Der Schatten von Minsburg
Der Schatten von Minsburg
1
Einsam beleuchteten der Mond und die Sterne das schöne Minsburg, als ob sie völlig verloren und alleine waren im Weltall. Jede Nacht war es verschieden, mal kamen ihre Strahlen bis zu uns auf die Erde, wo sie in der tiefen Dunkelheit langsam verendeten, mal blieben sie schon oben an den dicken Wolken hängen und blickten traurig auf uns herab. Doch die meisten sahen diese Blicke der vereinsamten Sterne nie, weil sie die ganze Nacht schliefen.
Doch es gab auch Menschen, vor allem in Minsburg, die nachts an ihren Fenstern standen, die meisten ängstlich, aber sehr aufgeregt. Sie warteten auf etwas, was schon fast Tradition jeder zweiten Nacht war.
Diese Nacht jedoch war es nur eine Person, die aus dem Fenster auf die finstere Straße blickte und wartete, bis der leise unheimliche Schatten die Straße entlang schlich. Es war genau einen Tag her, seitdem der Schatten, der kalte Mann, über die Straßen von Minsburg schlenderte, er musste also irgendwann in dieser Nacht kommen, dachte Julia. Sie war schon ganz gespannt, hatte aber auch große Angst, weil sie ihn das erste Mal sehen würde. Viele hatten ihr von ihm erzählt, wie unheimlich es doch sei, am Fenster zu sitzen und auf den Mann zu warten, auch noch nachts. Jetzt konnte sie es nachempfinden.
Julia drehte sich um und guckte, ob ihre Eltern noch fest schliefen, schließlich war es deren Schlafzimmer, welches ein Fenster zur Straße hatte. Sie stand langsam auf und ging auf Zehenspitzen durch den Raum in Richtung Toilette. Sie musste sehr dringend urinieren und wollte sich beeilen, um den Mann nicht zu verpassen. Nachdem sie fertig war trat sie auf den Flur und musste sich erst ein paar Minuten wieder an die Dunkelheit gewöhnen, das grelle Licht des Badezimmers schien ihr noch vor den Augen zu schweben.
Als sich ihre Pupillen wieder an das dunkle Umfeld gewöhnt hatten, schlich sie wieder zurück in das Schlafzimmer und nahm ihren alten Platz vor dem Fenster ein. Wie viel Uhr war es denn schon? Genau drei Uhr stellte sie fest, langsam wird es doch Zeit, schließlich musste sie doch schon bald wieder aufstehen. Würde sie morgens nicht aufstehen können mit dicken dunklen Rändern unter den Augen, würde es ihre Mutter auf jeden Fall mitbekommen und sofort vermuten, dass sie auch wie eine Bekloppte am Fenster auf den Mann gewartet hatte. Ihre Eltern glaubten nicht an solche Geschichten, obwohl es doch schon längst bewiesen war, dass es diesen Mann wirklich gab, oder etwa nicht?
Als ob sich ihre Frage von selbst beantworten ließe, hörte sie plötzlich ein leises Klacken auf der Straße, das nur von Stiefeln kommen konnte. Sie zog die Gardine etwas weiter, damit es nicht so auffiel, dass sie am Fenster saß.
Gebannt schaute sie in die Dunkelheit. Der Mond schien mit seinen kleinen Sternen hell auf die Straße und sang sein Klagelied der Einsamkeit, als die Schritte langsam näher kamen. Völlig verunsichert, was auf Julia zukommen würde, drückte sie sich noch dichter ans Fenster heran und berührte mit ihrer Nase schon das Glas.
Plötzlich konnte sie etwas sehen. Es war nicht mehr als ein schwarzer Fleck auf dem Boden, noch ganz klein, aber er wuchs stetig an und wurde zu einem richtigen Schatten auf der Straße. Vielleicht hätte sie doch einfach schlafen sollen, denn auf einmal hatte sie schreckliche Angst, dass der Mann sie mitnehmen würde, weil sie die Einzige ist, die im Dorf noch nicht schlief, wie sie vermutete.
Jetzt konnte sie Cowboyartige Stiefel erkennen, in denen eine abgetragene Jeans steckte, die aus dem wilden Westen hätte kommen können, so zerrüttet sah sie aus. Sie drehte ihren Kopf etwas, um auch den Oberkörper erblicken zu können und sah etwas, das sie völlig faszinierte, aber ihr auch gleichzeitig noch mehr Angst einjagte. Der Mann trug ein schwarzes Hemd, was so traurig aussah, als ob es von Tausend Leichen getragen worden war und immer weitergereicht wurde. Über diesem Hemd trug er einen großen weißen Mantel, der kurz über den Kniekehlen endete. Das war für Julia unverständlich, schließlich war dieser Mann doch als Schatten bekannt und nicht als weißer Läufer, wie in einem Fantasyroman, die sie so gerne las.
Das Gesicht konnte sie beim besten Willen und Herumdrehen nicht erkennen, er trug eine Kapuze, die vom Mantel ausging, diese Kapuze war aber schwarz, wie die von irgendwelchen Henkern aus der alten Ritterzeit, dachte Julia. Sie hatte aber nicht die große Angst bekommen, die sie sich in ihrer Fantasie vorgestellt hatte, sie glaubte, dass das an dem Mantel liegen musste, dieses strahlende Weiß.
Er ging jetzt langsam, schlenderte fast, über die breite Hauptstraße von Minsburg und blickte sich um, als ob er nach etwas suchte. Bald würde er auch Julias Haus erreicht haben, dachte sie ein wenig verunsichert. Was sollte sie jetzt tun? Lieber ins Bett gehen und schlafen? Schließlich war sie 15 und konnte nicht die ganze Nacht wach bleiben. Nein, das konnte sie jetzt nicht, es war einfach alles zu aufregend für sie. Also drückte sie sich wieder ans Fenster und beobachtete den Fremden. Sie glaubte sogar einmal erkannt zu haben, dass er auf das Haus ihrer Eltern blickte, in dem sie aus dem Fenster lugte.
Plötzlich sah sie im Haus ihrer Nachbarn gegenüber von ihr, dass sich die Gardine bewegte und Cooper aus dem Fenster guckte. Was wollte der alte Cooper denn jetzt hier in der Nacht, in der er eigentlich im Bett liegen sollte und sich vom anstrengenden Tag regenerieren musste. Es war wahrscheinlich derselbe Grund, weswegen Julia auch am Fenster saß, mit einem Unterschied. Cooper saß im Blickwinkel des Fremden, sie nicht. Der Fremde ging gradewegs auf ihn zu, weil das Haus an einer Ecke der großen Straße endete.
Sie wusste nicht, wie der Fremde reagieren würde, wenn er Cooper vorfand, am Fenster hängend und sabbernd, als sie aus ihrem Blickwinkel wahrnahm, dass der Alte auf die Straße gelaufen war (oder das, was man bei ihm als Laufen bezeichnen könnte) und auf den Fremden zuging. Er murmelte etwas vor sich hin und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte auf den Fremden, der jetzt unmittelbar vor ihm stand.
Julia bekam kaum mit, dass er seine Hand hochgerissen hatte und seine Finger in komischen Winkel zu einander standen, als Cooper anfing vor Schmerzen zu wimmern und langsam auf den Boden sank. Es sah fast so aus, als ob der Fremde ihm sein Leben aussaugte und es in sich aufnahm. Er blieb dabei ganz ruhig und bewegte nur ab und zu seine Hand etwas, bis es wohl zu Ende war und er mit den Fingern eine Faust bildete. In dem Moment stürzte der Alte mit aller Wucht auf den Boden und lag nur da, bewegte sich nicht und sagte auch keinen Mucks.
Als ob es den Fremden überhaupt nicht interessieren würde, ging er wieder langsam weiter, schlenderte seinen Weg auf der großen Straße von Minsburg und nahm plötzlich seine Kapuze ab. Zu der großen Verwirrung und Angst, was mit Cooper passiert war, kam jetzt auch noch Panik hinzu, warum nahm der Mann seine Kapuze ab?
Wie vom Blitz getroffen saß Julia da, als der Fremde sich noch einmal umblickte und ihr genau in die Augen blickte und grinste. Sie konnte seine Gesichtszüge kaum ausmachen, wusste aber, dass sie schrecklich aussehen mussten.
Sie war weder in der Lage sich zu bewegen noch konnte sie losschreien. Es war, als ob er sie mit seinem Blick fesselte und nicht mehr loslassen wollte. Als sie ihn fast nicht mehr sehen konnte nahm er seine Hände hoch und sie dachte, dass er auch sie auf die Straße locken wollte, zog dann aber wieder seine Kapuze über den Kopf und drehte sich um und verschwand völlig aus dem Blickfeld von Julia.
Sie saß völlig erschrocken da, ihre Eltern schlafend hinter ihr und Cooper auf der Straße, was war mit ihm passiert? Sie konnte jetzt nicht auf die Straße, dazu hatte sie viel zu viel Angst, um nachzugucken, was mit ihm geschehen war.
Mit starren Beinen stand sie auf und schlich um das Bett ihrer Eltern zurück zur Tür und verharrte im Flur, als ob sie fürchtete, dass der Fremde jederzeit aus einer Ecke springen könnte und sie aussaugte, wie er das mit Cooper getan hatte.
Als sie ihr letztes bisschen Willenskraft zusammennahm, lief sie schnell aber leise in ihr Zimmer und vergrub das Gesicht unter ihrer Decke, in Angst, dass der Mann ihr gegenüber stehen könnte. Ihr Magen fühlte sich vor Angst fast wie zugezogen. Nach ein paar Minuten der Stille nahm sie langsam die Decke wieder vom Kopf und blickte in die Dunkelheit. Sie konnte nicht fassen, was da eben passiert war, glaubte aber zu wissen, dass Cooper nun sein Weg bis ans Ende zum weißen Licht gehen musste. Er würde nie wieder kommen, seine Familie wird um ihn trauern und über dem Dorf würde ein eisiger Hauch von Dunkelheit liegen, wie es immer der Fall war, wenn jemand dahinschied und den Weg der Lichtung betrat.
Wieso hatte er mich danach noch so angeschaut? Er muss gewusst haben, dass ich ihn beobachtet habe, wollte es vielleicht sogar. Aber Wieso? Es war alles so verwirrend.
Während sie weiter überlegte, fiel sie. Sie fiel in das Land, in dem alles, wirklich alles, sei es im wahren Leben noch so hirnrissig, real war. Das Land der Träume…
2
…Sie war von Dunkelheit umgeben, kein einziger Funken Helligkeit erfüllte den Raum. Sie dachte, dass sie hier wohl auch wie Cooper am Ende des Weges angekommen war und bald die Lichtung anfangen musste, die sie zu betreten hatte, weil sie tot war.
Dem war aber nicht so, wie sich herausstellte, denn plötzlich fing eine tiefe Stimme an zu lachen. Es war eine schreckliche Stimme, voller Kälte. Der ganze Raum, in dem sie stand, wurde von Gebrüll eingehüllt und Julia bekam Todesangst, obwohl es doch eigentlich ein Traum sein musste, oder nicht? Es fühlte sich real an, aber das tun Träume doch immer, wie sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Nur, wieso hatte sie ein so derartiges Angstgefühl in einem normalen Traum?
Plötzlich, ohne Vorwarnung, ertönte ein Geräusch, als ob man Holz angezündet hätte und mit einem Mal stand sie in hellem Licht. Sie riss ihre Hände vor die Augen, um sie vor der Helligkeit zu schützen, die unaufdringlich in ihre Augen fielen. Auch das war komisch, wie konnte so etwas in einem Traum eine Rolle spielen, im Land des Traumes war es doch normalerweise gleichgültig, ob es hell oder dunkel war.
Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, nahm sie mit langsamen Bewegungen die Hände runter und erstarrte vor Schreck. Es kam eine Gestalt auf sie zu, langsam, aber doch mit einem tödlichen Tempo. Sie konnte sich nicht bewegen, ihre Muskeln streikten, als ob ihnen jahrelang keine Energie mehr zugefügt worden war. Sie konnte nicht erkennen, wer die Figur war, sie konnte nur den weißen Mantel ausmachen und wusste sofort, wer es war.
Sie fing an zu zittern, als die Figur so nahe gekommen war, dass sich fast ihre Nasen berührten. Trotzdem konnte sie sein Gesicht nicht erkennen.
Als ob ein Blitz eingeschlagen hätte, grollte ein leises Donnern und sofort darauf züngelte eine große Flamme auf und das Gesicht wurde sichtbar. Sie wollte die Augen schließen, sich vor dem schützen, was sie sah, konnte es aber nicht. Diese schwarzen Augen, kein Anschein einer Pupille in ihnen, die vielen Narben und das schreckliche breite Grinsen. Es waren höchstens nur zwei Sekunden, in denen sich das Gesicht erkennen ließ. Sie wusste aber, dass er leise flüsternd einen Namen aussprach, bevor sie die Seiten wechselte, um wieder in die Realität zu gelangen, es war ihr Name, Julia…
3
„…Julia….Julia, wach auf! Du hast einen Albtraum! Wach auf!“, hörte sie ihre Mutter rufen. Julia verstand, dass sie einen Albtraum durchlebt hatte, wusste aber auch, dass es kein normaler Traum gewesen war.
„Was ist bloß los mit dir, so unruhig hast du ja noch nie geschlafen, bist du wach Julia?“ Die Mutter blickte besorgt um sich und nahm die Flasche, die auf dem Nachttisch stand und wollte grade Wasser eintröpfeln, um es Julia ins Gesicht zu spritzen, als Julia sich auf ihre Ellenbogen aufrichtete. Langsam schaute sie sich in Zimmer um, damit sie sich auch sicher sein konnte, dass sie wieder in der Realität war, zu Hause in Minsburg.
„Du bist völlig nass geschwitzt Julia, ich hab mir tierische Sorgen gemacht, was ist denn los?“, fragte ihr Mutter.
„Ich hatte einen Albtraum Mama, tut mir leid, dass ich dir solche Sorgen gemacht habe. Ich hab geträumt, dass ich gefallen bin, mehrere Stunden, immer tiefer. Ich habe Leichen gesehen, ich hatte riesige Angst.“ Sie versuchte so gut zu lügen, wie sie nur konnte, schließlich wusste sie auch noch jetzt, trotz ihrer Verwirrtheit, dass sie ihren Eltern nichts von ihrem wahren Albtraum erzählen durfte, wenn sie nicht das Risiko eingehen wollte, dass ihre Eltern sich zu viel Sorgen machten.
„Ist alles wieder gut Mama, keine Sorge!“ sagte sie.
„Na dann ist gut, ich hatte echt Angst, wieso du so gewimmert hast im Bett. Ich frag mich nur, warum du solche Sachen träumst, ließt du zu viele
Fantasyromane?“, fragte sie scherzhaft.
„Nein Mama, das weißt du ganz genau, solche Albträume hatte ich auch schon als kleines Kind!“, erinnerte sie, um von ihren Büchern abzulenken, schließlich waren die ihr zu wichtig, als dass ihr die verboten werden sollten.
„Da hast du Recht“, gab sie zu und war irgendwie etwas fröhlicher gestimmt als noch vor fünf Minuten, weil sie sich wieder normal mit ihrer Tochter unterhalten konnte.
„Kannst du dich an Cooper erinnern Julia? Der uns gegenüber wohnt?“, fragte sie mit etwas höherer Stimme.
„Klar kann ich das, der alte Knochen!“ Sie versuchte ihre Betroffenheit zu überspielen, weil sie schon ahnte, was ihre Mutter ihr erzählen wollte.
„Julia, der Mann ist heute Morgen tot aufgefunden worden, fast unmittelbar vor unseren Haus. Man sagt, dass er abends einen Spaziergang machen wollte und dabei, grade als er draußen war, einen Herzanfall gehabt hatte und tot umgefallen ist.“
Obwohl Julia genau wusste, wie der Mann zu Tode kam, war sie trotzdem geschockt, schließlich hatte sie alles miterlebt. Sie hatte auch starke Gewissensbisse, sie hätte doch auch schnell nach draußen rennen können, um den Fremden aufzuhalten.
„Das ist schrecklich, auch wenn er ein alter Knochen war“, sagte sie mit betroffener Stimme.
„Ich weiß, ich habe es auch nicht verstanden, er war ja körperlich noch ganz gut drauf. Es ist sehr schade, ich trauere sehr für die Familie. Na ja, wir können es nicht rückgängig machen, soll ich uns was zu Essen machen Juli?
„Ja, das wäre klasse, ich habe einen Bärenhunger!“, und das war ihr voller Ernst.
Ohne zu antworten, ging ihre Mutter nach unten und nach einiger Zeit konnte sie schon Düfte des Frühstücks wahrnehmen. Julia blieb noch einige Zeit liegen und dachte über die letzte Nacht nach. Nach einigem Überlegen kam sie nicht auf eine Antwort, wie diese ganzen Sachen zusammenhingen und ging nach unten zum Frühstücken.
4
Der schwarze Wagen fuhr vor das Haus von Cooper. Julia schätzte, dass es der Leichenwagen sein musste, der Cooper abholte, den armen alten Knochen. Ein Mann, dessen Haut weiß wie Alabaster war, stieg aus und ging mit einer fahrbaren Liege zum Haus, aus dem er nach ein paar Minuten schon wieder mit der Trage kam und diese langsam ins Auto manövrierte.
Jetzt wurde Cooper also fortgeschafft, dachte Julia und war sehr traurig. Kurz bevor der Kofferraum von dem Mann geschlossen wurde, der selbst wie eine Leiche aussah, viel etwas auf den Boden. Sie konnte nicht genau erkennen was es war. Es sah in irgendeiner Form grau aus und ziemlich klein. Fast wie ein Insekt.
Der Leichenwagen fuhr aus der Stadt und Julia zog sich ihre Schuhe an und lief direkt nach dem Frühstück nach draußen, um zu gucken, was Cooper hat fallen lassen, als er auf dem Weg in das dunkle Auto war.
Sie hockte sich hin und berührte das kleine Objekt. Es fühlte sich irgendwie hart, aber auch glänzend an, sie konnte es nicht besser beschreiben. Mit zitternden Händen hob sie es auf und sah es mit offenem Mund an. Es musste ein Schmetterling sein, dachte sie, oder nein, eher eine Motte. Das Ding sah alt und zerbrechlich aus, hatte keine Flügel, wirkte aber trotzdem wie eine Motte.
Sie fragte sich nur eins, wieso verlor Cooper auf seinem letzten Weg zu der Lichtung eine Motte? Hat sie sich vielleicht schon im Haus an ihm festgebissen und ist dann einfach heruntergefallen? Schließlich hatte das komische Ding keine Flügel und muss gekrabbelt sein.
Mitten in ihren Überlegungen warf sie die Motte ohne Flügel weg. Das war absurd, ein einfaches kleines Insekt, das sich im Haus auf seinen Körper gesetzt hat, ganz einfach.
Sie ging wieder zurück ins Haus und überlegte, was sie nun machen sollte, schließlich hatte sie Ferien und die meisten ihrer Freunde waren im Urlaub, nur sie nicht. Ihre Eltern sagten, dass sie einfach nicht das Geld hätten, um in den Ferien zu verreisen, also müsste sie sich hier so gut wie möglich die Zeit vertreiben. Vielleicht könnte sie zu Roland gehen und sich ein bisschen mit ihm unterhalten, er war sehr süß und genau in ihrem Alter, aber irgendwie hatte sie jetzt nicht die Lust auf flirten, sie musste etwas anderes machen.
Sie kam zu dem Entschluss, dass sie einen Film im Kino sehen wollte, zwar alleine, aber besser als gar nichts. Schließlich war sie alt genug, um abends alleine ins Kino zu gehen, zumindest für die achtzehn Uhr Vorstellung. Es lief wieder ein schöner Horrorschinken, den es fast jedes Jahr gab, selbst sie hatte ihn schon zweimal geguckt, aber ein drittes Mal konnte sie mit ihrem Verstand noch vereinbaren.
Sie sagte ihren Eltern (Der Vater kam um fünf nach Hause, genervt von der Arbeit, wie immer), dass sie ins Kino ginge und spätestens um halb elf wieder da sei. Beide Elternteile hatten nichts an dieser Idee auszusetzen, waren vielleicht sogar etwas froh, den Abend alleine zu verbringen, weil sie beide ziemlich geschafft waren. Ihr war es einerlei, sie wollte die Zeit rumkriegen und ein bisschen Ablenkung von ihren ganzen Erlebnissen in den letzten Tagen bekommen.
Der Film war nicht schlecht, er war sogar gut, nur wusste sie schon an welcher Stelle wer aus der Ecke springt und jemandem etwas antut. Immerhin sah sie das zum dritten Mal. Die vielen Leute um sie herum (Sie wunderte sich, dass überhaupt so viele in den Ferien hier waren), sahen aus, als ob sie die ganze Zeit versuchen würden ein Schreien zu unterdrücken, weil sie den Film wohl das erste Mal gesehen hatten, wie Julia dachte und an zu grinsen fing.
Es war zwar schon zehn, aber es war immer noch sehr hell auf der Straße als sie aus dem Kino trat, denn im Sommer schob sich die Sonne immer später in die Tiefe, wo sie nach ein paar Stunden wieder hervorkam, um ihren fröhlichen Gesang der Wärme zu singen. Sie sollte jetzt lieber nach Hause gehen, bevor ihre Eltern sich Sorgen um sie machten dachte sie. Auf solche Diskussionen zu Hause hatte sie keine Lust, also setzte sie sich in Bewegung.
Nachdem sie einige hundert Meter gegangen war, vernahm sie ein Husten hinter sich, als ob eine uralte, von Zigaretten zersetzte, Lunge die letzten Überreste ihres Daseins ausspuckte und blieb stehen. Haare auf ihrem Körper stellten sich auf und ein komisches Gefühl verbreitete sich in ihrer Magengegend, als ob sie Achterbahn fuhr. Zwar nicht so schlimm, als ob sie der schwarze Mann angeguckt hätte, aber wer weiß, vielleicht stand dieser ja grade hinter hier.
Nach einigem Überlegen blickte sie sich um ihr fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Da war weder ein großes Monster, noch ein schwarzer Mann, der sie töten wollte, es war Roland. Seine schwarzen Haare fielen in sein Gesicht, vom Wind zerzaust. Er stand da, als ob es ihm irgendwie unangenehm war, aber er grinste, was Julia freute und sie veranlasste zu überlegen, wieso sie vorhin nicht doch zu ihm gegangen war, er sah verdammt gut aus.
„Roland! Was machst du denn hier? Ich hab mich total erschrocken, dachte schon, der schwarze Mann wäre hinter mir her, “, sagte sie und blickte ihn voller Neugierde an.
„Tut mir leid, falls ich dich erschreckt haben sollte Julia, ich wollte mich aber mit dir treffen, ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Er wurde etwas rot und schabte mit seiner Schuhsohle auf dem Boden herum.
„Ich wollte vorhin auch zu dir gehen, habe mir aber doch den Kinofilm angeguckt, ich wusste nicht genau, ob dir das recht gewesen wäre, wenn ich einfach so aufgekreuzt wäre.“
„Na klar wäre es mir recht gewesen, ich hatte es eigentlich erhofft, weil mir den ganzen Tag schon langweilig war. Hast du eine Idee, was wir jetzt machen könnten Julia?“ Er blickte sich um, als ob er die Antwort in der Luft suchte.
„Wir könnten zum Steilufer gehen, wenn du Lust drauf hast und uns ein wenig unterhalten?“ Ihr wurde etwas mulmig, weil sie wusste, dass sie viel später zu Hause sein würde, als ihr aufgetragen wurde. Aber was sollte daran schon schlimm sein, schließlich hatte sie Ferien.
„Ja, das ist gut, lass uns gehen“, erwiderte er und sie gingen zusammen auf der großen Straße in Richtung Minsburger Steilufer. Als sie nach zehn Minuten dort angekommen waren, legten sich beide ins Gras eines großen Hügels.
„Julia, hast du von Cooper gehört?“, fragte er.
„Ja, das hab ich, wieso fragst du?“ Sie drehte ihren Kopf in seine Richtung, weil sie kaum etwas hören konnte, da ihr ständig der Wind in die Ohren blies.
„Ich habe ihn sterben sehen und habe nichts unternommen, Julia, ich saß einfach am Fenster und habe zugeguckt, wie Cooper ausgesaugt wurde von ihm!“ Sie bemerkte, dass sich seine Augen mit Tränen füllten.
„Ist das dein voller Ernst? Wenn ja, haben wir beide das Selbe erlebt gestern Nacht, ich saß auch am Fenster meiner Eltern und habe ihn gesehen, und Cooper, wie er zusammenbrach. Das war so schrecklich, ich konnte nichts machen, selbst wenn ich gewollt hätte.“ Sein Gesichtsausdruck brachte Unglauben zu Tage.
„Sprichst du die Wahrheit Julia?“
„Ja, das tue ich, wir haben es zusammen gesehen, nur von verschiedenen Plätzen aus.“ Er fiel zurück ins Gras und wirkte erleichtert, weil er wusste, dass sie ihn voll verstehen würde, wenn es um das Thema ginge.
„Was glaubst du, hat er mit Cooper gemacht?“, fragte Roland und sah ihr mit einer Tiefe in die Augen, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte.
„Ich weiß nicht genau, es sah aus, als ob er ihm das Leben ausgesaugt hat, was denkst du, ist er ein Vampir oder so was?“ Neugierde blitze in Julias Augen.
„Keine Ahnung, was er ist, oder ob er überhaupt etwas ist, auf jeden Fall sah es echt so aus, als ob er ihm irgendwas ausgesaugt hat, da hast du Recht, alles andere kann ich nicht sagen.“ Er wirkte ratlos, als er in den Himmel blickte und nach Antworten suchte, die Arme unter seinem Kopf verschränkt.
Sie legte sich wieder zurück ins hohe Gras und schaute in den Himmel. Es war eine klare Nacht und man konnte jeden einzelnen Stern sehen, der ihnen zublinzelte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, war aber froh, dass sie jemanden gefunden hatte, der das Selbe gesehen und gefühlt hatte, wie sie.
Wind hauchte über ihre Körper und bewegte das lange Gras um sie herum, als ob sie im Meer lägen und kleiner Wellengang herrschte. Sie hörte es rechts von ihr rascheln wo Roland lag und überlegte, was er da machte. Sie wollte sich grade zu ihm drehen, als ein Schatten über ihr auftauchte. Sie erschrak fürchterlich, erkannte aber eine Sekunde später, dass es Rolands Kopf war. Er schaute ihr in die Augen und lächelte. Ohne ein Wort zu sprechen, beugte er sich weiter über sie und kam mit seinem Gesicht zu ihrem herunter. Julia machte keinen Anschein sich dagegen zu wehren, sie schloss einfach nur die Augen. Sie fühlte, dass er ihre Hand nahm und streichelte. Der Mond stand hell am Himmel und sang sein Klagelied, als sie spürte, wie sich seine Lippen auf ihre legten und eine angenehme Wärme ihren Körper durchfuhr.
Er kam näher heran gekrochen und fasste ihr an die Hüfte, um sie näher an sich heran zu ziehen. Ihr Kuss wurde immer leidenschaftlicher und sie drückte sich an ihn, umfasste seinen Körper mit ihren Armen und fühlte sich geborgen wie seit langer Zeit nicht mehr.
Er küsste sich von ihren Lippen zum Hals vor, als sie ihn noch fester umschlang, um näher bei ihm zu sein. Sie konnte fühlen, wie er mit seinen Händen ihre Brüste liebkoste, wie er anfing, leicht an ihren Brustwarzen zu saugen, worauf diese sich aufstellten und ihre Erregung zum Ausdruck brachten.
Nach einem letzten Kuss erhob er sich etwas und blickte auf das Meer herunter, was geheimnisvoll, aber tödlich aussah in der Dunkelheit. Sie wollte ihn wieder zu sich ziehen aber er blieb standhaft und forderte sie auf, sich zu erheben.
„Siehst du das da unten bei den Steinen?“, fragte er und guckte sie an, als ob er endlich seine große Jugendliebe gefunden hatte. Julia erhob sich und zog ihr Oberteil wieder über ihre Brüste, die noch so erregt waren, dass sie sofort weitergemacht hätte.
„Was soll ich da sehen? Wo genau bei den Steinen, ich, Roland, da fliegt was, da fliegen ja tausende, was ist das?“ Doch in ihrem Innersten wusste sie es bereits.
Es waren tausende Motten.
„Roland, eines habe ich dir verschwiegen. Als Cooper abgeholt wurde, bin ich auf die Straße gerannt, weil ich etwas gesehen hatte, das der Alte verloren haben musste. Es war eine Motte ohne Flügel Roland!“
Er schaute sie an und schluckte mit einer Schwerfälligkeit, als ob Teer von einem Baum floss und stand auf.
„Julia, was hat das alles zu bedeuten? Ich bin im Moment etwas zu verwirrt, um vernünftig darüber nachdenken zu können, lass uns nach Hause gehen, das tut uns beiden glaube ich gut.“ Sie stand ebenfalls auf und nahm seine Hand.
„Ehrlich gesagt will ich auch nach Hause, mir wird das hier zu unheimlich, lass uns gehen.“
Sie gingen wieder in die Richtung von Minsburg und blieben an dem kleinen Brunnen stehen, wo sich ihre Wege trennten, um nach Hause zu gelangen. Sie gab ihm ein Gutenachtkuss und verabschiedete sich und ging dann mit schnellem Schritt auf der Hauptstraße zurück zum Haus ihrer Eltern. Sie sah, dass noch Licht brannte und dass ihr Mutter wahrscheinlich im Bett lag und auf sie wartete. Sie würde nicht eher ein Auge schließen, bis sie hörte, dass Julia zu Hause war und die Tür hinter sich schloss. Vielleicht würde sie Ärger bekommen. Das war ihr völlig egal, der Abend war es wert, mit ihm, wie er sie leicht umarmt hat…
„Julia“ ertönte es aus dem Schlafzimmer, „komm her!“ Schweren Schrittes ging sie zu ihrer Mutter und setzte sich zu ihr aufs Bett.