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Der schwarze Holunder

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13.06.2002
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Der schwarze Holunder

Prüfungsamt, Prüfungsbogen, mündliche, schriftliche Examen, Bleistift, kalter Schweiß und Angst, obendrein Theater zu Hause. Nachklausur: Peter, Anne, Thorsten, Volker, Sabine, Benjamin und Mark, wer hätte das gedacht, waren auch durchgefallen.
Die deutschen Hochschulen, die in den siebziger und achtziger Jahren aus dem Boden gestampft wurden, waren, und werden wohl bis in alle Ewigkeit Betonbunker für Angst und Schrecken, für Forschung und Leere bleiben. Drohende, riesige Klötze, graue Wohnheime, grauer Regen von September bis April; Dunstglocke im Juni, Juli, August, graue Bildung, graue Zukunft. Fahle Gesichter in den Instituten, Aschemasken und Spitzmäuse, die in die Hörsäle strömten.
Ein bunter Vogel, der quasi im botanischen Garten der Universität zu Hause war, passte nicht ins uniforme Bild der grauen Masse. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ihn auch die anderen Biologiestudenten den "Schwarzen Holunder" nannten. Ich jedenfalls habe den Akademischen Oberrat, der den botanischen leitete und zu jeder Zeit einheimische, alpine oder tropische Blüten und Früchte vorzeigen konnte, so genannt.
Die Teilnahme an Exkursionen war Pflicht und Voraussetzung zur Erlangung des Botanikscheins, und der Schein war Voraussetzung für die Anmeldung zur Zwischenprüfung. Daher sind fast alle von uns dem Rat in die Fauna gefolgt. Übernächtigt von der Disco stiegen wir am Samstagmorgen mürrisch und verkatert in den Reisebus, der uns ins nächste Biotop brachte. Etwa fünfundzwanzig Irrlichter im gelben Ostfriesennerz schwirrten mit den berühmten Botanisiertrommeln bewaffnet aus und zerstampften und zertraten bald jedes Pflänzchen, das wir einsammeln und bestimmen sollten.
Sambucus nigra, der schwarze Holunder, gehört zur Familie der Geißblattgewächse, er ist ein Strauch oder Baum mit gelbweißlichen, stark duftenden Blüten in Trugdolden und violettschwarzen Beeren. Das hatte ich in der begleitenden Vorlesung gehört, aber zu einem Ohr rein und zum anderen hatte ich nicht mitgeschrieben, sondern die Physikaufgaben aus Elisabeths gutgeführtem Übungsheft abgeschrieben. Nun stand ich also inmitten der Botanik vor dem schwarzen Holunder und sollte erklären, wie man den schwarzen vom roten, der im Gebirge vorkommt und auch Traubenholunder genannt wird, unterscheiden kann. Ich kam mit meinen Botanikkenntnissen auf den ersten grünen Zweig, als er einen vom Strauch abbrach und mir zeigte, dass der schwarze Holunder weißes Mark hatte. »Sambuca racemosa, der Traubenholunder mit den roten Steinfrüchten, der in meiner Heimat vorkommt, hat dunkleres Mark«, erklärte er mir. Dass der Schwarze Holunder Mark und Rückgrat besaß, ein witziger Mann war, ein Experte auf seinem Gebiet und alles andere als ein akademischer Trottel, der im bayrischen Trachtenkostüm durch die Botanik latschte, lernte ich im nächsten Sommersemester. Meine Kenntnisse in spezieller Botanik, Morphologie und Pflanzenphysiologie waren immer noch unter aller Sau. Ich entschloss mich zur Flucht nach vorne und nahm einen Hilfsjob im Institut für Botanik an, um so meine Lücken zu schließen. Die Idee war nicht schlecht, und ich habe auch Dinge gelernt, die nicht in den Vorlesungen gebracht wurden, aber der Chef "vons Janze" der Leiter des Instituts, Professor Geßler war eine übler, machthungriger, autoritärer Giftzwerg, der jeden in Seinem Institut terrorisierte. Studenten jagte er in Panik, seinen Mitarbeitern zeigte er immer den längeren Arm, den Knüppel der Macht und den Kollegen in der Fakultät versuchte er, wann und wo er konnte, eins auszuwischen. Seine rechtsextreme Gesinnung kam nicht nur in der einschlägigen Presse zum Ausdruck, sondern auch in seinen Publikationen und Vorlesungen. Ich hatte kaum unter ihm zu leiden, denn erstens ging ich ihm aus dem Weg und zweitens erschien er zu den Praktika und Übungen, die ich, aufgrund meiner Hilfskraftstelle vorbereiten und betreuen musste, allein um die Studenten auseinanderzunehmen, bis die Mädchen heulten und die Jungs den Kursus schmissen. Geßler war der direkte Vorgesetzte vom Schwarzen Holunder und der war ihm ein Dorn im Auge. Nicht nur weil der kauzige, aber doch recht schmucke Holunder bei den Studenten beliebt war, nicht nur weil er bessere Fachkenntnisse hatte als der Professor, sondern und vor allem weil Geßler ihn nicht rausschmeißen konnte, denn die Stelle als Akademischer Oberrat war auf Lebenszeit. Der Schwarze Holunder hätte schon silberne Löffel klauen müssen, dann hätte ihm Geßler etwas anhaben können. Geßler sucht die silbernen Löffel, wartete auf ein Vergehen, auf eine Fehler, um ihn in die Pfanne zu hauen, um einen Grund für seine vorzeitige Entlassung zu haben.
Eines Morgens kam der Schwarze Holunder niedergeschlagen, mit den traurigsten Augen der Welt, ins Seminar. Da stand er nun vor uns in seiner Knickerbocker und dem grünen Jankerl, hob die Arme, ließ sie wieder sinken und seufzte klagend: »Einfoch aussi rupft, homs meine Pflanzen, die schönen Exemplare! So ein dammischer Hirnbrannt!«
Es stellte sich heraus, dass es sich um die schönen Exemplare von Anhalonium lewinii handelte, also von der mexikanischen Kakteenart, die so voll von Meskalin ist, dass die drei entwendeten Pflanzen ausgereicht hätten, um die gesamte graue Universität für Tage in eine bunte Farbvision zu verwandeln.
Der Schwarze Holunder war so niedergeschlagen, dass er den Vorfall nicht zur Anzeige brachte. So war Geßler's Stunde gekommen. Zwanzig Polizisten in Uniform, Kriminalbeamte und die Drogenfahndung ließ Geßler in den botanischen Garten einmarschieren. Geßler machte gar keinen Hehl daraus, dass er seinen Oberrat verdächtigte. Er habe die Pflanzen gestohlen, um im Labor das Rauschgift zu extrahieren und es dann auf dem immer größer werden Drogenmarkt anzubieten oder für den Eigengebrauch zu verwenden. Die Zuschauermenge bei der Suchaktion der Polizei nach Indizien sprengte jeden Rahmen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Schaden, der im Garten durch Gaffer, Beamte und letztlich durch Geßler entstand, beträchtlich war. Wie der Schwarze Holunder sich fühlte, als er mitansehen musste, wie man ihm sein Paradies der Pflanzen zertrampelte, stand deutlich auf seinem Gesicht. Nachdem man Aufzeichnungen über sekundäre Pflanzenstoffe, zu denen das Alkaloid Meskalin zählt, in seinen Protokollbüchern gefunden hatte, wurde der Schwarze Holunder sichtlich nervös. Geßler wohnte als Leiter des Botanischen Instituts und als sachkompetenter Gutachter der Vernehmung bei. Wie er sich aufgeführt hat, wie er sich aufgebläht hat, habe ich selber nicht mitgekriegt, aber man sagte mir, der Zwerg lag wieder ganz vorn. Die Besprechung bzw. das Verhör war kurz nach elf zu Ende. Man hatte dem Holunder nahegelegt und so weiter und so fort... Der Dekan und der Rektor waren im Begriff das Sitzungszimmer zu verlassen, als ein Beamter in die sich auflösende Versammlung mit der Nachricht platzte, dass man die Kakteen auf dem Komposthaufen unversehrt gefunden hatte. Der Gärtner wusste von nichts und Geßler ward an diesem Tag nicht mehr gesehen.
Kurz nach diesem Vorfall erhielt der Schwarze Holunder eine Einladung zu einer Exkursion nach Neuguinea. Geßler versuchte ihm auch diesmal einen Strich durch die Rechnung zu machen und die Reise zu verhindern. Aber erstens hatte der Holunder Geld aus Drittmitteln und zweitens fiel die geplante Reise zwischen die Semester, so war der bayrische Oberrat frei von Lehrverpflichtungen. Dies hatte ich von Doktoranden am Lehrstuhl erfahren. Da ich nun häufig in den Gewächshäusern des botanischen zu tun hatten, ich musste verschiedene Pflanzen für die Labors des Instituts hochziehen, ergab sich die Gelegenheit mit ihm über seine Reise in die Tropen zu sprechen. Mich interessierte vor allem seine Ausrüstung und die Geräte und Messinstrumente, die er wohl mitnehmen musste. »Aber iwo, des braucht's net, i hob an Kopf, das reicht. Doch ein Schreibblock und ein Stift kann net schaden.« Bei dieser Gelegenheit nahm mich der Holunder zur Seite, kniff mit dem rechten Auge und bat mich auf die besagten Kakteen, die er wieder eingepflanzt hatte, während seiner Abwesenheit besondere Obacht zu geben. Ich versprach es ihm, worauf er mir den geheimen Ort in der Wüste Mexikos, in der Trockenzone des Treibhauses, zeigte, wo die Kakteen in schöner Blüte standen. »Dem Gärtner und dem Professor kann i net traun.« Das war das letzte, was ich von ihm hörte.
Nach etwa vier Monaten verbreitete sich das Gerücht bzw. die Nachricht, dass der Schwarze Holunder in den Urwaldsümpfen, etwa sechzig Kilometer von der Küste des Papua-Golfs, verschollen wäre. Anlass war der australische Zeitungsartikel, der für zwei Tage am schwarzen Brett aushing, aber dann, von wem weiß ich nicht, wieder entfernt wurde. Die Brisbane Post berichtete, dass ein deutscher Geobotaniker nicht ins Camp seiner australischen Kollegen zurückgekehrt sei. Ich habe den Artikel mehrfach gelesen. Die Kopie habe ich immer noch. Der Bericht gab nichts weiter her, als eben diese Information. Später erfuhr ich, dass er mit Airbooten und Hubschraubern gesucht wurde. In den darauf folgenden Monaten bin ich mehrmals im Sekretariat und auch im Dekanat gewesen, aber niemand wusste etwas. Fast jede Woche habe ich nachgeschaut, ob die Pflanzen noch da waren. Ich zählte: eins, zwei, drei, o.k., und hops - ein kleiner Ableger. Es vergingen Wochen, es vergingen Monate.
Dann, ich erinnere mich noch ganz genau, weil ich der erste war, der erste vom ganzen Institut, der ihn wiedersah. Das Bild werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Selbstverständlich wieder in der Knickerbocker und dem Trachtenjäckchen, einem grünen Hut mit Eichelhäherfeder, braungebranntem Gesicht und zwei riesigen Jutesäcken über die Schultern gebuckelt, kam er in den Präpariersaal, der an das letzte Gewächshaus im botanischen Garten angrenzte. »Bursche«, sagte er zu mir, »i hob uns ganz schöne Pflanzen mitbrocht, herrliche Exemplare!« Damit setzte er die Säcke ab, griff in einen hinein, wühlte herum und holte schließlich eine dicke Knolle hervor. »Die wor mein Leibgericht, hat mi met Kohlehydraten und Eiweiß sehr gut versorgt, als ich im Urwald umherirrt bin. Kommst Du zur Party? Du und das ganze Institut könnt von den neuen Früchten kosten.«
Die Party
begann wie jede mit Einladungen und Vorbereitungen. Die Ankündigungen zum Vortrag, zum Reisebericht mit anschließendem Essen und geselligem Zusammensein, hingen überall aus. Die anderen Abteilungen des Fachbereichs Biologie wurden informiert. Das Besondere, der Clou sollte das Probieren tropischer Früchte und neuer Gemüsesorten sein. Außerdem, so hatte der Holunder es gewünscht und geplant, sollten Säfte und exotische Cocktails angeboten werden. Nachdem nun auch Ort und Zeit festgelegt waren, 20:00 Uhr, im kleinen Festsaal der Mensa, sprach mich der Holunder mit der Bitte an, ihm bei der Zubereitung der Speisen und Getränke zu helfen. Ich willigte ein, als er mir einige Leckerbissen und persönliche Erlebnisse seiner abenteuerlichen Reise nach Papua-Neuguinea versprach.
»San die Kakteen noch do?« Wir gingen rüber ins Gewächshaus, und ich zeigte ihm stolz die junge, stachelige Generation. »Wird Geßler auch zur Party kommen?« fragte ich ihn, nachdem er den Ableger gebührend bewundert hatte. »Ausschließen kann i ihn net, aber vielleicht verschluckt er sich an einem Kern oder einer der Säfte steigt ihm zu Kopfe. Viel trinken kannst von dem Zeug net, das hat's scho in sich.«
Und wenn er sich nun nicht verschluckt? Ich schaute mir die Kakteen an, überlegte und hatte die Idee.
Am Nachmittag vor der Party stand ich mit Beate, die mir bei den Vorbereitungen half, im Präpariersaal, schälte das Obst, zerhackte und zerkleinerte Früchte und Gemüse, würzte mit Kräutern und arrangierte Keimlinge, Blätter, Knollen, Zwiebeln und Rüben zu festlichen Platten, damit es auch ein Augenschmaus wurde. Zweimal schneite der Schwarze Holunder hinein, gab ein paar wissenschaftliche Erklärungen zu den verschiedenen Pflanzen und war sichtlich erfreut über die spontane Kreativität, die Beate und ich an den Tag legten. Als wir mit dem Pressen der Säfte fertig waren und die ersten Platten vom Personal der Mensa abgeholt wurden, ging ich rüber zu dem Plätzchen, wo der Peotl wuchs.
Der Ableger! Keiner außer dem Holunder und mir wussten von seiner Existenz. Die Pflanzen, die er mitgebracht hatte, konnten ebenso Alkaloide enthalten, die Halluzinationen hervorrufen. So dienen sie mir als perfekte pflanzliche Camouflage. Aber wird der Ableger ausreichen? Muss ich extrahieren, wie kann ich ihn verabreichen, wann tritt die Wirkung ein, wie ist zu dosieren, damit sich der Giftzwerg in eine Maus, einen Elefanten oder in eine sich schälende Apfelsine verwandelt? Das Resultat meiner Überlegung war ein frischer Kakteensalat in einer feinen Vinaigrette. Ich probierte zwei Streifen, verspürte aber keine Wirkung und brachte etwas enttäuscht die kleine Salatschüssel in den Saal und stellte sie zu den anderen Köstlichkeiten auf die lange Tafel des Büfetts.
Der Abend wurde ein voller Erfolg für den Schwarzen Holunder. Wissenschaft und Abenteuer wurden nach langer Zeit des Dornröschenschlafs wieder miteinander verknüpft und in den Köpfen und Herzen der interessierten Zuhörer wachgerufen. Für mich wurde er zu einer Zerreißprobe meiner Nerven. Ich konnte den Ausführungen des Holunders kaum folgen, habe nur mitgekriegt, dass er abgeschnitten von jeder Zivilisation im Urwald umherspazierte und die Pflanzen seinen Hunger und wissenschaftlichen Durst stillten.
Geßler war mies gelaunt, weil der Holunder im Mittelpunkt stand und er nichts daran ändern konnte und obendrein sich genötigt sah, Applaus zu spenden und Wohlwollen vorzutäuschen. Seine Miene hellte sich etwas auf, als Frau Dr. Rietschneider aus der Biochemie wippend auf ihn zuschritt. »Hallöchen!« Ich bin mir sicher, die beiden hatten was miteinander. Flüchtig stieg mir das Bild der walzenden, balzenden Walküre, die den Gnom im Liebesakt erdrückt, in meinen Kopf. Aber ich verbannte die Vorstellung schnell und bewusst, denn in wenigen Minuten würde das Büfett eröffnet werden.
Natürlich hatte ich eine Strategie entwickelt, um das Zeug an den richtigen Mann zu bringen, doch wer kann schon alle Eventualitäten abschätzen? Als die Fruchtcocktails gereicht wurden und auf den glücklichen Heimkehrer angestoßen wurde, hatte ich alle Mühe meine Nervosität unter Kontrolle zu bringen. Was passiert? Was passiert wenn, wie geht das ganze aus, auch wenn alles wie geplant abläuft?
»Sehr geehrter Herr Dekan, liebe Kollegen, liebe Gäste und Freunde, ich möchte Sie nun nicht länger mit trockenen Daten füttern, sondern Sie herzlich einladen die Früchte des Urwalds zu kosten. Keine Angst, niemand wird sich vergiften.« Jetzt war es so weit. Geßler und der Holunder gingen zum Büfett, tauschten einige Worte aus und nahmen sich dann Teller und Besteck. Ich stand schon auf meinem strategischen Punkt, links von der weißgedeckten Tafel, als sie sich näherten. Ich betete, jetzt bloß keine anderen Fresser, die sich auf die Sachen stürzen. Noch zwei Schritte, noch zwei Herzschläge, dann: »Zu was rät mir denn mein Oberrat?« fragte Geßler über seinen eigenen Humor lachend. Der Holunder zeigte auf das Gemüse, das wie gebackene Auberginen aussah. »Des is vorzüglich.« Bevor er weiterreden konnte, fiel ich im ins Wort. »Also Herr Professor Geßler, wir vom botanischen Garten haben alle Pflanzen nach Art und Familie bestimmt und dann die Speisen zubereitet. Den Salat hier müssen Sie unbedingt probieren. Das Beerensorbet ist auch sehr gut, ein leckerer Nachtisch. Ich gab ihm die Schüssel, er nahm sich vom Salat. Drei von den Auberginendingern beförderte ich mit einem breiten Kuchenheber auf seinen Teller und löffelte separat das Sorbet auf. Sobald er sich umgedreht hatte, stieß ich mein volles Glas vom Tisch. Alles schaute zu Boden, und ich ließ blitzschnell den Rest vom Meskalinsalat unter der weißen Tischdecke verschwinden. Beate schüttelte unverständlich mit dem Kopf, behob aber den gläsernen Schaden mit spitzen Fingern ohne sich zu verletzen. Ich dankte ihr und holte mir einen neuen Obstdrink. Ich unterhielt mich mal mit diesem, mal mit jenem einen Smalltalk, ließ jedoch Geßler nicht aus den Augenwinkeln. Er hatte seinen Teller brav aufgegessen und ging nun zum zweiten Mal zum Büfett. Ich hörte wie er Beate fragte, ob noch Salat da sei. Mach jetzt bloß keinen Fehler, bleib wo du bist, die Dosis wird schon ausreichen. Aber wann würde das Meskalin ihm die Schuhe ausziehen? Es kam anders. Ich musste mich noch eine Stunde in Geduld üben.
Aber dann, dann zog ihm die Droge im wahrsten Sinne die Schuhe aus, als die Party in Fullswing kam und Gin und Wodka in die tropischen Mixe flossen. Ich konnte sehen, wie Professor Geßler sich bückte und die Schnürsenkel seiner eleganten, schwarzen Herrenschuhe löste. Er zog sie aus und streifte sich die Socken ab, steckte die Strümpfe in die Schuhe. Er ging barfuß, doch ohne zu wanken an das Rednerpult, an dem vorher der Schwarze Holunder seine Einführungsrede gehalten hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte außer mir noch keiner der Gäste bemerkt, dass mit dem Geßler etwas nicht stimmte. Als niemand von ihm Notiz nahm, klopfte er energisch auf das Pult. Die Partygäste drehten die Hälse. Er räusperte sich. »Meine Damen und Herren«, begann er. »Meine Damen und Herren«. Geßler machte eine Pause und schaute seine Zuhörer an, dann an die Decke, an sich herunter. Ich nutzte das kleine Intermezzo, borgte mir mit einem Lächeln die Kamera von Frau Dr. Rietschneider aus und machte die erste Aufnahme einer wunderschönen Photoserie. »Meine Damen und Herren, der primäre innere Bau der Wurzel ist heute Gegenstand meiner Vorlesung. Die ausgewachsene Wurzel besteht wie der Stengel zunächst ausschließlich aus primärem Gemüse, Gewebe, mein ich natürlich, nicht wahr Frau Rietschneider. Also der Stengel besteht primär aus der Wurzel, aus einer starken Wurzel. Der Stengel ist die Wurzel für das primäre Dickenwachstum, nicht wahr. Die Spaltöffnung der Epidermis der jungen Frau trägt noch keine Wurzelhaare, nicht wahr Frau ... « Er unterbrach sich und schaute triumphierend ins Publikum. Zweites Photo.
Er nahm, wie es Nikita Chruschtschow bei der UN Vollversammlung getan hatte, einen seiner Schuhe und schlug aufs Pult. Drittes Photo.
»Der Zentralzylinder meiner Wurzel, und das will ich hier noch einmal betonen, das Dickenwachstum des Stengels, Frau, Frau Dr. Rietschnieder, ja Sie meine ich«, er unterbrach sich, zog seine Jacke aus und ermahnt die Zuhörer zur Ruhe. »Das ist genau das, was ich dem vermaledeiten Herrn Oberrat anrate, aber er hat ja keine Ahnung vom Dickenwachstums des Stengels, weil ihm der akademische Hintergrund fehlt. Wir brauchen keinen Bayern in unserer Fakultät, sondern die Spaltöffnungen unserer jungen Fachkolleginnen.« Die Rietschneider war aufgesprungen und kämpfte sich durch die Menge der Zuhörer, die sich erstaunlicherweise, wahrscheinlich aus großer Neugierde, sich erstaunlich ruhig verhielt. »Hans-Gerd, aber was redest du denn da? Komm, du hast etwas zu viel getrunken.« Sie wandte sich an alle: »Sie werden entschuldigen, aber der Herr Professor...« »Der Herr Professor lässt sich nicht das Wort abschneiden, von niemandem, von keiner Spaltöffnung, der Herr Professor sagt jetzt mal was Sache ist, ich lasse hier und jetzt in aller Öffentlichkeit die Hosen runter.« Er nestelte an seinem Taubenschlag. Viertes Photo.
»Hans-Gerd, Hans-Gerd, tu's nicht.« kreischte sie.
Ich habe noch ein weiteres Photos gemacht, das wie die anderen auch in der Presse veröffentlicht wurde. Der Schwarze Holunder hat alle Zeitungsberichte aufbewahrt. Der schönste Artikel hängt bei ihm in Holz gerahmt über seinem Schreibtisch in seinem Büro. Und das Büro liegt, so weit ich weiß, immer noch inmitten der Pflanzen im Botanischen Garten nicht weit von der Stelle, wo an einem geschützten Standort ein seltsames Kraut gedeiht.

 

Wie kann jemand der sich in seinem Profil SCHRIFTSTELLER nennt einen solchen Block ohne Absätze hier posten?

Ich werde die Geschichte erst mit Absätzen lesen und wenn du auch mal eine Geschichte hier auf KG.de kommentiert hast :D

Die Freiheit als Leser hat was. :D

* Schon wieder nur ein Kommentar Nehmer und kein Geber :( *

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo dockrippl. Ich bin nicht sicher, ob das eine literarische Kurzgeschichte ist, aber "es" hat mir gefallen, jedenfalls, so weit ich "es" gelesen habe (etwa die erste Hälfte). Das Ding hat etwas von atemlosem Journalismus an sich ("rasender Reporter") und wirkt dadurch lakonisch und witzig.

Allerdings frage ich mich, ob es nicht dein Hauptanliegen war, den zugrundeliegenden Sachverhalt - den ich für real halte - publik zu machen.

Gruß
marquee

 

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