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Der Schornsteinfeger

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03.08.2003
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Der Schornsteinfeger

Der Kies knirschte unter Georgs Schritten. Sein Rücken schmerzte kaum noch. Da waren nur winzige Nadelstiche, die er registrierte wie etwas, das ihn nichts anging, denn aus der Mitte des Kurparks starrte das schwarze, mit Lichtpunkten gesprenkelte Auge des Teiches ihn an und wollte, dass er näher kam. Er kannte diesen Blick. In den vergangenen Tagen hatte ihn sein Weg oft hierher geführt.
Weiden ließen ihre Zweige hängen. Zwischen ihnen schimmerten die hell erleuchteten Fenster des Kurhauses.
Von der Stadt her hörte Georg schon vereinzelte Böllerschüsse und musste an die Jahreswechsel denken, die er mit seiner Frau verlebt hatte.
Auf einer Silvesterparty hatte er Margit kennen gelernt. Sie hatten eng aneinander geschmiegt getanzt. Zu welcher Musik? Er wusste es nicht mehr. Dafür fiel ihm eine andere Szene ein. Auch in einer Silvesternacht. Er hatte im Bad in die Toilette gekotzt, bis nur noch gelbgrüner Schleim kam. Dann erst hatte er gemerkt, dass sie seinen Kopf hielt, damit er sich nicht verletzte.
Margits Worte jedesmal um Mitternacht. Nicht „Prosit Neujahr“ oder „Ein gesundes und glückliches Neues Jahr“ oder etwas ähnliches, sondern diesen Satz, den sie nie wieder sagen würde.
Glück, soviel er tragen könne, hatte Margit ihm jedesmal gewünscht. Er hatte diesen Wunsch immer als seltsam empfunden. Als ob Glück eine Last wäre, hatte er gedacht. Heute wusste er, die Last war erst spürbar, wenn sie verschwand. Unversehens spürte er Tränen aufsteigen und blinzelte sie fort.
Konnte er von vorn anfangen?
Während Georg zurück zum Kurhaus ging, dachte er an Claudia.

Sie wartete schon an der Eingangstür zum großen Kursaal und sah umwerfend aus. Das elegante Kostüm betonte ihre Figur, die Bluse war bis oben zugeknöpft, die blonden Haare streng nach hinten gekämmt. Den passenden Kontrast lieferte der alberne spitze Silvesterhut mit der unwahrscheinlich breiten Krempe. Sie hatte offenbar einen Faible für Hüte. Der, den sie bei der Stadtbesichtigung vor einer Woche getragen hatte, war ihm an ihr als erstes aufgefallen.
Hallo, da sei er ja endlich, begrüßte sie ihn. Die Party gehe gleich los.
Sie musterte Georg kritisch. Viel zu solide. Heute sei doch Silvester.
Im Nu hatte sie eine Papierschlange zur Hand mit der sie seinen dunklen Anzug aufpeppte. Er musste lächeln.
Dafür sehe sie aus wie Professor McGonagall, sagte er.
Sie zog einen Schmollmund. Er sei uncharmant, wie üblich, und solle froh sein, dass er nicht zur Strafe in einen Frosch verwandelt werde. Dann lachte sie.
Er mochte dieses Lachen, er mochte ihre erfrischende Art. Diese Frau schaffte es, seine dunklen Gedanken einfach wegzuzaubern, als hätte es sie nie gegeben. Ohne viel Federlesens hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn an ihren Tisch, wo schon die Krügers warteten. Frau Krüger war eine kleine quecksilbrige Frau, die ihre Hüftoperation auskurierte, ihr Ehemann ein Mathematikdozent, der sich unentwegt die ewig rutschende Brille nach oben schob und meistens schwieg. Zu dritt kämpften sie tapfer gegen sein Schweigen an. Frau Krüger war viel herumgekommen und erzählte aus ihrer Zeit als Reiseleiterin, Georg verfügte über einen reichen, wenn auch etwas angestaubten Vorrat an Witzen, und Claudia zündelte mit Tischfeuerwerken. Georg riss sein Glas um, als er ihr helfen wollte.
Eine Zauberin mühte sich auf der Bühne ab, eine schier unglaubliche Anzahl miteinander verknoteter Taschentücher aus ihrem Mund zu ziehen. Überhaupt schwebte zusammen mit bunten Luftballons und Girlanden ein besonderer Zauber über dem Saal. Gläser klirrten, Menschen lachten. Hatte wirklich noch vor wenigen Minuten ein Teich ihn angestarrt? Absurd! Nun sahen Georg zwei helle Augen an, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie blau oder grau sein wollten.
Jede der Luftballontrauben sei eine endliche abzählbare Menge, erklärte Herr Krüger mit schwerer Zunge.
Sie flohen auf die Tanzfläche. Lag es am Sekt, lag es an diesem Zauber – Georg fühlte sich ganz leicht und hatte den Verdacht, dass Claudias Augen daran schuld waren. Er wirbelte Claudia über das Parkett und entschuldigte sich, weil er ihr auf den Fuß getreten war.
„Tollpatsch!“, sagte sie lächelnd.
Später gossen sie Blei. Claudia hielt einen unförmigen Bleiklumpen vor das Kerzenlicht und behauptete, der Schatten sei ein Herz. Dieser Blick von ihr!
In ihrem Zimmer war es eng. Claudia schlug ihre langen Beine übereinander. Sie waren schlank und muskulös.
Claudia fragte Georg, ob ihm ihre Beine gefielen.
Sie seien perfekt, entgegnete er.
Er dürfe ihre Beine auch anfassen.
Als er aufstand, riss er die Stehlampe um. Claudia kicherte auch noch, als er begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Dann schloss sie ihre Augen. Ihr Haar hatte sie gelöst, es fiel in Wellen auf ihre Schultern, wunderbar dicht und glänzend. Margit hatte kastanienbraune Haare gehabt. Bis sie ihr zuletzt in großen Büscheln ausgefallen waren.
Er könne jetzt nicht. Es tue ihm leid, sagte er.
Was denn los sei? Habe sie irgendwas falsch gemacht?
Es habe nichts mit ihr zu tun, sagte Georg

Er fand sich im Kurpark wieder und ging wie vor knapp vier Stunden am Ufer des Teiches entlang. Der Teich starrte ihn an und Sterne spiegelten sich auf dem Wasser. Jetzt waren auch einige künstliche darunter. Das große traditionelle musikalische Höhenfeuerwerk – wie es das Programm der Kurleitung angekündigt hatte – schien begonnen zu haben. Musik wehte zu Georg herüber.
Er redete sich ein, keinen Grund dafür zu haben, dennoch kam er sich schäbig vor. Er hätte nicht mitgehen sollen, aber irgendetwas in ihm hatte gehofft, wider besseres Wissen gehofft, er könnte an diesem Abend finden, was er vor einem Jahr für immer verloren hatte. Er fühlte sich müde und ausgebrannt.
Schlafen ... vielleicht auch träumen – die Worte des dänischen Prinzen kamen ihm in den Sinn. Georg blieb am Rand des Teiches stehen. Das Wasser benetzte seine Schuhspitzen.
Es wäre ganz einfach, dachte er und trat einen Schritt nach vorn. Das in seinen Schuh eindringende Wasser war entsetzlich kalt.
Das Knirschen von Kies ließ ihn sich umdrehen. Ein Schornsteinfeger näherte sich. Hastig zog Georg den Schuh wieder aus dem Wasser und vergrub die Hände in den Taschen. Der Schornsteinfeger blieb stehen.
Er wolle allein sein, sagte Georg. Ob der Herr Schornsteinfeger nicht zu den anderen Gästen gehen könne. Hier bei ihm sei nichts zu holen.
Nein, könne er nicht, sagte der Schornsteinfeger. Er befinde sich gerade jetzt genau am richtigen Platz. Im schwachen Schein der Laterne am Wegrand war sein Gesicht nicht zu erkennen.
Er solle gehen, sagte Georg.
Nicht, bevor er nicht drei Ruten von seinem Besen abgebrochen habe. So sei es Sitte.
„In Gottes Namen“, murmelte Georg, trat auf den hartnäckigen Glücksbringer zu und brach die Ruten vom Besen, wobei er sich einen Splitter einriss.
Na also, sagte der Schornsteinfeger, und Glück, soviel er tragen könne. Georg, der in seinen Taschen nach Geld gewühlt hatte, erstarrte.
„Was?“, fragte er.
„Ein gesundes und glückliches Neues Jahr“, sagte der schwarze Mann fröhlich. Georg blickte ihm nach.
Vor der hell erleuchteten Eingangsfront des Kurhauses stand eine einsame Gestalt mit einem komischen Hut und sah zu ihm herüber.
Es war an ihm, den ersten Schritt zu tun.

 

Hallo Sturek,

das ist eine nette Geschichte eines Mannes, der es endlich schafft, sich von seinen Erinnerungen zu lösen und nach vorne zu schauen. Natürlich muss man dabei die Personen, die einem etwas bedeutet haben, vergessen. Natürlich ist es an "solchen Tagen"- wie hier Jahresende- schwer. Aber wie heißt es so schön? Das Leben geht weiter. Schön, dass er es erkennt/ dazu gebracht wird, es zu erkennen und sein Leben wieder in die Hand nimmt.

Die melancholische Grundstimmung hast Du gut eingefangen. Und flüssig geschrieben ist die Geschichte sowieso. Keine Stolpersteine, die mir aufgefallen wären.

Liebe Grüße,
gori

 

Hallo Gori,

danke dass du dir diese schon etwas ältere Geschichte von mir vorgenommen hast. Ja, es stimmt. Es geht hier ums Loslassen und Nach-Vorne-Schauen und ich hatte versucht, eine gewisse Melancholie in den Text zu bringen.
Beim nochmaligen Durchlesen meiner Geschichte stört mich selbst jetzt etwas die übertriebene Verwendung der indirekten Rede, aber kurz vor dem Schreiben hatte ich den Roman "Die Vermessung der Welt" von Kehlmann gelesen, in dem fast keine wörtliche Rede vorkommt...

Grüße
Sturek

 

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