Der Schlüssel
Sie besaß etwas, das sie eigentlich gar nicht besitzen sollte - besitzen durfte. Unbewusst trug sie es Tag und Nacht mit sich herum. So wenig wie sie sich anfangs selbst darüber bewusst war, so wenig wussten ihre Mitmenschen, ihre Verwandten, ja sogar ihre engsten Freunde von ihrem imaginären Besitz.
Nur eine Ausnahme existierte, wenn man überhaupt noch von existieren sprechen konnte: der eigentliche Besitzer; der Mann, der das Wertvollste in seinem Leben bereitwillig hergegeben hatte, und nun daran zu zerbrechen drohte.
Wann hatte diese schicksalhafte Entwicklung ihren Ausbruch genommen? Diese Frage, die er sich, so sinnlos es auch war, tagtäglich stellte, vermochte er nicht mehr eindeutig zu beantworten. Kennen gelernt hatten sie sich vor gut einem Jahr. War sein Schicksal schon zu diesem Zeitpunkt unabänderlich besiegelt worden? Oder war es vielmehr ein schleichender Vorgang, in dem er Stück um Stück einen Teil seiner Identität verlor, nur um das höchste aller Ziele zu erreichen?
Geblendet von allzu viel Emotionen, einem bunten Wirrwarr aus ephemeren Momenten der Freude, unendlichen Stunden der Trauer und seelischer Niedergeschmettertheit, alles umhüllt von der dunklen, perfiden Wolke der Eifersucht, verlor die Zeit für ihn jegliche Bedeutung.
Sein Tagesablauf richtete sich nicht mehr nach Stunden und Minuten, hell und dunkel, sondern nach himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Die Dauer seines Leidens in vordefinierten Zeiteinheiten zu definieren, war ihm daher unmöglich.
Eine Frage drängte sich ihm aber noch permanenter ins Bewusstsein: die ambivalente Nachforschung nach der Schuld. So sehr er sich wünschte, alles einfach ihr zuschieben zu können, so stark er auch versuchte sich immer und immer wieder einzuhämmern, dass sie es gefordert, es geradezu provoziert hatte, es konnte ihm einfach nicht gelingen. Tief in seinem Kopf waren die Zeilen der unausweichlichen Wahrheit auf ewig eingebrannt. Er allein trug die Verantwortung dafür, dass sie ihn so verletzen konnte. Die Tatsache, dass sie es getan hatte, die konnte er ihr übel nehmen. Ja.
Hassen konnte er sie deshalb trotzdem nicht, obwohl er sich mittlerweile schon aus Selbstschutz danach sehnte - so wie er sich nach ihr sehnte.
Die Liebe verkörperte für ihn in seiner jugendlichen Naivität immer nur die gute Seite des Lebens. Dass die, von all den Glücklichen glorifizierte, Liebe aber auch eine pechschwarze Seite besitzt, das hatte er mit ihr erst erfahren müssen. Fernab von jedweder unentbehrlichen Luzidität, versklavte ihn ein ebenso grausamer wie kompromissloser Gedanke: er hatte die Frau seines Lebens gefunden - sie wollte es nur nicht sein.
Vergleichbar mit dem Krankheitsverlauf eines tropischen Fiebers, hatte die für ihn aussichtslose, selbstzerstörerische Liebe in Schüben Besitz von ihm ergriffen. Vom Augenblick der ersten Begegnung an, dem ersten Hauch von Sehnsucht, war die Lawine unaufhaltsam ins Rollen geraten. Was mit einem gesunden Herzklopfen, schüchternen Annäherungsversuchen und aufgeregtem Stottern begann, entwickelte sich zu einer Passion. Das fatale daran war, dass sie Freunde blieben, nachdem sie es gewissermaßen nicht mehr hätten sein dürfen. Doch diesen herzzerfetztenden Schritt brachte er nicht zustande, diesen Schritt, der sein Leben in andere Bahnen gelenkt hätte. So ließ er die Gelegenheit verstreichen rechtzeitig einen Schlussstrich zu ziehen. Statt dessen überwinterte ein Setzling seiner im Keim erstickten und an den Wurzeln herausgerissenen Liebe, bis die Sehnsucht wieder so weit erstarkte, dass er zu einem neuen Versuch ansetzte. Seine Sucht, den eine solche ist die Sehnsucht nun mal, kopulierte mit dem Drang nach der seelischen Quall. Ja, sie blieben Freunde, trotz ihrer unmenschlich deutlichen Aussage, dass sie von ihm nicht mehr wolle, als Freundschaft. Aber aus Freundschaft könnte ja vielleicht, gewiss, musste einfach irgendwann Liebe werden. Das stellte den Stützpfeiler dar, auf dem sich seine gesamte Gedankenkonstruktion aufbaute.
So hielt ihr Kontakt, sie trafen sich häufig mit Freunden, und sein Hunger wuchs. Doch für sie war die Sache erledigt, mit jedem Atemzug entfernte sie sich gedanklich weiter von ihm. Ihre ausgelebte Gleichgültigkeit brachte ihn um den Verstand. In der fiebrigen Phase, die er durchlebte... Phase? Der Begriff erschien ihm völlig fehl am Platz. Eine Phase hat immer ein Ende. Und er konnte - wollte sich schlichtweg nicht vorstellen, dass er dieses Gefühl des wohltuenden Schmerzes irgendwann verlieren könnte. Schon die Imagination, dass diese Emotion an Intensität einbüßen könnte, war irreal.
In jenem Stadium steigerte er sich in alles hinein, was mit ihr zu tun hatte. Bei jeder Kleinigkeit dachte er nächtelang darüber nach, ob es eine Anspielung auf irgendetwas gewesen war, ob sie es wirklich so gemeint hatte. Jede für sie nur profane Nichtigkeit in ihrem Gebaren ihm gegenüber, legte er positiv für sich aus. Und das ungeachtet dessen, dass er jedes ihrer Worte auf die Waagschale legte und ohnmächtig mit ansehen musste, wie sie seine Seele malträtieren. So viel Aufmerksamkeit er darauf verwendete, so wenig interessierte er sich für all die anderen Dinge um ihn herum. Alles, was nicht mit ihr zu tun hatte, fand keinen Platz in seinen Gedanken, war völlig irrelevant. Das ging sogar soweit, dass er mit seinen Freunden nur noch wegging, wenn sie dabei war. Einzig aus dem Beweggrund heraus, sie zu sehen. Was sie unternahmen war ihm egal. Im Videoverleih kam die Diskussion auf, ob man sich für den Abend einen Liebes- oder einen Kriegsfilm ausleihen wolle. Er brachte nichts weiter heraus als: Ist das nicht dasselbe? Doch keiner verstand ihn. Sie überhörten den Hilferuf seines einsamen Herzens. Ja, selbst sie.
Jeden gottverdammten Morgen erwachte er in der Gewissheit, dass er wie an den vorangegangenen Tagen aufs Neue sterben würde. Die Marterpfeile des Selbstmitleids trafen ihn immer und immer wieder in seine empfindlichste Stelle: in sein Herz. Die Tränen der letzten nacht waren noch nicht getrocknet, da musste er auch schon wieder an ihre wunderschönen, rehbraunen Augen denken, die ihn dahin schmelzen ließen, wie einen verlassenen Eisberg in der heißesten Wüste. An die Fältchen in ihrem Gesicht, wenn sie das einzige tat, was ihm noch einen länger anhaltenden Moment des Glücks schenken konnte; wenn sie lächelte. An ihre zarten Hände, die die seinen zu Schmirgelpapier machten. An ihre engelsgleichen Bewegungen, wenn sie sich die Haare aus dem Gesicht strich oder einfach nur lief.
Er verzehrte sich danach, die alltäglichen Situationen des Lebens mit ihr zu erleben. Ihr morgens in die verschlafenen Augen zu blicken, ihre vom Schlaf zerwühlten Haare zu bewundern. Einfach mit ihr an einem Tisch zu sitzen, sie barfuß über die Fliesen tappen zu sehen; kurzum: jeden Herzschlag seines Daseins an ihrer Seite zu verbringen. Mit ihr alt zu werden.
Beim Gedanken daran, dass ein anderer sie berühren, sie küssen oder sie lieben könnte und noch schlimmer, sie ihn, erfasste ihn das Gefühl des Verrücktwerdens, des Taumels in einem nimmer enden wollenden Strudel der Verzweiflung. Der letzte Funke der Vernunft, der in seinem Kopf nach Überlebenden suchte, schrie unaufhörlich: Opfere nicht dein Leben auf dem verteufelten Altar der Liebe! Statt darauf zu hören, versuchte er seine Emotionen niederzuschreiben; in pathetischen Briefen, die sie sowieso niemals lesen würde.
denn durch dich fühle ich mich groß,
denn du lässt die Sterne strahlen.
Nur durch dich kann ich in Farben malen,
ohne dich wäre mein Leben ein hartes Los.
Dafür liebe ich dich.
Du lässt mich jeden tag genießen,
du machst, dass ich fröhlich bin.
Nur du gibst meinem Leben einen Sinn,
ohne dich wäre ich nicht ich selbst.
seine Lebensliebe! Und während sie mit der Gewissheit lebte, dass er sie bereits vergessen hatte, starb er in der Überzeugung, nie gelebt zu haben.
Er würde nie wieder so lieben können, wie er es derzeit tat, wie er sie liebte. Nie wieder würde er sich so entblößen und sich so verletzen lassen. In nie gekanntem Stoizismus stellte er fest, dass die Liebe vor allem eines war: für immer in seinem Herzen begraben.