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Der Schneeballmörder
Mietze, Mietze? Wo bist du, Mietze? Am Morgen eines Sommertages in den Schulferien meiner Kindheit, weckte mich dieses ständige Wiederholen dieses Namens und die piepsige Stimme meiner Schwester aus meinem Schlaf. Sie war ein kleiner, trotziger Wildfang von damals 6 Jahren. Sie hatte rotes, lockiges Haar und eine porzellanfarbige Haut, die umso weißer schien als das dunkle Sommerkleidchen das sie damals trug ein sehr starker farblicher Kontrast dazu war.
Ein paar Monaten zuvor hatten meine Eltern, um uns beiden einen sehnlichen Wunsch zu erfüllen, eine Katze mit nach Hause gebracht. Ich war damals zwölf, und ich war der, der ihr einen Namen geben durfte. Und da es eine wunderschöne Perserkatze mit langen weißen Haaren war, nannte ich sie Schneeball. Nichts aber hätte meine Schwester bewegen mögen, auch mal die Gedanken anderer zu akzeptieren, wenn sie den ihrigen zuwiderliefen. So nannte sie die Katze unbeirrt und von Anfang an immer nur Mietze. Damals, an jenem Morgen, hörte ich diesen Namen immer und immer wieder und er verriet mir, dass man sie zu vermissen schien. Katzen sind schwierige Tiere, und manchmal tun sie eben unerwartete Dinge. Ich kannte den Freiheitsdrang von Schneeball und so war ich aufs erste weder verwundert noch in Sorge, als ich die Bemühungen, sie wiederzufinden, registrierte.
Nach dem Frühstück ging ich ich in der Absicht, mit einigen Freunden Fußball zu spielen, hinunter und wollte zu der Wiese vor unserem Haus, die für unsere Zwecke gerade der richtige Ort war. So weit kam es aber nicht, nicht an diesem Morgen. Direkt vor der großen Eingangstüre unten, lag Schneeball da, von vier Pfeilen durchbohrt und angesichts der Körperhaltung und des Ausdrucks in ihrem Gesicht zu Tode gequält. Die erste Reaktion war, nachdem ich mich soweit vom Schock erholt hatte, dass ich mich wieder bewegen konnte, nach oben zu laufen um es meinen Eltern mitzuteilen. Dann aber, später, fand ich es doch reichlich seltsam, dass die Katze da lag, da, wo jeder der das Haus verließ oder hineingelangen wollte, sie hätte sehen müssen. Eine derart gequälte Kreatur hätte doch für viele im Haus hörbare Schmerzenstöne von sich geben müssen. Und wer ließ sich an einem so öffentlichen Platz, Zeit um eine Katze mit vier Pfeilen zu bearbeiten? Am meisten schmerzte mich die Frage, welchen Grund es wohl geben mochte, sich so zu verhalten. Es stellte sich also die Frage nach dem Motiv. Und da ja niemand etwas von dem Tod dieses Tieres gehabt haben konnte, kamen unweigerlich Spekulationen in Gang, es wären sicher Jungs aus der Nachbarschaft gewesen, die meiner Schwester oder mir weh tun wollten. Damals, schon Jahre vor dieser Sache aber, kam ich mit einem mir bis dahin völlig Neuen in Kontakt, einer völlig ziellosen und grundlosen Grausamkeit in der Gestalt eines Jungen. Diesen Jungen, der etwa so alt wie ich selbst war, hatte ich sofort in Verdacht, weil er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, andere, schwächere Kinder zu quälen. Er war ein stämmiger Junge mit kurzen, blonden Haaren, grinste immer so, als hätte er gerade etwas angestellt, oder vor, es zu tun. Er wohnte in unserem Haus, zwei Stockwerke über uns. Ich war mir sicher, dass er es gewesen sein musste und dachte den halben Tag lang über ihn nach.
Zwei Häuser weiter wohnte ein Tierarzt, der sich die Katze nach ihrem auffinden gleich angesehen hatte. Am nächsten Tag, als ich soweit gefasst war, ging ich zu ihm rüber um seine Meinung zu hören. “Ich hatte den Eindruck,” sagte ich, “dass der Pfeil der seitlich in ihrem Bauch steckte der erste war, stimmt das?” “Der Körperhaltung nach war es wohl so,” sagte der Arzt, der sich in diesem Fall wohl eher als Kinderpsychologe fühlte und mir helfen wollte, indem er mir das Gefühl gab, mich ernst zu nehmen. “Warum spielt das eine Rolle?” “Weil der Pfeil sie ganz durchbohrte. Der Bogen ist wahrscheinlich nicht verwendet worden. In der Nacht nicht, weil die Beleuchtung bei uns zu schlecht ist, und am Tag nicht, weil das jemand hätte sehen können. Wer die Katze getötet hat, hat nur den Pfeil benutzt und musste sie an die Wand oder gegen ein Hindernis gepresst haben, damit der Pfeil eindringen kann. An der Wand vor unserer Tür gab es keine Blutspuren.” Der Arzt stand auf und war plötzlich ziemlich nachdenklich. So sehr schien ihn die Sache dann doch nicht bewegt zu haben, dass er sich darüber Gedanken gemacht hätte. Dann wurde ihm aber klar, dass ich Recht hatte, dachte ein bißchen nach und sagte dann wieder ruhig. “Na ja, man kann sich ja denken, dass sie nicht so öffentlich getötet worden ist, und natürlich kann man sie auch so auf den Boden gedrückt haben, aber das ist unwahrscheinlich, da hast du schon Recht.”
Ich ging danach vom Doktor wieder zu unserem Haus und dachte, dass eigentlich nur unser Keller der ideale Ort dafür sein mochte, man hätte selbst laute Schreie eines Menschen nicht hören können, da er gleich durch zwei dicke Türen vom Gang getrennt war. Ich ging die Kellertreppe hinab und konnte auf einer der unteren Stufen einen kleinen Blutfleck erkennen. Öffnete die Kellertüren, ging entlang der Kellerabteile auf und ab und bemerkte nichts Auffälliges, ging dann aber zielstrebig zum Abteil der Familie des bereits erwähnten Jungen. Zwei Meter davor konnte man erkennen, dass jemand einen Fleck entfernt haben musste und an der Wand dieses Abteiles sah ich einen weiteren kleinen, dunkelroten Fleck. Ich erzählte meinen Eltern meine Entdeckungen, die von diesen sofort überprüft wurden.
Erst viele Jahre später erzählte man mir, wozu meine kriminalistischen Erstversuche geführt hatten. Martin so hieß der Junge, bekam zu Weihnachten Pfeil und Bogen geschenkt und wie zu erwarten war, fehlten vier Pfeile. Er musste an jenem Morgen die entwischte Katze gesehen und in den Keller in sein Abteil getrieben haben. Da quälte er sie, drückte sie gegen die Wand, tötete sie, versuchte dann, die Spuren zu verwischen und legte sie ein Stück vor unserer Haustüre hin. Die Polizei wurde im Zuge Ihrer Ermittlungen, wegen Sachbeschädigung im übrigen, auch auf Martins Eltern und einer Reihe von Verletzungen bei Martin aufmerksam. Offensichtlich hatten es Ärzte, denen seine vielen blauen Flecke aufgefallen sein musste, vorgezogen, abenteuerliche Geschichten zu glauben, statt, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, die Polizei wegen Kindesmißhandlung zu informieren. Ich habe mich nie bemüht und war auch nie Willens, seine Handlungen im Kontext zu sehen, weil meiner Ansicht nach manche Dinge nicht damit zu rechtfertigen sind, dass es einem selbst schlecht ergangen sein mag. Sicherlich spricht es auch nicht für mich, solche Gedanken zu haben, aber ich war keineswegs froh jemandem, der es genoß, andere zu quälen, gleich welchen Grundes, geholfen zu haben seinem eigenen Gefängnis zu entrinnen.
Schneeball starb, um seinem Mörder mit seinem Tod ein neues Leben und einen neuen Anfang zu schenken.