Der Rummelplatz
Der Rummelplatz
Arm in Arm durchschritten wir das große Tor mit der funkelnden Leuchtschrift. Jede einzelne Glühbirne tat ihr bestes um mit ihrem fluoreszierendem Licht, welches im Sekundentakt von Gelb zu Rot wechselte, die Nacht von diesem Platz fernzuhalten. Dabei bekamen sie tatkräftige Unterstützung von Hunderten anderen Leuchtkörpern in allen Farben und Formen, die mit den Karussells drehten, die kandierten Mandeln glänzen ließen und für Romantiker das Riesenrad in die Flammen der Liebe tauchten.
Andere Paare, aber auch Eltern mit ihren Kindern und trostsuchende Singles umringten uns. Der süßliche Duft von Popcorn und Zuckerwatte gab ein einzigartiges Aroma und würde mich wohl auch noch in Zukunft immer wieder an diesen Tag erinnern. Menschen brüllten in Mikrophone um andere dazu zubringen, Lose zu kaufen mit denen sie überdimensionale Teddys gewinnen konnten. Immer wenn ich so kleines Mädchen mit einem dieser riesigen Staubfängern sah musste ich grinsen. Ich fand es bescheuert.
Doch heute fand ich es süß. Alles war heute süß, wunderschön und perfekt. Ja, es lag an ihr neben mir. Sie hatte sich ganz fest an mich geschmiegt und ich konnte ihr Haare an meiner Wange spüren und riechen, wunderbar. Meine Hand an ihrer Hüfte freute sich ihres Lebens. Ich natürlich ebenso. Mit ihr hatte ich wirklich das ganz große Lose gezogen. Da wären tausend Teddys bei weiten nicht genug um dieses Glück aufzuwiegen.
„Oh, wirfst du mir so ein Häschen? Bütteeeee!“ Wir standen neben eine dieser Buden bei der man mit einem Ball auf Dosen warf. Seit Jahren hatte ich das nicht mehr gemacht. Aber ihren hinreißenden Augen und ihrer bezaubernden Stimme widerstehen? Unmöglich!
„Na gut! Mal sehen, ob mir der Sportunterricht irgendetwas gebracht hat .“ Witze über Schule waren in meinem Alter vielleicht nicht mehr ganz so komisch, aber egal! Sie lachte. Ein Lachen, so umwerfend und überwältigend, dass es wohl Berge zu versetzen vermochte. Wie hatte ich bislang nur ohne dieses Lachen leben können? Es erschien mir unglaublich. Glücklicher könnte ich nie mehr sein. Die Frage, ob dieses Glück jemals mit einem anderen Menschen noch ein Mal möglich wäre, erübrigte sich. Wir würden für immer zusammen sein. Ich liebte sie zu sehr, als dass ich mich je von ihr trennen könnte.
Drei Bälle lagen nun vor mir im Austausch für einen Euro. Ich nahm einen und spürte ihre Hand auf meiner linken Schulter. Mit Schwung warf ich.
Der Ball prallte an einer Dose in der Mitte ab und verkroch sich dann in einer Ecke der Bude. Die Dose war nur ein wenig verschoben. Man hielt so etwas im Normalfall für unmöglich und vertraut darauf, dass mit jedem Wurf mindestens eine Blechdose fiel. Nichts da! Der Besitzer grinste zufrieden.
Ich nahm eine weitere Filzkugel, holte ein wenig weiter aus und schoss sie in Richtung Blechpyramide ab. Getroffen! Aus der großen, wurde eine kleine Pyramide, die nur noch aus drei Dosen bestand. Leider reichte das nicht für ein Häschen.
Kurz bevor ich auch den letzten Ball werfen wollte, und schon so ein klein wenig Wut bekam, spürte ich ihre Lippen auf meiner Wange. Entspannt und sie anlächelnd warf ich locker aus der Hüfte.
Wenn es auch keine guten Wunder mehr auf dieser Welt gab, so existierte die Liebe dennoch weiter und beschenkte die Liebende mit ihren Wundern und verzauberte die Herzen der Menschen. In diesem Fall sorgte sie dafür, dass 10 Blechdosen in sich zusammen fielen und eine wunderschöne junge Frau ein kleines Plüschhäschen bekam.
Sie lächelte wieder. Dabei bildeten sich zwei feine Grübchen, welche von einer zarten Röte umgeben wurden die immer dann auftrat, wenn ihr etwas peinlich war. Sie senkte dann immer den Kopf ein wenig, wobei ihr eine elegant geschwungene Locke ihres blonden Haares ins Gesicht fiel. Würde man sie bei “Was bin ich?“ um die typische Handbewegung bitten, so würde sie ihre Hand heben, sich diese Locke hinters Ohr streichen und dabei den kleinen Finger abspreizen. Ich liebte diese Handbewegung. Ich liebte diese Locke, diese Röte, diese Grübchen, dieses Lächeln. Ich liebte sie!
Wir gingen weiter, sie hielt ihr Häschen; ich reichte ihr einen glasierten Apfel und einige Karussells später fanden wir uns mit zwei wärmenden Plastikbechern Kaffee auf dem Riesenrad wieder. Es drehte sich langsam und hob uns allmählich über die strahlende Stadt, und näher an die glitzernden Sterne. Kurz hielt es an. Früher war dies ein Moment des Zitterns und Betens, es möge sich doch bitte weiterdrehen! Heute hätte ich den ganzen Tag hier oben verbringen können. Wir saßen einander gegenüber und ich beobachtete sie, während ihr Blick gen Himmel führte und in ihren Augen jeder Stern noch heller und schöner funkelte. Diese Augen hatten auch ohne die Hilfe von Himmelskörpern einen betörenden Glanz, der mich jedes Mal aufs Neue faszinierte. Wenn sie mir zuzwinkerte, könnte ich sterben. Wenn sie mich mit ihrem kecken Blick ansah, musste ich unweigerlich lächeln.
Sie sah mich etwas verlegen an. Da waren sie wieder, diese Grübchen.
Es drehte sich weiter. „Och nein! Lass bloß die Finger vom Knopf, du da unten!“, drohte ich mit gespielter Wut. Ihr Lächeln wurde breiter. Ich liebte sie!
Wieder festen Boden unter den Füßen umarmten wir uns und gingen weiter, auf der Suche nach Zuckerwatte und irgendetwas Kuriosem. Was, war egal. Wir wollten einfach nur unseren Spaß haben.
Als wir so über den Platz schlenderten und aßen, konnte ich in einigen Metern Entfernung zwei Glatzen in Bomberjacken erkennen. Die Kahlköpfe liefen mit übertrieben zusammengekniffenen Augen durch die Menge. Sie schienen sich für niemanden zu interessieren. In diesem Moment fiel mir ein Witz von Jürgen von der Lippe ein: “Hey Jungs! Nie die Köpfe zusammenstecken, sieht aus wie ein Arsch!“ Eigentlich wollte ich das nur denken, doch irgendwie muss es mir über meine Lippen gekommen sein, denn sie begann plötzlich neben mir zu lachen.
Unwillkürlich musste ich mit lachen. Klar, es war ja auch lustig und so passend für diesen Moment. Doch umso mehr sie lachte, desto mehr verging es mir. Ich konnte nicht sagen, was genau es war. Ihr Lachen. Irgendwie anders. Die Grübchen waren zwar da, aber nicht so nicht so niedlich und fein. Sie wurde kein bisschen Rot. Keine elegant geschwungene Locke fiel ihr ins Gesicht. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr Lachen löste bei mir keine Freudengefühle aus, nur Verwirrung. Es war irgendwie anders. Dieses Lachen, es war... echt!
Wäre dieses Glück jemals mit einem anderen Menschen noch einmal möglich? Kann man je wieder die gleichen Gefühle für eine andere Person empfinden? Ist so eine Liebe überhaupt mehr als ein Mal möglich? Werde ich je wieder lieben? War ich überhaupt richtig verliebt? Diese Fragen stellte ich mir ernsthaft, als ich mich von ihr entfernte. Wochenlang hatte sie mich angelächelt. Ein Lächeln, in das ich mich verliebte, dacht ich, und das es nicht einmal wirklich gab. Seit Wochen hatte sich mich nur ausgelacht. Mich verhöhnt. Über meine Dummheit geschmunzelt. Ich verliebte mich in eine aufgesetzte Maske. Ein falsches Ich. Es waren schöne Wochen. Eine schöne Liebe, doch keine Echte. Meine Liebe galt einer Puppe. Wie konnte ich nur die Erwiderung meiner Gefühle von einer Puppe erwarten? Sie hatte mir die ganze Zeit etwas vorgemacht, oder doch nicht, oder ja?
Werde ich je wieder so lieben können?
Wäre ich nicht so abwesend gewesen, hätte ich sie hinter mir rufen hören können. Hätte sie hinter mir her laufen sehen. Doch ich verließ, völlig in Gedanken versunken und die Umgebung nicht mehr wahrnehmend, den Rummelplatz.