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Der seidene Faden

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27.03.2010
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Der seidene Faden

Der seidene Faden
Eine Erzählung

Es ist schwer zu sagen, wo diese Geschichte beginnt und wo sie endet und ob sie eine Mitte oder einen Höhepunkt hat und ob sie überhaupt eine Geschichte ist.
Ich habe lange Zeit davon geträumt, ein Leben zu leben, das man innerhalb von wenigen Seiten und mit kurzen, einfachen Sätzen erzählen kann.
Ein Leben, wie man es heute lebt: Mit einem Anfang, einigen sanften Höhepunkten und einem unvermeidlichen Ende.
In einem solchen Leben wollte ich sein und ich weiß auch, das es möglich ist, ein solches Leben, aber nicht für alle, nehme ich, nicht für alle, denn was sind sie schon wert, die Flügel eines Engels, wenn alle Menschen solche Flügel haben ?

Man weiß nie, wie oder wo etwas begann, wo die Ursache für den Zustand liegt in dem man sich gerade befindet.
Ich könnte zum Beispiel sagen, dass alles mit dem blauen Brief begann, der aus Noras Tasche, einer mit roten Blumen bestickten Umhängetasche fiel, die wir, das weiß ich noch, auf einem Flohmarkt in einem abgelegenen Kölner Stadtviertel gekauft haben.
Aber dieser blaue Brief hat vielleicht gar keine Bedeutung oder er ist eine Folge von Tatsachen, die lange davor entstanden sind, vielleicht existiert er auch gar nicht, dieser blaue Brief.
Und was hätte der Blaue Brief schon ausgelöst wenn es nicht das ganze Theater mit R. gegeben hätte, wenn R. das nicht gemacht hätte, was er gemacht hat und wenn er das, was er davor gemacht hat, ich meine, bevor er das, was er danach gemacht hat, auch nicht gemacht hätte.
Es ist wahrscheinlich für die meisten nicht neu, was ich hier sage, es gibt immer einen Anfang vor dem Anfang, das ist altbekannt, aber dennoch: Wo soll man nur anfangen ?

Ich will es trotz allem versuchen, ich beginne meine Geschichte, und zwar dort, wo es mir am wenigsten verhängnisvoll scheint, an einem Montag im Herbst.
Die Blätter fielen von den Bäumen, nehme ich an, sie waren braun und manche waren gelb von einer Art, die man auch als golden bezeichnen könnte.
Hier und da liefen einige Eichhörnchen umher, es waren viele Spaziergänger auf den Straßen, auch Fahrradfahrer, man empfand gemeinhin ein unbestimmtes Gefühl von Melancholie und der letzte Sommer schien einem mit Abstand der schönste gewesen zu sein. Dennoch war man auf den Straßen und die Traurigkeit und die Sehnsucht nach dem Sommer waren von einer Art, die den meisten sehr angenehm war.
Auch A. und ich waren viel draußen in dieser Zeit aber wir empfanden es anders, als wir es sonst empfunden hatten und wir empfanden diesen Wechsel in unserer Empfindung als etwas notwendiges, als etwas, das dieses Leben von uns verlangte und wir waren so glücklich, dass wir fähig waren zu einem solchen Wandel in unseren Empfindungen.
Worin dieser Wandel unserer Empfindungen begründet lag, ist wiederum schwer zu sagen, ob er eine altersbedingte Erscheinung war oder ein Zeitphänomen, kann ich auch heute nicht wirklich entscheiden, es ist aber wohl besser letzteres zu behaupten, sonst würde man sich später verirren.
Ich glaube, dass es der weißhaarige Gegenwartsphilosoph war, der uns dabei geholfen hat, unsere Empfindungen zu wandeln und man sollte ihm auch heute noch dankbar sein, dass er im Stande war, das für uns zu tun.
Ich weiß nicht, wann oder wie A. den Gegenwartsphilosophen kennen gelernt hat, aber wir trafen ihn oft in einem der neueren Cafés im Osten der Stadt und ich erinnere mich auch an einige Lesungen des Gegenwartsphilosophen, die in sehr lockerem Rahmen stattfanden, oft gab es noch Musik und kleine Ciabattabrötchen, die mit Käse überbacken waren.
Der Gegenwartsphilosoph sprang immer mit einer Behendigkeit und Leichtigkeit auf die Bühne, die man von einem Philosophen zuvor nicht gekannt hat und er hatte eine sehr eingängige und angenehme Art, zu reden.
Oft hatte er die Hände in den Hosentaschen oder schlürfte an einer Milchkaffeetasse, während er so Sätze sagte, wie: Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, aber die Wahrheit kann man nicht schauen, es kommt darauf an, das Leben zu leben !“
Das Leben zu leben ! Das war die Losung dieser Jahre und all die Last und Schwere, all das undeutliche Fragen und diffuse Unzufriedensein mit sich selbst und der Welt hatte ein Ende.
Solche Sätze schwirrten in unseren Köpfen umher und manchmal nachts, wenn wir aufwachten, hatten wir das Gefühl, als würden zwei hauchdünne, weiße Flügel aus unserem Rücken wachsen.
Das Leben zu leben, das hört sich leicht an und es ist auch leicht und soll ja auch leicht sein, aber man muss an diese Leichtigkeit glauben, denn wenn man daran zweifelt, dass es leicht ist, einfach zu leben, dann ist es tatsächlich plötzlich nicht mehr so leicht und man gerät in einen gefährlichen Strudel der einem den Weg zur Leichtigkeit, wenn man Pech hat, für immer verbauen kann.
Aber A. und ich hatten immer einen sicheren Abstand zu einem solchen Strudel, wir fuhren gleich nach den Lesungen des Gegenwartsphilosophen in ein naheliegendes Café und tranken jede Menge Milchkaffee. Dazu gab es manchmal noch kleine Amarettokekse und A. wiederholte einzelne Aphorismen des Gegenwartsphilosophen, wenn man das so nennen kann, und die Nachmittage verbrachten wir am See und Abends gingen wir in eine Bar, wo wir einige nicht allzu teure Weinsorten tranken und, gewissermaßen von Selbstüberzeugtheit berauscht, erotische Erfüllungen fanden, die wir in den Jahren zuvor verzweifelt und vergebens gesucht hatten.
Unser Empfinden war also von dem Bewusstsein bestimmt, das man auch in den traurigsten Zuständen des Lebens eine Leichtigkeit finden kann und deshalb war die Melancholie des Herbstes, der nach dem Sommer kommen musste, eine andere als sie in den Jahren vorher gewesen war.
Vorher war es nämlich immer so, dass man die Melancholie nicht als Melancholie sondern einfach als etwas Unaussprechliches empfand, das einem wie eine unerträgliche Last im Magen lag und von dem man fürchtete, dass es von Tag zu Tag schwerer und schlimmer werden könnte.
Jetzt war es die Melancholie, die altbekannte, schöne Krankheit, die immer um diese Jahreszeit kommt und der man sich für eine Zeit suhlen kann, weil man weiß, dass sie vergänglich ist, so, wie alles vergänglich ist im Leben.
Dieser Herbst war auch in anderer Hinsicht ein Besonderer. A. und ich hatten unseren Abschluss geschafft und wir waren jetzt frei von sämtlichen Verpflichtungen dieser Art.
Wie alle anderen, waren auch wir am überlegen, wie wir unser Leben jetzt weiterleben wollten.
Es war dieser Montag im Herbst, als mir A. vorschlug, nach Leipzig zu gehen. Ich war relativ schnell begeistert, weil man von Leipzig schnell in Berlin sein konnte und weil in Leipzig einiges geht, das hatte ich schon oft gehört, weil Leipzig nach Berlin eine der Hauptstädte dieser neuen Leichtigkeit war, die sich überall breitmachte und die selbst die grau hinterlassenen Städte des ehemaligen sozialistischen Versuchs in blühende Landschaften des leichten Lebens verwandelt hat.
Also fuhren wir mit A.'s Käfer nach Leipzig und suchten uns eine Altbauwohnung im Westen der Stadt, die wir zu zweit bezogen, wobei wir später noch einen dritten Mitbewohner dazu nahmen.
Die Tapeten in der Küche hatten wir mit Weisheiten und Ratschlägen des Gegenwartsphilosophen behängt, die von den meisten Besucherinnen und Besuchern unserer WG relativ schnell bemerkt und durchweg positiv kommentiert worden sind.
Nachts hatten wir oft weibliche Begleitung in unseren Zimmern, flüchtige Bekanntschaften, die allesamt damit einverstanden waren, die Sache auf einer gewissen Ebene des Einmaligen und Unverbindlichen zu belassen, weil die Liebe ohnehin vergänglich ist, so, wie alles vergänglich ist im Leben.
Ich hatte sogar eine Arbeit. Wir hatten nämlich auf einer Feier zur Einweihung eines Kulturzentrums im Osten der Stadt R. kennengelernt, der mich gefragt hatte, was ich so mache und ich hatte geantwortet, dass ich an der Universität eingeschrieben sei.
Ich könne es mir ja überlegen, hatte R. gemeint, er hätte da vielleicht etwas für mich, ich solle einfach innerhalb der nächsten Tage mal bei ihm vorbeischauen.
Wenige Tage später war ich Mitarbeiter in R.'s Werbeagentur. Wir waren ein mittelgroßes Unternehmen und hatten Aufträge aller Art, vom Werbeplakat bis zum Firmenlogo.
Ich half beim Drucken der Plakate und war auch an der Erfindung einiger neuer Werbeslogans beteiligt. Die Atmosphäre in R's. Werbeagentur war ausgesprochen entspannt. Es gab nie eine größere Auseinandersetzung, wir hatten noch nicht einmal offizielle Verträge. „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“, hatte R. immer gesagt. R. war kein gewöhnlicher Chef, sowie man sich einen Chef vorstellt, er war vielmehr ein ganz gewöhnlicher Mitarbeiter mit der Besonderheit, dass er bestimmte verwaltungstechnische Aufgabenbereiche übernommen hatte und dementsprechend eine etwas höhere Verantwortung trug, als wir anderen. Mittags holte R. oft Pizza von H.'s Pizzaservice, der gleich nebenan war und mit R. hatte ich immer gute Gespräche, besonders wenn es um Nora ging. Er hat mir immer gute Ratschläge erteilt, R. hat sich immer gut verhalten.
Nora habe ich im Frühling 2008 kennengelernt. Das war nach einem Konzert in der Mule I, ich hatte sie während der Soloeinlage des Trompetenspielers bemerkt, sie stand am rechten Rand des Zuschauerraumes und hatte ihre Schulter an den Türrahmen gelehnt. Während des ganzen Konzertes war sie sehr ruhig gewesen, aber jetzt, während des Trompetensolos fiel sie mir auf, weil sie sehr heftig mit der rechten Hand den Rhythmus mitschlug und dazu mit dem Finger schnippte.
Nach dem Konzert ging ich auf sie zu und fragte, ob sie Feuer für meine Zigarette habe. Sie sagte: „Ja“ und holte ein rotes Feuerzeug aus ihrer Tasche. Ich lud sie auf ein Glas Wein ein und fragte sie, ob ihr das Trompetensolo gefallen habe. „Ja, sehr“, sagte sie.

Man könnte jetzt glauben, dass mit Nora das leichte Leben und all das, was man liebt an einem solchen Leben, zu Ende gewesen wäre.
Aber ich glaube, vieles, was die Leichtigkeit des Seins anbetraf, hatte jetzt erst begonnen.
Nora und ich fuhren einige Wochen später nach Köln, es war jetzt schon fast Sommer, der Rhein war voll mit leicht bekleideten, glücklichen Menschen, wir besuchten ihre Familie, die dort lebte und als wir uns im Volksgarten auf eine der abgelegenen Parkbänke setzten, sagte mir Nora, dass sie mich wirklich sehr lieben würde und ich erwiderte, dass für mich das gleiche gelte.
Im Herbst zog Nora zu uns in die Wohngemeinschaft ein, wir hatten noch ein viertes freies Zimmer, die Miete im Westen der Stadt ist noch immer teils so niedrig, dass man gut eines der Zimmer einfach als gemeinsames Wohnzimmer einrichten kann.
Jetzt waren wir also zu viert in unserer Leipziger Altbauwohnung, das Leben nahm natürlich trotzdem seinen gewohnten Lauf. Meine Beziehung zu A. war weiterhin sehr intensiv, wir gingen, obwohl ich jetzt eine etwas festere Freundin hatte, immer noch oft zu zweit aus und die Nächte waren das Erlebnis, das sie immer gewesen waren.
Nora und A. vertrugen sich gut, wir kauften jeden Samstag zusammen auf dem Lindenauer Markt Gemüse ein und gingen oft Abends in die Kneipe oder saßen mit einem Glas billigen Rotwein in der Küche, deren Wände nach wie vor mit Weisheiten des Gegenwartsphilosophen tapeziert waren.
Es wurde Winter. Ich arbeitete Wochentags meistens bis um zwei oder drei Uhr in R.'s Werbeagentur und danach unternahm ich etwas mit Nora oder ging zu einer neu gegründeten Improvisationstheatergruppe, die sich im Osten der Stadt traf.
Am Wochenende schlief ich den ganzen Tag oder ich ging ich mit Nora an der Elster spazieren. „Glück ist wie Schnee“, sagte Nora einmal, als es geschneit hatte. „Man kann ganz zugedeckt sein damit, aber wenn man versucht, es anzufassen oder festzuhalten, schmilzt es einem in der Hand und da ist nichts, als Wasser.“
„Schöner Satz“, sagte ich und wir beobachteten die Vögel, die trotz der Kälte noch hier waren und gingen dann in das große Café im Park, wo ich Nora und mir einen warmen Apfelstrudel bestellte.

Es war an einem Montag. Ich stand morgens relativ früh auf, duschte mich und ging in die Küche, um mir ein Brot zu schmieren. Ich hatte gerade mein Messer an das Brot angelegt, als die Küchentür aufging und Nora hereinkam. Sie trug ein zerknittertes Nachthemd und wirkte auffalend müde und erschöpft.“Nora !“, sagte ich. „Was bist Du schon so früh auf ?“ „Es ist manchmal gut, früh aufzustehen“, erwiderte sie. „Ja“, antwortete ich, „das ist wahr“. Und sie setzte sich an den Küchentisch und trank eine Tasse Milch. „Ich wusste gar nicht, dass du morgens Milch trinkst“, sagte ich. „Aber manchmal ist es doch gut, morgens eine Tasse Milch zu trinken“, antwortete sie.
„Ja, sagte ich, „das ist gut möglich.
Und Nora stand abrupt von ihrem Küchenstuhl auf und ging in Richtung des Flurs. „Ich muss jetzt los !“, sagte sie. „Wohin ?“, fragte ich. „Ach...,“, sagte sie, „ich habe einen Termin“. In diesem Moment fiel aus ihrer Umhängetasche, die sie sonderbarerweise über dem Nachthemd trug, ein kleiner blauer Brief heraus, den sie sie hastig und sichtlich nervös wieder aufhob.
„Was ist das für ein Brief ?“, fragte ich. „Ach...“, sagte sie, „nichts Wichtiges. Nur ein leerer Umschlag“. Und sie steckte den Brief zurück in ihre Tasche und verließ die Küche.
Ich schnitt mir eine Scheibe von meinem Brot ab und steckte das Brot zurück in die Brottüte. Ein sonderbares Misstrauen stieg in mir auf, dass ich noch den ganzen Morgen versuchte, loszuwerden.
Aber die Seltsamkeit dieser Begegnung lag mir noch lange Zeit in den Knochen.

Später fuhr ich mit der Straßenbahn zu R's. Werbeagentur . Er begrüßte mich wie immer, fragte mich nach meinem Wochenende und bot mir einen Kaffee an.
Ich wollte mich gerade an meinen Platz setzen und einige übrig gebliebene Werbeplakate mit Klarsichtfolie bekleben, als er zu mir kam und mich fragte, ob ich vielleicht Lust hätte, den Kaffee mit ihm zusammen drüben im Aufenthaltsraum zu trinken.
„Naja, warum nicht ?“ sagte ich. „Du kannst das mit den Folien ja später machen“ meinte er. „Okay“, hatte ich gesagt.
Als wir dann im Aufenthaltsraum ankamen, setzte R. plötzlich eine betretene Miene auf und begann, schwer zu atmen.
„Was ist ?“, fragte ich. „Gibt 'n Problem“ meinte R.
„Wieso, fragte ich, was für ein Problem ?“
„Hast du in den letzten Tagen Zeitung gelesen oder Nachrichten geschaut ?“, fragte R.
„Wir haben keinen Fernseher und abonnieren auch keine Zeitung“, antwortete ich.
„Aber sicher hast Du die Schlagzeilen gelesen oder hier und da etwas gehört“, sagte R.
„Was gehört ?“, antwortete ich.
„Von der Krise“, meinte R. „Welche Krise?“ erwiderte ich.
„Die Finanzkrise“, sagte R.
„Ja“, sagte ich, „das ist schlimm, aber ich habe mein Geld glücklicherweise bei der Sparkasse angelegt.“
„Ich aber nicht“, sagte R.
„Oh“, sagte ich, „Wo hast du denn angelegt“
„Ich habe Papiere gekauft, die wiederum mit einer New Yorker Bank zusammenhängen, die jetzt pleite ist“, sagte R.
„Oh“, sagte ich wieder, „wieviel denn, dein ganzes Erspartes ?“
Und als er nichts antwortete, sagte ich: „Wenn du Geld brauchst, kann ich dir jederzeit etwas leihen.“
Und er lächelte mich fast mitleidig und sagte: „Ich habe nicht mein persönliches Ersparnis dort angelegt“ „Ich habe als Unternehmer investiert und zwar in einem etwas zu hohen Maßstab, als dass du mir da mit deinem Privateinkommen aus der Patsche helfen könntest.“
„Du hast das von demGeld der Werbeagentur Aktien gekauft“?, fragte ich.
„Natürlich“ sagte R., „das machen alle“.
„Oh...“, sagte ich, „und jetzt ?“.
R. setzte sich und legte mir seine Hand auf die Schulter, atmete schwer und sagte: „Ich sag' Dir das echt nur ungern, du hast hier immer gut mitgearbeitet“.
„Was sagst Du mir ungern?“, erwiderte ich.
„Dass es vielleicht besser ist, wenn Du ab heute erst einmal nicht mehr so oft kommst“
„Ab heute erst einmal nicht mehr so oft ?“, sagte ich, „was zum Teufel meinst Du denn damit ?“
„Ich kann Dich nicht mehr bezahlen“ sagte R., „es ist schade, ich weiß, aber so ist es nun einmal“
„Es ist schade, ich weiß, aber so ist es nun einmal“, das war die letzte offizielle Aussage, die ich von R. zu diesem Thema gehört habe. Was bildete er sich ein ? Ich habe 4 Jahre lang in R's. Unternehmen gearbeitet, warum feuerte er mich jetzt an einem solchen Montagmorgen bei einer Tasse Kaffee im Aufenthaltsraum von seiner Werbeagentur ?
Ich stand etwa eine Viertelstunde so umher, ich wollte erst an meinen Platz zurückgehen, aber dann fiel mir ein, dass es jetzt wahrscheinlich keinen großen Sinn mehr machen würde, die übrig gebliebenen Werbeplakate von letzter Woche mit Klarsichtfolie zu bekleben.
Also ging ich auf die Toilette, weil es der einzige Ort war, der mir angemessen schien für einen Mitarbeiter von einem Status, wie ich ihn nun hatte.
Ich stand noch keine 3 Sekunden an meinem Pissoir, als die Tür aufging und R. hereinkam und sich an das Pissoir rechts neben meinem Pissoir stellte. „Tut mir echt voll leid“, meinte er, „nächstes Mal besser“
„Das nächste Mal“, was konnte das bedeuten ? Ein nächste Geschäft, dass er irgendwann einmal eröffnet ? Oder ein zweites Leben, an das er möglicherweise glaubte ? Von welch rätselhafter Undurchschaubarkeit wahr R's Wortwahl in diesen Tagen ? Was war geschehen ? Wie kann man solch ungeheure Geldmassen, wie R. sie aufgrund der wachsenden Konjunktur der Werbebranche besessen haben muss, von einem Tag auf den anderen verlieren ?
Mit Überlegungen dieser Art verließ ich das Gebäude von R.'s Werbeagentur.
Draußen regnete es. Der Schnee war geschmolzen und mich umfing eine Stimmung, die mich an einen Februar vor vielen Jahren erinnerte, obwohl es jetzt kein Februar war, sondern Dezember.
Ich überlegte, wohin jetzt gehen sollte, wohin soll man schon gehen an einem solchen Tag ?
Ist es vielleicht das klügste, nirgendwohin zu gehen ? Aber irgendwohin muss man gehen ! Ich kann mich nicht erinnern, je unter dieser Tatsache gelitten zu haben, doch an diesem Tag, als ich auf dem Vorhof von R.'s Werbeagentur stand, stieß sie mir plötzlich auf, wie der fremde Geschmack eines verdorbenen Essens, von dem man ganz vergessen hatte, dass es einem noch im Magen liegt.
Es dauerte noch einige Zeit, bis ich mich endlich auf den Weg machte.

Es roch. Ich glaube, nach Schwefel, es muss nach Schwefel gerochen haben, da bin ich mir fast sicher, ich weiß nicht wie es dazu gekommen sein könnte, zu diesem Schwefelgeruch, was die Ursachen waren, aber es roch in jedem Fall, ein solcher Geruch ist unverkennbar.
Die Tür sonderbarerweise verschlossen, ich weiß, A. hat das oft gemacht, die Tür von innen zu verschließen, er war misstrauisch in diesen Dingen, ich habe nie ganz verstanden, warum.
Im Flur dann eine seltsame Leere. „Warum ist es so leer ?“, dachte ich, „warum nur so leer ?“
In meiner Hand hatte ich eine Tüte, eine Tüte mit Pilzen, das Knistern dieser Tüte erfüllte den leeren Flur mit einem sonderbar fremdartigen Klang.
Ich ging zu ihrem Zimmer, die Tür stand offen, „Bist Du hier ?“, rief ich leise.
Aber es war nichts, das Zimmer war leer.
In der Küche lag einiges benutze Geschirr, das ich heute morgen noch nicht dort gesehen hatte.
„Es muss jemand etwas gegessen haben“, dachte ich.
Ich ging zu seinem Raum. Es war das Zimmer ganz hinten links. Die Tür war ganz verschlossenen. Ich hob meine Hand, ballte die Finger zu einer Faust und bewegte sie schnell auf die Tür zu.
Es müssen Millimeter gewesen sein, vielleicht ein Bruchteil eines einzelnen Millimeters zwischen meiner Faust und der Tür, als ich es hörte. Man reagiert so sonderbar schnell in diesen Momenten. Die Seltsamkeit eines ganzen Daseins rinnt zusammen in einem solchen Geräusch. Und ich klopfte nicht an die Tür, sondern nahm meine Tasche, stolperte zur Wohnungstür und rannte das gesamte Treppenhaus herunter, riss die Haustür auf und sprang ins Freie, wo mir ein plötzlicher Windhauch entgegenkam, den ich gierig einatmete, wie etwas, dass man lange Zeit nicht gehabt hat und dass man doch unermesslich dringend braucht, weil man sonst nicht leben kann.

Und ich rannte verschiedene Straßen entlang, breite Straßen, auf denen der Verkehr wie ein gewaltiger Wasserstrom rauschte und das Geschrei einer Straßenbahn, das irgendwo von weither aus der Ferne kam, drang an an mein Ohr und mischte sich, mischte sich mit dem Geräusch, das noch immer dort war und das nicht mehr weggehen würde, weil ein solches Geräusch einen für immer begleitet.
Und schräg über mir knallte ein Fenster zu, knallte zu stark, denn man hörte das Glas in Scherben zerfallen und die Scherben in kleine winzige Einzelteile, die jetzt überall dort oben umherliegen mussten. Wie schwer muss es sein, diese feinen und in allen möglichen Winkeln versteckten Splitter einer solchen Fensterscheibe aufzusammeln ?

Und irgendwann stand ich vor einem Haus. Einem großen, gewaltigen Gründerzeithaus. Und ich öffnete die Haustür und rannte in den Flur, wo ich zwischen zwei großen Flügeltüren hindurchging und dann die Treppen heraufsprang, bis ich vor einer Wohnungstür stand, an die ich anklopfte.
Ein fülliger Mann in meinem Alter öffnete mir. Er hatte eine Halbglatze aber dennoch etwa schulterlange, rote Haare.
„Komm herein“, sagte er, „ich habe dich lange nicht gesehen.“
Wir gingen direkt in sein Wohnzimmer, wo er mir einen blauen Sessel anbot, auf den ich mich keuchend und seltsam erschöpft niederfallen ließ.
Ich guckte mich in dem Wohnzimmer um. Ich war eine Zeit lang oft hier gewesen, aber es hatte sich inzwischen einiges verändert. Das Sonnenlicht schien immer noch sonderbar hell durch die Fensterscheiben hindurch, aber an den Wänden hingen jetzt eine ganze Reihe von Regalen, die vorher nicht dort gehangen hatten. Und auf den Regalbrettern standen einige Töpfe in verschiedenen Farben, die äußerst kunstvoll gestaltet waren und von denen ich nicht wusste, ob sie nur zur Dekoration dort standen, oder ob sie etwas beinhalteten, etwas, das man speziell in solchen Töpfen aufbewahrt.
Nach einer Weile erkundigte er sich, wie es mir ginge. „Ach...“, erwiderte ich, „wie soll es einem schon gehen ?“ Er setze sich auf einen weiteren blauen Sessel, der einige Meter neben meinem blauen Sessel stand und fragte dann, ob etwas nicht in Ordnung sei.
Und ich erzählte ihm alles, was geschehen war.

„Hast du wirklich diesen Freund dort oben in deiner Wohnung ?“, fragte er mich, nachdem ich meine Erzählung beendet hatte. „Natürlich !“, antwortete ich, „meinst Du etwa, ich hätte ihn die ganzen Jahre nur erfunden ?“
„Man weiß nie“, erwiderte er. „Ich kannte einmal jemanden, der mir jahrelang von seinem schwarzen Vogel erzählte, zu dem er scheinbar eine ungewöhnlich starke Beziehung gehabt haben musste, denn er war ständig verreist in die fernsten Orte Welt, um sich mit anderen Vogelhaltern zu treffen und er hatte seinem schwarzen Vogel bestimmte seltene Fähigkeiten beigebracht, die den Vogel zu einer Gruppe von besonderen Vögeln machte, von denen es über alle Länder und Sprachen verteilt nur wenige gab. Dieser schwarze Vogel, so hatten wir alle angenommen, bestimmte sein Leben, er schien seine einzige wirkliche Leidenschaft zu sein“.
Eines Tages traf ich ihn in einem Cafe und fragte ihn, wie es seinem Vogel ginge.
Und er antwortete mir, dass ihm der Vogel entflogen sei.“
Aber die Gerüchte verhärteten sich, dass er nie einen solchen schwarzen Vogel besessen hatte.

Und ich stürmte wiederum Treppen herunter, wieviele Treppen kann man an einem Tag herauf- und herunterlaufen ?

Und dann kam ich in ein Gebiet der Stadt, wo ich noch nicht gewesen war. Der Lärm der großen Straßen und diese ungeheure Fülle an Autos und Fahrradfahrern wurde nach und nach weniger und ich kam an eine Kreuzung, wo ich bemerkte, dass es aufgehört hatte, zu regnen
Und auf der gegenüberliegenden Seite begann eine Allee, die ich entlanglief und weiterlief und immer weiterlief, bis ich irgendwann ganz außer Atem war.
Und ich drehte meinen Kopf nach oben und blickte in die Baumkronen die von links und rechts ineinandergriffen und ein verworrenes Muster ergaben, dass mich an etwas erinnerte, ein Erlebnis, dass ich vor sehr langer Zeit einmal gehabt hatte und dass jetzt in der Luft lag, so, als wäre es nie vergangen, so, als wäre auch dieser Tag noch ein Teil dieser Erfahrung.

Und als die Allee fast zu ihrem Ende gekommen war, kam aus einer Seitenstraße ein kleiner hellhaariger Junge auf einem Fahrrad herausgefahren. Er fuhr direkt vor meine Füße, wo er abrupt stoppte. Er schaute mich an und ich erschrak, denn ich erkannte ihn. Und er hielt eine Kiste in seinen Händen, in deren Deckel mehrere Löcher gebohrt waren und ich fragte mich, was für eine Kiste das sei und was man darin aufbewahrt. Und der Junge lächelte mich an und öffnete die Kiste, aus der ein großer schwarzer Vogel herausgeflogen kam.
Und der Vogel flog bis zum Ende der Allee und setzte sich auf das Dach eines großen Hauses, das dort stand.
Und aus dem Haus schallte Musik zu mir herüber, die ich gut kannte und die ich oft gehört hatte.
Und ich betrat das Haus und war überrascht. Denn es war voll mit Menschen, die zu der Musik tanzten und es gab ein großes Buffet, dass in der Mitte des Raumes aufgestellt war und in dem hinteren Teil des Raumes sah ich eine Bühne, auf der eine Gruppe von Musikern stand.
Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte. Für eine Moment schien es mir das Beste, wieder zurück zu der Wohnung zu gehen. Aber ich wusste kaum wo ich war und ob ich wieder zu meiner Wohnung zurückfinden würde und was sollte man schon in einer Wohnung, in der es solche Geräusche gab ?
Außerdem wurde es draußen allmählich dunkel und es schien mir unvernünftig und sinnlos, jetzt wieder zu gehen, wo man doch hier zumindest noch für Weile bleiben konnte.
Und ich wollte mich einfach unter die Tanzenden mischen, denn sie waren sehr viele und ich überlegte mir, dass es sicher schön sein müsste, unter einer so großen Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern zu sein. Doch dann bemerkte ich, dass es nur Paare waren, die dort auf der Tanzfläche tanzten und dass es vollkommen unmöglich war, sich als Einzelner einfach unter diese Paartänzer zu mischen.
Also bewegte ich mich zu der linken Seite des Raumes, wo ein weiteres Buffet aufgebaut war.
Da es hier eine unüberschaubare Menge an Gästen gab, schien es mir ungefährlich, einfach einen der Teller zu nehmen und mir etwas von der ungewöhnlichen Vielfalt dieses Buffets auszusuchen.
Ich wollte mir gerade etwas Salat auf meine Schüssel geben, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
Ich drehte mich und sah, dass es A. war. „A“, rief ich, „was machst Du hier ?“ „Und Du ?“, antwortete er und lachte. „Ich ?..“, sagte ich, „ich bin nur zufällig hier.“ „Zufällig ?“, sagte A. „Was soll denn das bedeuten ?“. „Ich bin die Allee, die zu diesem Haus führt entlanggelaufen und bin dann zufällig hierher gekommen.“ „Aber“, antwortete J., „ich hatte Dir doch gesagt, dass hier in diesem Haus heute dieses Fest stattfinden würde.“ „Das hattest Du mir gesagt ?“, erwiderte ich verwundert, „Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.“ „Es ist schon seltsam“, sagte A., „dass du dich an manche Dinge, die man Dir sagt, bereits einen Tag später nicht erinnern kannst.“ „Ja“, erwiderte ich, „es ist seltsam“. Und A. Lachte ungläubig und sagte : „Du Spaßvogel“.
„Ist Nora auch hier ?“, fragte ich. „Nora ?“, fragte A. „Wie soll Nora hier sein, Nora ist doch verreist.“ „Sie ist verreist ?, sagte ich. „Nein, das ist nicht wahr, wohin soll sie denn verreist sein“ ?
„Kennst Du das Leben deiner eigenen Freundin nicht ?“, erwiderte A. und starrte mich verwirrt an.
„Sie ist nicht verreist !“ rief ich, „Nora ist nicht verreist, das müsste ich doch wissen !“
„Natürlich ist sie verreist“, erwiderte A. Ruhig, „warum sollte ich es dir sonst erzählen ?“
„Aber“ sagte ich, „ich habe heute Mittag, als ich kurz zu Hause war, oben aus deinem Zimmer ein Geräusch gehört.“
„Was für ein Geräusch ?“, antwortete A.

Dann gingen wir auf die andere Seite des Raumes. Von hier aus hatte man eine weit bessere Sicht über die Tanzfläche, als von dort, wo wir vorher gestanden hatten.
Und A. holte einen Rotwein nach dem anderen. „Kostbarer, trockener Burgunderwein“, sagte er und reichte mir das Glas. Und ich trank all die Gläser, bis oben hin mit kostbarem Pinot gefüllt, bis allmählich der Rausch in mir aufstieg. Und noch immer spielten die Musiker und die Musik drang an mein Ohr und mischte sich, mischte sich mit dem Geschrei der Tanzenden, die weniger geworden waren aber jetzt in eine seltsam ausgelassene Stimmung gerieten.
„Schade“, sagte ich, „dass man nur als Paar dort tanzen kann.“
„Ja, sagte A., „das ist schade. Aber vielleicht können wir uns zwei Tanzpartnerinnen finden.“
Und wir gingen auf zwei abseits stehende Frauen zu und fragten sie höflich, ob sie mit vielleicht mit uns tanzen würden. Aber die Frauen schauten sich gegenseitig an, lachten und schüttelten den Kopf.
Und wir suchten auf dem gesamten Fest nach zwei Tanzpartnerinnen. Aber alle Frauen, die wir ansprachen, wollten nicht mit uns tanzen. Wir mussten mindestens zwei Dutzend Frauen angesprochen haben, als A. plötzlich meine Hand nahm und sagte: „Dann tanzen wir eben so“.
Und A. und ich gingen auf die Tanzfläche und tanzten. Zunächst fühlte es sich schon ein wenig sonderbar an, aber nach und nach fanden wir einen Rhythmus und die Töne eines Trompetensolos drangen an mein Ohr und mischten sich, mischten sich dem Klang meiner eigenen Tanzschritte.
Und für einen Moment dachte ich an Nora und ich stellte mir vor, wie sie reiste, durch die fremdesten und entferntesten Orte der Welt.
„Aber das Geräusch!“, sagte ich wieder zu A. „Welches Geräusch ?, erwiderte A., lass das, es ist nichts mit diesem Geräusch.“ Und nach einer Weile sagte er: „Sieh nur, wie wenige Tanzende noch auf der Tanzfläche sind.“ Und ich schaute mich um und stellte fest, dass der Raum, verglichen mit vorhin, ganz leer geworden war. Aber die Musiker spielten noch immer und lächelten uns freundlich entgegen.
Und wir tanzten bis in den frühen Morgen hinein.

 

Auf Wunsch des Autors von Philosophisches nach Gesellschaft verschoben.

 

ich würde es mir nicht kaufen, aber die erzählweise zeugt an mehreren stellen von sehr viel sprachgefühl, wird im letzten drittel aber episodisch, die sätze unsauber, den großartigen einstieg imitierend und die geschichte endlich zu ihrem ende prügelnd. insgesamt find ich: daumen hoch. zu der sprache noch die richtige geschichte und entsprechendes durchhaltevermögen und ich kauf's.

 

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