Der Schlafende
Natürlich wusste ich seit meiner frühesten Kindheit, wie es war, zu schlafen. Immerhin hatte ich damals mindestens den halben Tag eingewickelt in meine flauschige, blaue Decke zugebracht.
Als ich fünf Jahre alt war, machte ich jedoch eine Entdeckung, die eine unvorstellbare Auswirkung auf mein weiteres Leben haben sollte.
Es war ein sonniger Sonntagnachmittag, und der ganze Vorort war friedvoll und still. Ich hatte bereits Stunden in unserem kleinen Garten gespielt, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich durstig war.
Ich rannte also zurück ins Haus, doch da ich damals noch zu klein war, um an die Schränke zu gelangen, suchte ich nach meiner Mutter, die das für mich erledigen sollte.
Ich rief im ganzen Haus nach ihr, bevor ich endlich die Tür zu unserem kleinen Musikzimmer an der Westseite unseres Hauses öffnete.
Ich wollte gerade „Mum!“ rufen, doch die Silben blieben mir im Hals stecken. Auf dem großen tannengrünen Sofa in der Ecke des Raumes schlief meine Mutter.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort gestanden habe. Ich weiß nur, dass ich fast sofort meinen Durst vergaß, als ich sie anblickte.
Angela Turner war eine kleine, hübsche Frau in ihren Mittzwanzigern, mit kurzem, flachsblondem Haar und großen, grauen Augen. Bis heute ist sie die sportlichste und aktivste Frau, die ich je gekannt habe. Sie schien niemals zu ruhen. Während der Woche ging sie üblicherweise zum Wasserschifahren im Sportverein unserer Stadt, und am Wochenende verbrachte sie Stunden mit unserer Nachbarin Janet am Tennisplatz.
Und selbst, wenn sie nur im Haus war, schien sie keine Minute still bleiben zu können. Sie fegte wie ein Wirbelsturm durchs Haus, während sie am Schnurlostelefon fröhlich mit Freundinnen plauderte und mit Lichtgeschwindigkeit aufräumte und kochte, ihre Lieblingslieder summend.
Bis zu dem Vorfall an jenem denkwürdigen Nachmittag war es mir nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass jemand wie meine Mutter jemals Schlaf brauchte. Ein perpetuum mobile stand nicht still.
Und so stand ich da und beobachtete die merkwürdige Szene in höchster Verwunderung. Sie lag einfach nur da, ihr zierlicher Körper zusammengerollt, die Arme lose herabhängend.
Am meisten jedoch fesselte mich der Ausdruck ihres Gesichts. In diesem Moment sah sie so aus, als ob nichts auf der Welt ihr jemals etwas anhaben könnte. Als wäre sie gerade in einer Welt komplett anders als die unsrige.
Plötzlich bewegte sie sich, und ihre Augen öffneten sich langsam. Im ersten Moment nach ihrem Aufwachen schien sie sehr verwirrt, so, als müsste sie sich eben in die Realität zurückkämpfen.
Nach einem leisen Murmeln fiel ihr Blick auf die alte Großvateruhr am anderen Ende des Zimmers.
„Oh Gott, wie lange habe ich geschlafen?“, rief sie aus und war schlagartig wach. Es war viertel nach sieben Uhr abends. „Es tut mir so leid, Kleiner“, entschuldigte sie sich. „Ich hätte dir längst dein Abendessen manchen sollen, du hast sicher Hunger.
Sie eilte aus dem Zimmer. Der Zauber war weg.
Doch ich vergaß es nicht. Ich erinnere mich an jedes kleine Detail dieses Abends, als wäre es gestern gewesen.
Und dies war nur der Anfang eines großen Geheimnisses, das in meinem Leben noch eine große Rolle spielen sollte.
Ich wurde älter, und mein Langzeitgedächtnis entwickelte sich immer mehr, und ich erinnerte mich auch an Träume, wenn mehrere Wochen oder sogar Monate vergangen waren.
Als ich sieben war, ging ich zur Grundschule, um wie jedes Kind schreiben, lesen, rechnen und noch viele andere Dinge zu lernen. Dennoch erkannte ich weder Sportunterricht noch Mathematik oder Biologie als elementar wichtig an. Die einzigen Stunden, wie ich wie ein höchst wertvolles Geschenk entgegennahm, waren die, in welchen ich lesen und schreiben lernte.
In der zweiten Klasse war ich im Schreiben bereits gut genug, um ein Traumtagebuch zu führen. Natürlich wusste ich bei einigen schwierigen Wörtern nicht, wie diese zu schreiben waren. Doch auch für dieses Problem fand ich eine Lösung. Und so machte ich anstelle der Wörter, die ich öfters falsch schrieb, einfach eine Zeichnung.
Bald war mein Traumtagebuch also gefüllt mit Zeichnungen von seltsamen Landschaften, Hexen und Magiern mit dreiköpfigen Hunden und Monstern.
Als meine Schulausbildung voranschritt, dominierten die geschriebenen Passagen nach und nach über die gezeichneten.
Wie jeder Mensch träumte ich oft von realen Orten und Menschen, nur, dass diese in meinen Träumen immer anders aussahen. Ich sah meinen Vater, zehn Fuß groß, und meinen Schulkameraden Rob mit grünen Haaren.
Als ich noch kleiner war, verstand ich nicht wirklich, warum Leute in Träumen anders aussahen als in der Realität. Einmal fragte ich zum Beispiel meine Mutter, warum sie in meinem letzten Traum schwarzhaarig statt blond gewesen war, doch ihre einzige Antwort war ein zärtliches Lachen.
Und so wandelte ich durch meine Welt aus hohen Bergen, Geheimlagern, Verbrechern und Polizisten, fröhlichen Kindern und schrulligen Alten. Und jedes Mal waren meine Träume eingehüllt in einen seltsamen blauen Nebel.
Doch das am meisten faszinierende Traumphänomen erschloss sich mir erst, als ich elf war. Eines Nachts träumte ich, ich würde durch eine friedliche, grüne Allee wandern, als ich plötzlich ruckartig erwachte-und feststellte, dass ich in eine alte grüne Bettdecke eingewickelt war. Doch dies war nicht möglich-eine grüne Decke hatte ich nie gehabt.Wer zum Teufel konnte das scheußliche Ding über mich gelegt haben, ohne dass ich es bemerkt hätte?
Doch sobald ich aufstehen wollte, um es herauszufinden, verschwomm der Raum vor meinen Augen, und ich hörte die Stimme meiner Mutter, die mir sagte, ich solle aufstehen.
Mein Erstaunen ließ sich nicht in Worte fassen. Soeben hatte ich einen Traum in einem Traum gehabt! Ich war „aufgewacht“ und hatte letztendlich doch noch geträumt!
Dies war der Traum, der von allen Träumen die größte Seitenanzahl in meinem Traumtagebuch verlangte. Ich sah diesen Traum als ein Wunder, als ein Geheimnis, welches unbedingt gelöst werden musste.
Fortan verglich ich diesen Traum mit den großen, bunten Geschenkschachteln, in denen meine Mutter immer unsere Geschenke verpackte: Öffnete man die erste, fand man eine zweite, anders gefärbte Schachtel, in der sich wiederum eine Schachtel befand. Ich kann mich immer noch erinnern, wie gespannt ich war, als ich eine Box nach der anderen öffnete und mich fragte, was sich wohl Interessantes in der innersten, in der letzten Schachtel befand.
Von diesem Erlebnis an war ich felsenfest davon überzeugt, dass sich Träume ebenso verhielten: Wenn ein Traum in einem Traum existieren konnte, so musste auch noch ein weiterer Traum darin existieren können. Der Gedanke, was wohl am Grund all dieser ineinander verschachtelten Träume lag, wie der innerste Traum aussehen könnte, ließ mir keine Ruhe.
Ich war ein Kind jener Art, die andere Leute wohl als „seltsam“ zu bezeichnen pflegen. Immer ging ich freiwillig ins Bett, ohne mich auch nur einmal zu beschweren, während meine Klassenkameraden baten und bettelten, um noch länger aufbleiben und sich einen Film anschauen zu dürfen.
Sie waren schon seltsam, die anderen Menschen. Andererseits trieben ihre wunderbar durchschnittlichen, normalen Kinder sie zur Verzweiflung mit ihrer Jammerei zur Schlafenszeit, andererseits hielten sie mich für seltsam und nicht normal. Ich verstand andere Menschen ebensowenig, wie sie mich zu verstehen schienen.
Und was Filme anging, so interessierten mich diese nicht. Denn die interessantesten Filme waren in meinem Kopf, und beim Einschlafen drückte ich die PLAY-Taste.
Ich war gerade erst vierzehn geworden, als meine Mutter anfing, sich Sorgen um mich zu machen.
Immerhin war ich alles andere als ein typischer Teenager, ziemlich introvertiert und still, doch ich machte keinen Ärger.
Ein Jahr darauf brachte meine Mutter meine kleine Schwester Lilian zur Welt. Sie war ein fröhliches Baby, ebenso lebhaft wie ihre Mutter, mit weichem, goldblondem Haar.
Ich kann mich erinnern, gerne mit ihr gespielt zu haben, als sie noch ein kleines Kind war. Doch je älter sie wurde, desto größer wurde die Distanz zwischen uns. Lily war genau wie alle anderen in ihrem Alter, laut und rebellisch, und ihren älteren Bruder fand sie einfach nur seltsam.
Nach ihrem Schulabschluss viele Jahre später wurde sie ein ehrgeiziges Mitglied einer großen Marketingfirma.
Ich für meinen Teil studierte Literatur und begann, Bücher für Kinder zu schreiben. Und da ich kein schlechter Zeichner war, illustrierte ich auch die meisten davon.
Obwohl ich nicht viel verdiente, hätte ich keinen Job finden können, der mich glücklicher gemacht hätte als dieser. Kinder waren die einzigen Menschen, mit denen ich mich verbunden fühlte. Denn Kinder konnten träumen, sie hatten noch nicht zugelassen, dass ihre Fantasie der unbarmherzigen Rationalität und dem logischen Denken zum Opfer fiel.
Trotz dieser Tatsache hatte ich nie eigene Kinder. Ich hielt mich für unfähig, in die Rolle eines Vaters zu schlüpfen, da ich immer wusste, was man von Eltern erwartete: Vernünftig sollten sie sein, mit beiden Beinen fest auf der Erde stehend. Nicht unbedingt gute Chancen für mich.
Trotzdem war mein Leben keinesfalls unglücklich. Ich schrieb eifrig weiter. Der Tag, an dem ich das erste gedruckte Exemplar meiner „Traumdeutung“ in den Händen hielt, war der schönste meines Lebens. Nun konnte ich mein Wissen mit jedem teilen, den es interessierte.
Ich kann mich an das Cover der Erstauflage in jedem Detail erinnern: Es war dunkelblau und zeigte ein verschwommenes Bild eines schweren Schreibtisches mit drei Porzellanvasen darauf. Doch der Raum, in dem der Tisch stand, hatte keine klaren Formen, und der Tisch und die Vasen auch nicht. Es war ein Bild, wie es leicht in einem Traum vorkommen konnte.
Der Titel war in dünnen, weißen Buchstaben gedruckt.
Um es kurz auszudrücken, ich war voll und ganz zufrieden mit dem ruhigen, konstanten Leben, das ich führte, mit der Arbeit an meinen Büchern.
Und dennoch sollte der Tag kommen, an dem genau dieses Leben, dass ich so sehr liebte, erschüttert werden und mich aus meinem Dauerschlaf erwecken würde.
Da waren meine spärlichen Bekanntschaften-sie „Freunde“ zu nennen wäre übertrieben-die immer wollten, dass ich zu diversen Klassentreffen kam. Das erste war fünf Jahre nach meinem Schulabschluss, und ich entschuldigte mich unter dem Vorwand, zu viel zu tun zu haben. Genau dasselbe tat ich auch zehn und fünfzehn Jahre nach dem Abschluss.
Und dann waren da meine Eltern, die von mir erwarteten, ein normales, gutbürgerliches Leben zu führen, mit einer Frau, zwei süßen Kindern und ein Haus im Grünen, die volle Ladung also.
Sie verstanden nicht, warum ich so zurückgezogen war und eine Barriere zwischen mir und der restlichen Welt errichtete. Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie mich nie wirklich verstanden haben, und ich konnte ihnen dabei auch nicht helfen. Denn sie waren alle zufrieden mit ihrem Leben, zufrieden damit, jedes Wochenende in der selben Bar zu sitzen, die selben Zigaretten zu rauchen und über dieselben unwichtigen Dinge zu reden, Jahr für Jahr.
Ich konnte es ihnen nicht begreiflich machen, und so zog ich mich zurück, verkroch mich in meinem privaten Reich aus Träumen, wo niemals etwas gewöhnlich, niemals etwas selbstverständlich war, und es war nicht ungewöhnlich für mich, zwölf Stunden oder mehr pro Tag zu schlafen. Und in der Nacht, wenn es still und friedlich war, arbeitete ich an meinen Büchern und Illustrationen. Einmal fing ich sogar an zu malen, ich versuchte, den Zauber meiner Träume auf der Leinwand einzufangen wie vor so vielen Jahren auf dem Papier meines Traumtagebuchs. Doch zu Ergebnisse waren unzureichend, ja beinahe lächerlich. Und so hörte ich bald damit auf.
Zwanzig Jahre nach meinem Abschluss bekam ich einen Brief mit einer Einladung zum nächsten Klassentreffen, und ich hätte dieses wie auch alle anderen dafür wegen jedem auch noch so einfachen Grund abgesagt, der mir ins Gedächtnis gekommen wäre.
Unglücklicherweise fand nicht ich den Brief, sondern meine Mutter, die mich an diesem Mittwochnachmittag in meiner Wohnung besucht hatte.
„Dieses Mal musst du gehen“, sagte sie mit Bestimmtheit, und ich begriff, dass ich immer noch der kleine Junge war, der sich nicht traute, ihr zu widersprechen.
Und so stieg ich drei Wochen später, angetan mit meinem besten Anzug, in ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse des Klassenkollegen, der das Treffen arrangiert hatte.
Ich betrat das große, gemütliche Haus und roch den schwachen Geruch von Räucherstäbchen, höchstwahrscheinlich Pfirsich.
Und dann sah ich sie alle, um den großen, soliden Holztisch sitzend und Rotwein trinkend. Da war Mary, und da waren auch Rob, Tina und Mike und all die anderen.
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mir all ihre Namen gemerkt hatte, sowie man sich wichtige Jahreszahlen für den Geschichteunterricht merkt. Man sieht es an als eine Pflicht. Als essentiell, ohne dass es einen jedoch persönlich betreffen würde.
Deshalb war ich überaus überrascht, als sie alle aufstanden, auf mich zukamen, mir die Hände schüttelten und mir auf die Schulter klopften.
Es war, als würde etwas, das ich schon lange vage bemerkt hatte, plötzlich greifbar werden würde.
Die ganze Nacht lang unterhielten wir uns über alles Mögliche, über unsere Schulzeit, über Reisen, Ehefrauen, Ehemänner und Kinder, Politik, kaputte Rasenmäher und Kochrezepte.
Als ich um drei uhr Früh vor dem Garten meines Hauses stehenblieb, fiel mein Blick auf den Briefkasten, auf die Blumenbeete und die Einganstür, und ich sah das alles und betrachtete es, als würde ich es zum ersten Mal sehen.
Seltsam beschwingt ging ich hoch in meine Wohnung. Doch der seltsame, blaue Schleier legte sich über mich, als ich mich wieder in meiner vertrauten Umgebung befand. Die letzten paar Stunden mit meinen ehemaligen Klassenkollegen waren plötzlich in weite Ferne verschwunden, sie erschienen mir unrealistisch.
Fast automatisch legte ich mich aufs Bett und schlief ein.