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Der Schwan
Es geschah nichts Besonderes.
In der Wohnung unter mir bellte ein Hund. Zuerst durchbrach sein Kläffen die Monotonie, dann vereinte es sich irgendwann mit ihr.
Ich beschloss, einen Spaziergang im Schnee zu unternehmen. Vom Fenster aus hatte ich die herabrieselnden Flocken den gesamten Tag lang fasziniert beobachtet, aber zu ihnen gekommen, das war ich nicht.
Es ist schwer, den Beobachterposten zu verlassen, weil Teilwerden immer auch heißt, mitwirken zu müssen.
Trotzdem zog ich mir Mantel und Handschuhe an, huschte wie ein Gespenst durch den düsteren Hausflur, öffnete die schwere Tür und betrat die auswärtige Welt.
Die Autos fuhren langsam, waren auf der Schneedecke kaum zu hören. In diesen Tagen wurde es schon früh dunkel und das orange Licht der Laternen brachte mich ins Schwärmen.
War es denn schon wieder Weihnachten?
Es lag eine Menge Zeit zwischen dem bewussten Erinnern an fröhliche Tage, und der eingebildeten Wunschphantasie, die ich mir als fröhlich zurechtgelegt hatte. Vielleicht aber existierte der Unterschied auch überhaupt nicht. Wer sich mit solchen Sachen beschäftigt, wird kaum herrliche Tage verdrängen.
Wild durcheinanderwuselnde Stimmen. Einige Kinder tobten herum, bewarfen sich mit Schneebällen. Ich lächelte, verspürte den Drang, glücklich zu sein, an meine Kindheit zu denken. Doch das alles aufsaugende schwarze Loch hatte sich bereits an ihr zu schaffen gemacht, und so blieb mir nur der triste Rest der alten Galaxie, die noch nicht verschluckt worden war.
Mit gedämpfter Euphorie stapfte ich in Richtung Stadtpark. Die monströse Skyline Frankfurts baute sich drohend vor mir auf. Dort gab es das zuckende Leben, nicht das Träge. Ich wollte aber langsam sein, und so blieben die Wolkenkratzer dort, wo sie hingehörten: Am Horizont.
Im Park war es noch leiser. Die Stille empfing den alten Mann mit offenen Armen. Er freute sich; ich freute mich.
Leise rieselt der Schnee
Auf einer Bank saß ein Obdachloser. Der Alkohol hatte ihn zu einem Mann meines Alters gemacht, obwohl ich ihn jünger schätzte. Ich beneidete ihn darum, dass das schwarze Loch nicht bloß seine Erinnerungen, sondern auch die Erinnerungen an die Erinnerungen verschluckt hatte. Er kannte nur noch das Jetzt.
Wie schön musste es sein, dem Vergangenen nicht weiter nachtrauern zu müssen. Den Mut auszusteigen, den hatte ich nie gehabt. In gewisser Weise war dieser Mann mein Held.
Nach Elfriedes Tod, da hatte ich mit dem Trinken aufgehört; klare Gedanken wollte ich fassen.
Was blieb, war die Wohnung. Und ein Sohn.
Die Treffen mit dem Sohn waren teuer, kosteten sie doch endlose Wochen in der Wohnung, die ich allein verbrachte.
"Hast du was Geld", wollte der Obdachlose wissen.
"Mein Geld ist das Warten."
"Davon kann ich mir nichts kaufen." - Er kratzte sich am Bart.
"Und von dem Geld, das du haben willst, kann ich mir nichts kaufen."
Ich gab ihm alles, was ich im Portemonnaie hatte. Bevor er sich bedanken konnte, ging ich hastig weiter.
Irgendwann erreichte ich den kleinen See, und da war er, der Schwan.
Im Grunde völlig ausgeschlossen. Hier gab es keine Schwäne. Trotzdem war er da.
Elegant und anmutig glitt er über das flache Wasser, das kurz vor dem Gefrieren stand.
Ich hätte an meiner Gesundheit zweifeln sollen, tat aber statt dessen das einzig Richtige: Ich sah weg; weg von dem See.
Weil ich wieder einmal nicht sehen wollte, was nicht ist.
Als ich den Blick zurück zum Wasser richtete, war der Schwan verschwunden, doch das Zeichen hatte ich verstanden.
Dann kamen sie plötzlich näher, die Wolkenkratzer, und irgendwann gab es die Skyline nicht mehr. Wenn man den Beobachterposten verlässt, muss man auch zwangsläufig Teilwerden und mitwirken.
Es gab da dieses kleine Lokal von früher, und als mir bewusst wurde, dass die Erinnerung noch da war, da verschwand der Held von der Parkbank. Jetzt gab es einen neuen Hauptdarsteller.
Als ich tief in der Nacht zurück in meine Wohnung kam, da zerknüllte ich den Abschiedsbrief, warf ihn in den Mülleimer, und lächelte.
Zum ersten Mal seit langem lächelte ich, ohne dabei in Vergangenem zu ertrinken.