Sie fühlte sich sicher und geborgen. Ganz besonders, wenn sie sich vorstellte, als grellgelber Stofffetzen vom Wind erfasst und davon getragen zu werden. Ein schöner Gedanke. Das Einzige was sie störte, war der Umstand, dass irgendwer ihren Namen rief. „Ludwina, Ludwina, alles in Ordnung?!?“ Sie blieb still liegen, rührte sich nicht und hielt den Atem an, in der Hoffnung, dass der Wind die Stimme davontragen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen wurde sie weiter genervt. „Hör auf die Tote zu mimen. Ich hab gesehen wie du mit der Hand gezuckt hast!“

Tiefgekühlt peilte Lisa hinunter auf ihre Schwester. Wie ein Wurm am Haken lag diese zusammengekrümmt auf dem Holzfußboden. Ein Häufchen Elend. Sie erschrak über die eigene Gefühlskälte, die sie bei ihrem Anblick empfand; ganz kurz nur, dann wurde Lisa schwesterlich zumute. „Du dumme Kuh, hör auf zu Saufen und zu Schauspielern. Reiß dich zusammen. Schäm dich, du scheinheiliges Luder. Steh auf, mach dich fertig und komm runter. Du weißt doch, dass mein Sohn zu Besuch ist. Es gibt Essen, Kartoffelklöße, Sauerbraten und Rotkohl!“ Ludwina wurde schlagartig nüchtern. „Wieso denn Rotkohl, das geht doch gar nicht, den habe ich Verona geschenkt.“ Jetzt war es raus! Ein Geständnis ohne Wenn und Aber. Noch bevor Lisa etwas sagen konnte, flossen bei Ludwina die Tränen. „Verrat mich bitte nicht bei den Anderen“, schluchzte sie im Gedanken an den Rest der Großfamilie. „Ich mach’s auch wieder gut.“ Lisa musterte ihre Schwester wie der Sammler das Insekt unter der Nadel. „Du und deine Wiedergutmachungen, vergiss es, da pfeif ich drauf.“ Ihr kurzes Lachen klang bitter. - „Morgen hast du ohnehin alles vergessen. Lass deine leeren Versprechungen und komm endlich!“ Mit hartem Griff langte sie nach den Armen der Schwester, zog sie auf die Beine und nahm sie mit nach unten.

*

Wenig später saßen alle um den Tisch, genossen Grießklöße mit Birnenschnitze und erzählten von den Ereignissen der Monate, in denen man sich nicht gesehen hatte. Den Rotkohl erwähnte an diesem Abend niemand mehr.

 

Moin, Moin,

Wolf-Michael,

zunächst Dank für Deine konstruktive Kritik, auch für das Korrektur lesen. Interpunktion und Rechtschreibung waren noch nie meine Stärke. Die Flüchtigkeit, die Flüchtigkeit,...Vielleicht sollte ich beim nächsten Beitrag konzentrierter Lesen, bevor ich ins Netz stelle.

An und für sich ist die beschriebene Familie trotz des Rotkohldiebstahl, gelegentlicher Gefühlskälte, Neid, Habgier, Missgunst und Scheinheiligkeit, eine eher durchschnittliche Familie. Oder sollte ich sagen, gerade deswegen! – Ich Liebe die Menschen ihrer Schwächen wegen, nicht wegen ihrer Stärken. – Doch ich sehe schon, werde die Charaktere künftig klarer zeichnen; danke.

Auch ich mag positive Charaktere lieber!

Nachdem ich einige Deiner Shortstorys gelesen habe (werde ich kommentieren, sobald Zeit) wundert´s mich, dass der Widerspruch zw. Luxuswohnung u. schimmeligem Geruch so unwahrscheinlich sein soll. Unsere Welt lebt doch vom, durch und mit dem Widerspruch.

Bzgl. der Wiederholung markanter Wörter hast Du natürlich Recht.

Streng genommen wäre >par excellence< an besagter Stelle durchaus einsetzbar, besser finde ich jedoch die jetzt gewählte Formulierung. Danke für den Hinweis; auch bzgl. der Sternchen.

Ein gutes, gesundes Jahr

Gruß

Peter Schmidt

 

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