- Beitritt
- 30.06.2004
- Beiträge
- 1.432
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Der Ruf der Adlerboten
Für Tommy
Mit einem verzweifelten Sprung setzte das Pferd über den Fluss, rutschte auf dem nassen Uferschlamm aus und wäre beinahe gestürzt. Im letzten Moment riss Kyall an den Zügeln und warf es herum. Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang aus der Brust des Tieres, als es sich die Böschung hinauf quälte. Kyall beugte sich eng über den Hals der Stute, das Gesicht beinahe in der zottigen Mähne vergraben. Schaum stand vor dem Maul des Pferdes, segelte in großen Flocken zu Boden, als es den oberen Rand der Böschung erreichte und weiter lief.
Ich werde dieses Pferd umbringen, ging es Kyall durch den Kopf. Und wo bei allen Göttern soll ich dann hier ein frisches Tier her bekommen? Er schob den Gedanken beiseite und stieß der Stute die Sporen in die Flanken. Sie stöhnte nochmals auf und gab ihr Bestes.
Auf dieser Seite des Flusses war das Land sanft gewellt und sumpfig, teils bewachsen mit dichtem Heidekraut, teils auch völlig kahl. Die Sonne stand hoch über ihnen und die Hitze ließ einen fauligen Geruch aus den Sumpflöchern aufsteigen. Immer wieder sank die Stute bis über die Fesseln in den weichen Schlick ein und kämpfte sich mühsam wieder frei. Der Schaum um ihr Maul war nun blutig.Er konnte nur hoffen, dass es seinen Verfolgern nicht besser erging. Kyall tätschelte aufmunternd den Hals des Pferdes.
Nach etwa einer halben Stunde ließ Kyall das Tier endlich inne halten, richtete sich in den Steigbügeln auf und warf einen Blick über seine Schulter zurück. Wildes Heideland, der Fluss, dahinter das wirre Dickicht aus Stechginster und Brombeeren, das er zuvor durchquert hatte. Keine Verfolger zu sehen.
Er entspannte sich etwas. Habe ich sie abgeschüttelt? Seit der Landstraße hatte er nichts mehr von ihnen gesehen. Er atmete einige Male tief durch, schloss für einen Moment die Augen, doch dann ließ er sich wieder in seinen Sattel sinken und trieb die Stute abermals an. Besser sicher gehen, als zu sterben. Oder die Botschaft zu verlieren.
An diesem Abend schlug er sein Lager auf dem Dach eines halbverfallenen alten Schuppens auf, der einzigen halbwegs trockenen Stelle des Sumpflandes. Die Stute wanderte unten durch das schlammige Gelände und rupfte missmutig an dem Heidekraut. Kyall beobachtete sie besorgt. Bei diesem Futter würde sie nicht genug Kraft sammeln. Morgen musste er langsamer machen. Oder, noch besser, ein Bauernhaus finden, wo er sie gegen ein anderes Tier eintauschen konnte.
Noch bevor er sich etwas zu essen aus den Satteltaschen nahm, tastete er nach der Botschaft in seinem Mantelsaum. Beruhigt nahm er das Knistern des Papiers zwischen den Stoffschichten wahr. Natürlich hätte ihm niemand den Brief stehlen können, solange Kyall lebte, aber sich jeden Abend seiner Anwesenheit zu versichern, erfüllte ihn immer wieder mit Zuversicht.
Das Brot war hart geworden, und es war auch nur noch ein kleiner Kanten davon übrig, sowie eine Ecke Käse. Ich muss wirklich ein Bauernhaus finden, sonst falle ich bald selber vor Hunger um, dachte Kyall, während er sein mageres Abendmahl verzehrte. Er hätte noch besser rationieren sollen, aber woher hatte er wissen sollen, dass sie schon auf ihn lauern würden? Und dass er die Graue Heide durchqueren musste , war auch nicht geplant gewesen.
Bei dem Gedanken fröstelte er etwas. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sich vor den Geschichten gefürchtet, die man sich über die Graue Heide erzählte. Sie erstreckte sich kilometerweit zwischen der Mycholler Landstraße und der Südküste. Eine öde Landschaft aus flachen Seen, Sumpflöchern, Steinen, Heidekraut und ab und zu Streifen aus niedrigem Gestrüpp.
Geister von Ertrunkenen sollten darin ihr Unwesen treiben, Irrlichter, bösartige Fey, Hexen und Zauberer. Am schlimmsten von allen sollten es die Janrai treiben, die Seelen ertränkter Säuglinge. Sie traten als weiße, leicht aufgedunsene aber mit kindlicher Schönheit gesegnete Gestalten auf, die einsame Heidewanderer in ihre Verstecke lockten, um sie dann zu zerfleischen. Und dann war da natürlich noch Jenny Grünzahn, die Kinder in Teiche zerrte, und die Kelpie, Gestaltwandler, die Pferdeform annahmen, um eventuelle Reiter dann in Sumpflöcher zu tragen.
Mit einem Schaudern sah sich Kyall in der immer dunkler werdenden Heide um. Das Land lag friedlich unter ihm. Der Duft von Heidekraut und Torf lag schwer über seinem Lager und in einiger Entfernung vernahm er das Abendlied eines Frosches.
Wenn man es genau betrachtet, ist die Graue Heide nicht halb so schlimm, wie alle immer sagen. Er rollte sich unter seiner Decke zusammen. Wahrscheinlich muss man nur aufpassen, dass man nicht unversehens in ein Moorloch stolpert.
Endlich fielen ihm die Augen zu.
Ein entferntes Heulen riss ihn aus dem Schlaf. Im ersten Moment konnte er sich nicht erinnern, wo er sich befand, doch dann drang der wilde Geruch nach warmem Heidekraut und Schlick in seine Nase. Kyall fuhr hoch und sah sich um.
Die Heide lag noch immer in Dunkelheit, nur ein zarter rosiger Streifen zeichnete sich am östlichen Horizont ab. Doch aus dem Westen, aus Richtung des Flusses, erklang nun erneut das Heulen. Sie sind wieder da. Sie haben Hunde.
Rasch griff er nach seinem Bündel und ließ sich vom Schuppendach gleiten. Die Stute schrie gequält auf, als Kyall sich erneut auf ihren Rücken zog. „Mach schon, Mädchen, sonst haben sie uns bald beide!“, flüsterte er ihr ins Ohr. Müde trottete das Pferd los.
Es war stockfinster über der Heide. Kyall lenkte das Pferd so gut es ging Richtung Osten, auf den hellen Streifen zu, doch immer wieder stolperte die Stute, oder trat in Schlammlöcher, die Kyall in der Dunkelheit übersehen hatte. Er kam nicht besonders gut voran. Hinter ihm schwoll das Heulen stetig an und ab, unheimlich in der Dunkelheit.
Er würde es nicht schaffen. Kyall war erschöpft und müde, aber der Gedanke, dass seine Botschaft in die falschen Hände geraten könnte, zog ihm dennoch den Magen zusammen. Er hatte dem König Treue geschworen, er gehörte zu den Adlerboten. Adlerboten erreichten stets ihr Ziel, wie schwierig es auch sein mochte. Sie versagten nie.
Die Stute quälte sich nur noch voran. Wieder und wieder versank sie fast bis zu ihren Knien im Schlick. Schließlich stieg er ab und führte das Pferd weiter. Er hätte es zurücklassen können, doch das widerstrebte ihm. Es war der kostbarste Besitz eines Adlerboten. Es ging quälend langsam voran. Kyall war beinahe genauso erschöpft wie sein Reittier. Seine Beine erschienen ihm zentrnerschwer.
Das Heulen nahm einen neuen Tonfall an. Es ging in ein lautes Jagdkläffen über. Sie hatten die Spur aufgenommen. Kyall zog sich wieder in den Sattel und versuchte ein letztes Mal, die Stute anzutreiben. Tief bohrte er die Sporen in ihre Flanken. Das Tier schrie, bäumte sich auf und tat einen panischen Satz vorwärts. Der Grund gab unter seinen Hufen nach, sobald es sie aufsetzte. Mit einem hässlichen Glucksen sank die Stute sofort bis zur Brust in den dünnen schwarzen Schlamm. Kyall verlor den Halt und wurde über den Kopf des Pferdes hinweg in die Heide geschleudert.
Der Aufprall war hart, doch er rollte sich sofort ab und kam wieder auf die Beine. Er fuhr herum, um nach den Zügeln seiner Stute zu greifen, doch vergebens. Das Tier war bereits bis zum Kopf im Sumpfloch verschwunden. Seine braunen Augen starrten Kyall flehend an, während schwarzes Wasser in seine Nüstern schwappte. Kurz darauf war nur noch die glatte Wasseroberfläche zu sehen. Die Sonne kletterte langsam über den Horizont, aus einiger Entfernung drang das Heulen der Hunde durch die Heide.
Kyall ließ sich zu Boden fallen. Es war vorbei. Ohne Pferd würden sie ihn auf jeden Fall kriegen. Er wusste nicht, wer sie waren, oder was sie vom König wollten, aber eines war sicher: die Ehre der Adlerboten würde auf ewig beschmutzt sein. Scham stieg in ihm auf.
Aus dem Tümpel gluckste es. Kyall achtete nicht darauf. Ein tiefes Gurgeln folgte, dann eine Schnauben. Er sah zu dem Wasser hinüber und fuhr zusammen. Im ersten Moment glaubte er, sein Pferd wäre wieder aufgetaucht, doch dann erkannte er, dass der Schädel, der an der Wasseroberfläche schwamm, etwas anders aussah. Die Augen waren größer als die seiner Stute, und sprangen ein wenig vor, die Nase war zu langgezogen, die Ohren zu flach an den Kopf gelegt. Das kurze weiße Fell hatte einen blassgrünen Schimmer, die verfilzte Mähne war moosgrün.
Kyalls Herz raste. Der Kelpie. Er zog die Beine an den Körper und versuchte, sich möglichst klein zu machen. Vielleicht übersah ihn das Monster ja.
Der Pferdekopf wandte sich träge hierhin und dorthin, bis seine verschleierten grünen Augen auf Kyall hängen blieben. Der Bote schloss die Augen. Gleich würde der Kelpie aus dem Teich kommen. Zwar hatte er noch nie gehört, dass Kelpie Menschen töteten, aber die Fey waren immer unberechenbar. Er hörte ein Platschen und Glucksen, dann schwere Huftritte auf dem weichen Untergrund. Ein fauliger Geruch umwehte ihn.
„Warum sitzt du hier, Mensch?“ Die Stimme war tief und samten, Neugier klang heraus. Verwundert öffnete Kyall die Augen. Der Kelpie war aus dem Sumpfloch gestiegen und stand nun direkt vor ihm. Er war etwas größer als ein gewöhnliches Pferd, mit sehr langen Beinen. Der Körper war breit und muskulös. Ausdauernd, dachte der Bote automatisch. Er konnte kein Pferd ansehen, ohne dessen Qualität abzuschätzen.
„Ich habe dich etwas gefragt.“ Die samtene Stimme klang weder drängend noch ungeduldig. Der Kelpie hatte nicht einmal sein Maul bewegt. Kyall zweifelte, ob er die Stimme vielleicht nur in seinem Kopf gehört hatte. „Normalerweise ruhen Menschen nicht bei uns in der Heide, sie versuchen immer, so schnell wie möglich davon zu kommen.“
„Ich ... ich bin auf der Flucht. Das heißt, ich muss eine Botschaft überbringen, an den Fürsten Caldwyn, und es sind Männer hinter mir her, die mir die Nachricht abjagen möchten.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte heulten die Hunde wieder. Es klang jetzt sehr nahe. Kyall vermeinte, bereits Hufschlag hören zu können.
„Und warum rennst du dann nicht, Mensch?“ Der Kelpie sprach in aller Seelenruhe, als habe er die Hunde gar nicht bemerkt.
„Mein Pferd ist ... es ist versunken. In deinem Teich.“ Es klang etwas anklagend. Kyall wunderte sich über sich selber. Da schwebte er in Lebensgefahr, seine Verfolger waren fast bei ihm, und er unterhielt sich ganz ruhig mit einem Fey. Wahrscheinlich war er bereits am Rande des Wahnsinns.
„Ah ja, die braune Stute.“ Der Kelpie nickte wissend, ein zufriedenes Glitzern in seinen Augen. „Die war gut, noch jung.“ Angewidert starrte der Bote den Fey an. Dann seufzte er.
„Jedenfalls bin ich ohne Pferd sowieso verloren. Also kann ich auch hier warten, bis sie mich kriegen“, erklärte er.
Der Kelpie wiegte wieder den Kopf. Eine Weile lang schwiegen beide. In einiger Entfernung waren Rufe zu hören. Noch eine halbe Stunde, dann sind sie da.
„Dieser Fürst, wo lebt der?“
Verwundert sah Kyall den Kelpie an. Versuchte der etwa, Konversation zu machen? „Wie bitte?“
„Der Fürst, von dem du gesprochen hast. Sein Name klingt nach Meer. Lebt er an der Küste?“
Der Bote nickte langsam. „Ja, er hat seinen Sitz in Tochdanon, das ist eine Hafenstadt. Warum?“
Das Glitzern trat wieder in die Augen des Kelpie. Er kam einen Schritt näher zu Kyall. Der Geruch nach brackigem Wasser wurde überwältigend. „Wie wichtig ist dir deine Botschaft?“
„Wichtiger als mein Leben!“ Die Antwort kam schnell und ohne zu zögern. So hatten sie es in der Ausbildung gelernt. Erst die Botschaft, dann das eigene Wohl, dann das Wohl seines Reittieres. Das war der Ruf der Adlerboten.
Der Kelpie lächelte jetzt. Kyall konnte nicht sagen, woran er das erkannte, er wusste es einfach. „Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Ich trage dich, und du bringst mich ans Meer. Dort kannst du deine Botschaft abliefern, dann werde ich dich töten.“ Wieder sprach er ganz ruhig, als sei das, was er sagte, völlig belanglos.
Kyall zuckte zusammen. „Aber ... warum?“
„Ich entstamme dem Meer. Ich möchte dahin zurück, aber ich kann nicht, wenn ich nicht einen Reiter trage. Doch jeder, den ich auf meinem Rücken zum Meer trage, ist des Todes. Ich trage ihn in die Fluten, ziehe ihn unter Wasser und zerfleische ihn. Das ist meine Natur.“
„Ich dachte, du bist ein Kelpie. Kelpie tragen ihre Reiter nur in Sumpflöcher und tauchen sie unter, sagte meine Amme.“
Der Fey schnaubte. „Kelpie? Dafür hältst du mich also? Ich bin kein Kelpie. Sie sind zwar mit uns verwandt, aber sie haben ihren Ursprung und ihre Wildheit vergessen. Nein, ich bin ein Augisky. Ich bin ein wahres Wesen des Wassers.“
Kyall starrte den Fey an. Ein Augisky. Ein Wesen des Meeres. Er fragte sich flüchtig, was einen Augisky so weit ins Landesinnere brachte, aber eigentlich brauchte das nicht seine Sorge sein.
„Du solltest dich entscheiden, sie sind fast da“, sagte der Augisky leise.
Es gab nicht viel zu überlegen. Erst die Botschaft, dann dein Leben. Einen Augisky konnte kein Pferd einholen. „In Ordnung, ich nehme den Handel an.“
Der Fey lächelte wieder und drehte sich so, dass seine Flanke Kyall zugewandt war. „Dann steig auf.“
Mühsam zog Kyall sich auf den hohen Rücken. Das Fell des Augisky war rutschig vor Wasser und bot wenig Halt. Der faulige Geruch war hier oben beinahe unerträglich.
„Halt dich gut fest!“ Kyall fand gerade noch Zeit, seine Hände in die zottige Mähne zu krallen, bevor der Augisky seinen ersten Satz tat. Die Muskeln spannten sich unter dem weißen Fell, als wollten sie zerreißen, mit einem einzigen Sprung setzte der Augisky über seinen Teich und das angrenzende Dornengestrüpp hinweg, als wären sie nicht vorhanden. Dann begann er zu rennen.
Die Geschwindigkeit verschlug dem Boten den Atem, eng drückte er sich an den Hals, barg sein Gesicht in der nassen Mähne, presste seine Schenkel um den glitschigen Körper, um nicht den Halt zu verlieren. Den Augisky zu reiten war völlig anders, als auf einem Pferd zu sitzen. Er konnte ihn nicht lenken, nicht bremsen, nicht antreiben. Der Lauf selber war unregelmäßig und immer wieder machte der Augisky einen unvermittelten Satz nach vorne. Kyall konnte nicht sehen, wohin sie liefen. Er war vollauf damit beschäftigt, sich festzuhalten.
Er merkte nicht, wie die Zeit verging. Bald nahm er nur noch seinen eigenen Herzschlag und die tiefen Atemzüge des Augiskys wahr. Eingehüllt in den Geruch von Salzwasser und Fisch wurde er dahingetragen. Irgendwann jedoch spürte Kyall, dass sich etwas verändert hatte. Er hob den Kopf aus der Mähne und sah sich um. Jetzt erst bemerkte er, dass der Augisky stehen geblieben war.
„Was gibt es? Warum läufst du nicht weiter?“ Kyall brachte die Frage kaum hervor, sein Mund war völlig ausgetrocknet. Als er vorsichtig seine Hände aus der Mähne löste, spürte er erst, wie steif und kalt sie waren. Seine Arme und Beine schmerzten höllisch, schlimmer noch als in seinen Anfangszeiten bei den Adlerboten, als er das lange Reiten noch nicht gewohnt gewesen war.
„Du bist müde und hungrig“, erwiderte der Augisky mit seiner sanften Stimme. „Dort vorne liegt ein Dorf, dort werde ich dich hin bringen. Du kannst dich getrost ausruhen. Deine Verfolger sind weit hinter uns. Etwa drei Tage mit ihren Pferden, denke ich.“
„Was kümmert es dich, wie es mir geht, du willst mich doch sowieso zerfleischen?“
„Ich möchte, dass du bis zum Meer auf meinem Rücken bleibst. Und von einem ausgeruhten, gesättigten Reiter habe ich auch viel mehr.“ Der Augisky kicherte. Ein eisiger Schauer kroch über Kyalls Rücken.
„Gut, dann bring mich eben in das Dorf!“
Der Augisky setzte sich wieder in Bewegung, langsamer jetzt, wie ein trottendes Pferd. Kyall konnte aufrecht sitzen bleiben und die Landschaft an sich vorbei ziehen sehen. Sie befanden sich immer noch in der Heide, jedoch in einem anderen Gebiet, trockener und einladender. Krümeliger schwarzer Erdboden, Wildblumen und niedrige Kiefern umgaben sie. Hinter ihnen versank langsam die Sonne. Sie mussten sich bereits wieder in den Randgebieten befinden, wenn es hier sogar Siedlungen gab. Wollflocken von streunenden Schafen hingen zwischen den Zweigen der Kiefern, und hier und da erspähte der Bote eine magere Ziege.
Das Dorf kam in Sicht, eine kleine Ansammlung niedriger, torfgedeckter Häuser. Kinder liefen zwischen ihnen umher und bewarfen sich mit Dreck. Einige Hunde tollten mit ihnen herum und schnappten nach ihren Füßen. Noch nie war Kyall über ein armseliges Bauerndorf so froh gewesen. Als der Fey näher trottete, bemerkte der Bote sogar einige magere Pferde in einer Koppel hinter einem größeren Haus. Eine Idee durchzuckte ihn. Er lächelte.
Beim weichen Hufschlag des Fey sahen die meisten Kinder auf. Das Geschrei verstummte und staunende Blicke folgten Kyall. Hinter ihm rannten Kinder in ihre Häuser und kehrten bald darauf mit Eltern und Großeltern zurück. Als der Augisky auf dem winzigen Dorfplatz anhielt, folgte ihm bereits eine ansehnliche Menschenmenge in ehrfürchtiger Stille.
„Runter mit dir, mir gefällt es gar nicht, wie diese Leute mich angaffen.“ Jetzt war sich Kyall endgültig sicher, dass nur er den Augisky hören konnte. Die Dörfler reagierten überhaupt nicht auf seine Worte, sie zuckten nicht mal zusammen. Er ließ sich vom Rücken des Fey gleiten. Respektvoll wichen die Dorfbewohner zurück, um ihm Platz zu machen. Beinahe hätten Kyalls Beine unter ihm nachgegeben. Seine Muskeln taten höllisch weh.
„In drei Tagen, bei Sonnenaufgang, komme ich dich abholen.“ Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, bäumte sich der Augisky auf, so dass die Dörfler einen weiteren Schritt zurück sprangen. Dann setzte er kraftvoll über die Menge hinweg und galoppierte zum Ausgang des Dorfes.
Sobald er außer Sichtweite war, brach das Chaos über Kyall herein. Plötzlich redeten alle Dorfbewohner gleichzeitig los, drängten sich an ihn, stellten Fragen, berührten seine Kleidung.
„Ein Kelpie! Habt ihr gesehen?“
„Er reitet auf einem Fey, er muss ein Magier sein.“
„Oder mit dem Teufel im Bunde, seht euch nur vor.“
Unbeholfen befreite sich Kyall von den vielen Händen. Ihm war schwindelig und sein ganzer Körper schmerzte. Er hatte keine Zeit, den Leuten zu erklären, wie er zu dem Augisky gekommen war.
„Bitte, ich brauche ein Bett ... und etwas zu essen ...“ Er wollte noch etwas hinzufügen, aber das Schwindelgefühl in seinem Kopf wurde jetzt übermächtig. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, dann spürte er, wie ihm die Knie weich wurden und die Beine unter dem Körper wegknickten.
Dunkle Geborgenheit umgab ihn, als er wieder erwachte. Er lag auf einer weichen Unterlage, eine Wolldecke hüllte ihn bis zur Kinnspitze ein. Kalter Torffeuerrauch stieg ihm in die Nase, vermischt mit dem Geruch nach Fleischbrühe. Kyall wagte zunächst nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst, dass das alles nur ein Traum war, und er sich in Wirklichkeit immer noch draußen im Moor befand, die Verfolger auf seinen Fersen.
„Bist du wach?“ Eine sanfte, warme Stimme, ganz nahe bei ihm. Vorsichtig hob Kyall die Lider. Im Dämmerlicht erkannte er eine junge Frau. Sie war beinahe noch ein Mädchen, kaum älter als sechzehn Sommer. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden und sie trug die biedere Kleidung einfacher Bauern. Doch ihr rundes Gesicht war freundlich, ihr Blick neugierig und klug.
„Wie fühlst du dich?“ Sie trat noch einen Schritt näher an Kyalls Lager. Er konnte einige Sommersprossen in ihrem braunen Gesicht ausmachen.
„Ich bin hungrig“, antwortete er wahrheitsgemäß. Er fühlte sich, als habe er seit Jahren nichts mehr zu sich genommen.
Das Mädchen nickte, entfernte sich aus seinem Blickfeld und kehrte kurz darauf mit einer Holzschüssel und einem Löffel zurück. „Kannst du selber essen?“
Kyall stemmte sich auf seinem Lager hoch und nickte. Sofort überkam ihn wieder das Schwindelgefühl, doch er versuchte, es zurückzudrängen. Er würde sich nicht von einem Mädchen füttern lassen. Sie lächelte, als wüsste sie genau, was er dachte, und drückte ihm Schüssel samt Löffel in die Hand. Vorsichtig begann Kyall zu essen.
Die Fleischbrühe tat gut, sie wärmte ihn von innen und brachte das Leben in seinen Körper zurück. Hungrig leerte Kyall die Schale und ließ sich von dem Mädchen nachschöpfen. Geduldig saß sie bei seinem Lager und wartete, bis er zum zweiten Mal aufgegessen hatte. Dann stellte sie die Schüssel beiseite und fuhr fort, ihn unverwandt anzusehen.
„Was ist los, was guckst du so?“ Er hatte es nicht unfreundlich gemeint, aber seine Stimme klang harsch. Er war es nicht gewohnt, viel mit Menschen zu sprechen. Das Mädchen zuckte zusammen und senkte hastig den Blick.
„Ich ... ist es wahr, dass du auf einem Kelpie geritten bist? Ich war bei den Schafen und habe es nicht gesehen.“ Die Bewunderung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Kyall seufzte. Wahrscheinlich hielten die Dorfbewohner ihn jetzt für irgend so eine Art Helden. Möglicherweise auch für besessen. Wenn er Pech hatte, hatten sie schon nach einem Priester geschickt, um einen Exorzismus durchzuführen. Vielleicht sollte er alles leugnen.
Doch die Neugier und Bewunderung in den Augen des Mädchens taten ihm gut. Er lächelte sie aufmunternd an, um sich für seinen schroffen Tonfall zuvor zu entschuldigen. „Es war kein Kelpie, es war ein Augisky. Wir ... hatten einen Handel miteinander.“
Die Augen des Mädchens wurden groß. „Ein Augisky? Aber ... er hätte dich getötet, oder nicht? Er wird dich noch töten!“
„Dieser nicht“, log Kyall. „Er brachte mich zum Dorf und ging dann seiner Wege, du hast es ja gesehen. Sag mal, habt ihr hier vielleicht ein Pferd, das ihr mir für gutes Gold verkaufen könnt? Ich habe eine wichtige Botschaft zu überbringen.“
Das Mädchen sah ihn immer noch an wie einen Geist. Sie nickte langsam. „Conwaugh hat ein paar Pferde, ich bin sicher, er wird dir eins verkaufen.“ Plötzlich wurde ihr Tonfall wieder bestimmter. „Aber du musst noch ruhen. Du bist noch lange nicht wieder bei Kräften!“
Kyall wollte protestieren, doch sie drückte ihn einfach mit einem Arm auf das Lager zurück. Er hatte nicht genügend Kraft, sich zu wehren, deswegen ließ er es zu, dass sie ihm die Decke wieder um die Schultern stopfte. Einige Haarsträhnen lösten sich dabei aus ihrem Zopf, fielen ihm ins Gesicht und kitzelten seine Nase. Sie rochen nach Herdfeuer und trockenem Gras.
„Wie heißt du?“, murmelte er, während seine Augen schon wieder zufielen.
„Brenna.“ Der Name drang nur noch wie durch Watte gedämpft an seine Ohren.
Zwei ganze Tage lang blieb Kyall auf dem Lager in Brennas Häuschen. Das Mädchen wich während der ganzen Zeit kaum von seiner Seite. Kyall fragte sich, ob sie sich in ihn verguckt hatte, oder ob die Faszination allein auf der Tatsache beruhte, dass er einen Augisky geritten hatte. Eigentlich war ihm das aber herzlich egal. Er genoss die Gesellschaft. Brenna war still, unaufdringlich und höflich, dabei aber ziemlich schlau. Es machte Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Und sie hielt die anderen Dorfbewohner so gut es ging von Kyall fern.
„Er braucht noch Ruhe“, behauptete sie dreist jedem gegenüber, der den fremden Reiter sehen wollte. Sie selber lebte alleine, ihr Mann war kurz nach ihrer Hochzeit vor einem Jahr im Moor verschollen. Kyall war ihr dankbar, dass sie die anderen fortschickte, er hatte keine Lust, sich neugierigen Fragen zu stellen. So lange er nicht darüber redete, gelang es ihm beinahe, den Handel zu vergessen, den er mit dem Augisky geschlossen hatte. Auch Brenna erzählte er nicht die volle Wahrheit. Er sagte ihr zwar, dass er verfolgt wurde, aber er blieb dabei, dass der Fey fortgegangen war, er wollte sie nicht verängstigen.
„Was ist das für eine Botschaft?“, fragte Brenna ihn am Abend des zweiten Tages, als sie bei einem einfachen Abendessen saßen.
Kyall zuckte mit den Schultern. „Sie ist vom König an den Fürsten Caldwyn, mehr muss ich nicht wissen, ich bin schließlich nur der Bote.“
„Du weißt gar nicht, was drin steht? Woher weißt du dann, dass sie wichtig ist?“ Brenna sah ihn verständnislos an.
„Natürlich ist sie wichtig“, entgegnete Kyall ärgerlich. „Der König hat es gesagt. Und da sind diese Männer, die hinter mir her sind. Die würden mich sicher nicht verfolgen, wenn es sich um eine Geburtstagseinladung handelte, oder?“
Brenna schüttelte nur den Kopf. „Ich versteh nicht, warum du ihnen den Brief nicht einfach gegeben hast.“
„Bist du verrückt? Die Ehre der Adlerboten wäre dahin, wenn ich die Botschaft einfach dem Nächstbesten gebe.“
Jetzt zuckte sie mit den Schultern. „Aber du wärst noch am Leben. Ein lebender Bote ist doch sicher nützlicher für den König als ein toter, oder? Besonders, weil die Botschaft auf jeden Fall verloren wäre. Und du hättest versuchen können, den Brief zurück zu bekommen.“
Darauf fiel Kyall nichts mehr ein. Er runzelte die Stirn. „Du verstehst das nicht.“
Brenna lächelte. „Du hast recht, ich verstehe nicht, warum einer sein Leben für ein Stück Papier aufs Spiel setzt. Ich glaube, das will ich auch gar nicht verstehen.“
Am nächsten Morgen brach Kyall in aller Frühe auf. Er wollte sich einen möglichst großen Vorsprung vor seinen Verfolgern sichern. Außerdem hatte er Angst, dass der Augisky merken könnte, dass er sich aus dem Staub machte.
Brenna hatte in seinem Auftrag ein Pferd gekauft, es war mager und schon ziemlich alt, aber sie hatte ihm versichert, dass er im Laufe des nächsten Tages in eine größere Siedlung kommen würde, wo er ein besseres Reittier bekommen konnte. Sie stand in der Tür ihres kleinen Häuschens während der Bote das Pferd sattelte, eine Hand am Rahmen, als brauche sie Stütze. Die anderen Dörfler schliefen, noch nicht einmal die Sonne war über den Horizont geklettert. Es nieselte, ein trüber, kalter Tag kündigte sich an.
Kyall zog die Sattelgurte stramm und ging zu Brenna hinüber, um sich zu verabschieden und zu bedanken. Sie lächelte leicht.
„Kommst du wieder?“ Sie hatte den Kopf etwas schief gelegt und sah nachdenklich aus. Kyall betrachtete das Mädchen, ihr ernsthaftes rundes Gesicht, die Haarsträhnen, die sich schon wieder aus dem Zopf gelöst hatten. Ein warmes Gefühl erfüllte ihn. Er mochte sie, kein Zweifel.
Er nickte. „Ich werde auf dem Rückweg noch mal hier durch reiten, wenn es keine dringenden Botschaften gibt, ja? Und dann ...“ er zögerte. Was dann? Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil er es selber nicht wusste, aber Brenna nickte.
„Viel Glück!“ Sie umarmte ihn, drückte ihn fest. Der Holzfeuergeruch ihres Haares stieg in Kyalls Nase. Dann ließ sie ihn plötzlich los, wandte sich ab und verschwand in ihrem Häuschen. Der Bote atmete noch einmal tief durch, bevor er sich in den Sattel schwang.
Er kam gut voran, das Pferd war ausgeruht und anscheinend froh darüber, das Dorf mal verlassen zu dürfen. Beinahe übermütig trabte es dahin. Die Heidelandschaft wurde immer wohnlicher, aufgelockert durch Ginsterbüsche und junge Trauerweiden. Schlammlöcher kamen so gut wie gar nicht mehr vor. Kyall hielt sich stetig nach Osten.
Je weiter er sich von dem Dorf entfernte, desto leichter wurde sein Herz. Ich bin ihnen entkommen. Den Verfolgern, dem Augisky, dem Tod. Er merkte, dass er lächelte. Selbst das trübe Wetter konnte ihm nicht die Laune verderben. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Brenna. Habe ich mich verliebt? Geht das so schnell? Er wusste es nicht.
Gegen Abend schlug er sein Lager an den Wurzeln einer großen Weide auf. Den Rücken bequem gegen den Stamm gelehnt, verzehrte er das Abendessen, dass Brenna ihm eingepackt hatte. Der Regen ebbte allmählich ab. Das Leben ist gut, dachte er, bevor er sich in seine Decke wickelte.
Das Erste, was er sah, als er erwachte, waren die verschleierten Augen des Augisky. Erschrocken fuhr er zusammen, versuchte, sich wegzurollen, doch der Stamm der Weide war im Weg. Er schloss die Augen und öffnete sie nochmal, in der Hoffnung, dass das nur ein verrückter Alptraum war. Aber der Augisky blieb da, sein Pferdekopf dicht vor Kyalls Gesicht. Er lächelte. Von seinen Lefzen tropfte eine rote Flüssigkeit. Kyall wurde übel.
„Du hast dich nicht an unser Treffen gehalten“, stellte der Fey freundlich fest. „Aber wenigstens hast du daran gedacht, mir etwas zu Essen mitzubringen. Allerdings war es etwas zäh.“
Kyall warf einen Blick zu der Stelle, wo er das Pferd angebunden hatte. Eine blutige Masse, aus der hier und dort einige weiße Knochen ragten, mehr war nicht davon übrig geblieben. Sein Magen zog sich zusammen.
Der Augisky wurde ernster. „Du hast versucht, mich zu betrügen.“
„Ich ... ich dachte, du kannst nicht ohne Reiter in Richtung Meer reisen.“ Er wusste, dass das keine Entschuldigung war, aber etwas Besseres fiel ihm einfach nicht ein.
Der Augisky schnaubte. „Wir haben einen Handel. Der ist bindend. Ich muss dich zum Meer bringen. Wo du hingehst, gehe auch ich hin, so sind die Gesetze der Fey.“ Wieder schnaubte er. „Kläglich langsam bist du heute voran gekommen. Warum hast du versucht, mich zu betrügen?“
Kyall starrte ihn hilflos an. „Ich ... ich möchte nicht sterben.“
„Ah. Ich dachte, die Botschaft ist wichtiger als dein Leben?“
Der Bote antwortete nicht. Sein Herz raste. Verzweifelt versuchte er, einen Ausweg zu finden. Fliehen, ich muss fliehen.
Der Augisky wandte ihm seine Flanke zu. „Los, steig schon auf! Heute Abend können wir am Meer sein. Ich habe Sehnsucht.“
Wieder besseren Wissens versuchte Kyall, sich um den Baumstamm herum davon zu schleichen. Der Fey war schneller an seiner Seite, als er sehen konnte. „Versuche es nicht, ich konnte dein Pferd einholen, du mit deinen zwei kurzen Beinen hast erst recht keine Chance. Komm jetzt!“
Er wusste, dass es stimmte. Er konnte es nicht schaffen. Ein Handel mit einem Fey war bindend. Vor zwei Tagen war ihm das noch egal gewesen, aber jetzt?
Mit zitternden Fingern griff er in die feuchte Mähne und zog sich auf den Rücken des Augisky. Er schlang seine Arme um den Hals und spürte kalte Feuchtigkeit durch sein Hemd sickern. Während der Fey lossprang, musste Kyall an Brenna denken. Doch der Salzwassergestank der Mähne verdrängte die Erinnerung an warmes Torffeuer und Fleischbrühe.
„Es ist keine Lüge, was man über die Adlerboten erzählt, Ihr wart wirklich erstaunlich schnell. Hat man versucht, Euch die Botschaft abzujagen?“
Kyall nickte. Fürst Caldwyn lächelte über das ganze Gesicht. „Ihr habt Euch vortrefflich geschlagen. Ihr seid herzlich eingeladen, heute Abend an meiner Tafel zu speisen.“
Der Bote schüttelte den Kopf. „Es tut mir Leid, Euer Gnaden, aber ich werde bereits erwartet. Aber Ihr könnt mir vielleicht einen anderen Gefallen tun.“ Er zog ein gefaltetes Papier aus dem Mantel. „Könnt Ihr dafür sorgen, dass dies eine junge Schäferin erreicht? Ihr Name ist Brenna, sie wohnt ...“ er zögerte, rechnete „sie wohnt vielleicht drei Tagesreisen von hier am Rande der Grauen Heide. Ich bin sicher, irgendjemand wird sie kennen, wenn man nach ihr fragt.“
Der Fürst lächelte wissend. „Warum reist Ihr nicht selber dort vorbei, wenn die junge Dame Euch so wichtig ist?“
Kyall atmete tief durch. „Ich habe noch eine andere Pflicht zu erfüllen“, antwortete er leise.
Als er auf den Augisky zuschritt, der vor dem Palast wartete, hatte Kyall Tränen in den Augen.