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Der Schnapsflaschenträger
Der Schnapsflaschenträger
Der alte Mann betrachtete die an ihm vorübergehenden Menschen nicht mehr. Es war immer das Gleiche, abgesehen von einigen Ausnahmen, versteht sich. Alle gingen sie an seinem Logenplatz vorbei, an ihm, der sie sitzend mit Blick über den gesamten immergrauen Platz unbemerkt beobachtete. Sie schienen nichts von seiner Existenz zu wissen und dennoch erwiderten sie jeden seiner glasigen Blicke mit Nicht-Beachtung, was ihm spöttisch vorkam. Den Menschen ging es gut, zumindest hatten sie kein schlechtes Gewissen, andernfalls würde ihm hin und wieder ein Geschäftsmann einen Groschen in den braunen, abgenutzten Hut werfen oder eine schon ergraute Frau, die in der Nähe wohnte, würde ihm ein karg belegtes hartes Brot bringen, das sie selbst nicht mehr essen würde. Manchmal fanden sich dennoch einige Pfennigstücke in seinem Hut, geworfen von mutterüberredenden Kindern, deren Eltern es zu peinlich war, zollfrei zu passieren. An diesem Tag aber sah er keine Kinder auf dem Platz, offenbar hatten die Mütter keine Lust, überredet zu werden. Vielleicht lag es auch an den tristen Wolken, die den Himmel versteckten, drohten, eine Welle der Melancholie zur Erde zu senden, erste Kundschafter sogar schon geschickt hatten.
In den Armen des alten Mannes lag wohl behütet und einem Säugling gleich, eine bäuchige Flasche, das Etikett verblasst, schon mehr als die Hälfte des Inhalts die alte Kehle seines Besitzers geglitten. Wäre die Flasche leergetrunken, so würde der Trinker sie auffüllen, dann würde er sie wieder leeren, und dann wieder füllen, immer in der Angst, das Geld würde beim nächsten Mal nicht mehr reichen.
Die Passierenden sahen Mann und Flasche, sahen einen Trinker, der, vom Alkohol abhängig, sein weniges Geld in die Zerstörung seiner Gesundheit investierte. Der Alte wusste es besser, denn nur Sorglose, die mit ihrer bescheidenen, fast schon erbärmlichen Existenz zufrieden waren, sahen in seinem Getränk, im Schnaps, einen Feind. Außerdem Menschen, die noch nie gefroren hatten. Schnaps definierte sich nicht über sich selbst, er definierte sich über denjenigen, der ihn trank, dessen war sich der Mann gewiss. Er trank keinen Alkohol, er trank seine Erinnerungen, er trank Erinnerungen; trank von seiner Frau und seinen Kindern, trank von seinen Kameraden; er trank seine Ehrungen. In der Flasche befanden sich all sein Besitz, all seine Liebe, alles ihm Teure. Genoss er zu ausgiebig, wurde er, der seine Flasche stets mit sich trug, schnell euphorisch und trank gelegentlich auch wenige Tropfen einer rosigen Zukunft.
Doch nun war seine Flasche leer. Sein Medikament half nicht mehr. Die Gegenwart kettete den alten Mann an sich. Ihm blieb ihm nur noch der verschwommene Blick. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die erst wenigen, dann zahlreicher werdenden Regentropfen. Er glaubte, dass wenigstens der Himmel ein klein wenig Mitleid hatte. Andächtig tippte der Himmel mit seinen feuchten, schmalen Fingern auf die verblassten, verfransten Ordensbänder des Alten. Den Menschen würden die Bänder, hätten sie sie denn jemals bemerkt, genauso nutzlos erscheinen wie ihr Besitzer.
Der mitfühlende Regen war aber nicht Balsam genug, um über die inzwischen wieder leere Flasche hinwegzutrösten. Der Mann griff unsicher in die tiefe, viel zu leere Tasche seiner Jacke und suchte nach den letzten Groschen, bis schließlich nichts mehr zu erreichen war. Langsam stand er auf, machte sich auf den Weg, seine Flasche tragend, neue Träume zu kaufen.