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Der siebte Somen
Händler hatten das Kloster nie besucht, die Mönche kauften nichts. Man wusste nicht einmal, ob sie überhaupt Geld hatten.
Sai-Phi wusste es, denn er hatte sechzig amerikanische Dollar an Herrn Chiao übergeben, den Mittelsmann des Klosters, einen klapperdürren, dabei sehr beweglichen Herrn unergründlichen Alters mit sechs dünnen, aber ziemlich langen Bartfäden und einer schwarzen Samtkappe.
Wenn Wind aufkam, zerrte Herrn Chiaos etwas zu groß geschnittenes Kattunhemd ungeduldig an seinem Träger wie ein Hund an zu kurzer Leine, doch Herr Chiao flog keinesfalls davon, denn so leicht war er nun auch nicht – jetzt mit den Golddollars in der Tasche.
Der alte Herr händigte Sai-Phi ein blaues verklebtes Päckchen für den Abt aus und riet ihm, es flach am Körper zu tragen, um die Hände frei zu haben, und dazu die Wegskizze zum Kloster.
Am Ende der Landstraße führte der Weg in die Berge. Sechs Gipfel waren eingezeichnet, alle mit Namen, die Sai-Phi noch nie gehört hatte. Außerdem ein Fluss, kleinere Wasserläufe und Schluchten, die er überqueren musste.
Wenn Sai-Phi am Tag zehn Meilen hinter sich brächte, könnte er das Kloster in sieben Tagen erreichen.
Zehn Meilen waren wenig oder viel. In Sai-Phis Situation waren es viel, denn von einem Weg konnte keine Rede sein, auch nicht von einem Pfad; das Kloster hatte keine Verbindung zur übrigen Welt.
Mit der Erlangung des siebten Somens hatte er sich ein Ziel gesteckt, das den meisten unerreichbar erschien – als wolle ein einziger Mensch die Große Mauer bauen.
Doch dass Sai-Phi es schaffen würde, stand außer Frage. Diese Gewissheit hatte sein fabelhafter Lehrer Li-Mai tief in ihm verankert.
Der Marsch zum Kloster war bislang die schwerste Prüfung in Sai-Phi’s Leben.
Er verlor oft die Orientierung und brauchte zehn Tage. Einen zischenden und tobenden Eiswasserstrahl von den hohen Gletschern, der durch das Felslabyrinth brodelte, konnte er nicht überqueren. Auf dem Grund der Schlucht musste er über glitschige Felsbrocken zur anderen Seite balancieren, dem Tod näher als dem Leben. Allein dafür benötigte er einen ganzen Tag. Strapaze folgte auf Strapaze. Sein Proviant ging zur Neige, die letzten Reiskuchen und ein paar Beeren waren seine einzige Energiequelle.
Die Nächte waren furchtbar, an Schlaf war nicht zu denken: Eiseskälte, fauchender Gletscherwind und ohrenbetäubendes Splittern im Bambuswald, dessen trockene Stangen aneinanderschlugen.
Am Nachmittag fand er ein zerzaustes Vogelnest und – oh, Stunde des Glücks! – ein unversehrtes Ei. Er war so aufgeregt, dass es ihm beinahe noch im letzten Moment entglitten wäre. Er trank es aus, schlürfte noch lange, bis auch das kleinste Tröpfchen in seinen Mund gelangte. Er musste sich an einem Strauch festhalten, da ihm übel wurde und er große Angst bekam, das Ei nicht bei sich behalten zu können. Aber es blieb in ihm und gab bald ein wenig – vielleicht auch meditative – Kraft ab. Er schloss die Augen, streckte seinen schmerzenden Körper, hob die Arme hoch, den Kopf im Nacken. Und als er die Augen wieder öffnete, erblickte er das Kloster. Direkt gegenüber, allerdings auf der anderen Seite der Schlucht. Merkwürdig geformte violette Wolken waberten im Kreise, ein Adler stieg auf. Sai-Phi schaute ihm nach, höher und höher, und dann sah er noch mehr von ihnen. Er wollte tief Luft holen, stockte aber, weil Herz und Lunge keinen gemeinsamen Takt fanden. Freude und ein unbestimmtes Gefühl von Verzagtheit und Prüfungsangst wechselten einander ab. Und dabei stand er noch nicht einmal an der Klosterpforte.
Plötzlich glaubte Sai-Phi, die Stimme seines früheren Lehrers zu vernehmen - langsam anschwellend und bald deutlich genug, und allein dessen Stimme straffte seinen Rücken. Er tankte frische Energien aus dem Universum und so erklärte es sich, dass gegen Mittag ein junger Mann, korrekt gekämmt und gekleidet, kräftig an die Pforte des Klosters klopfte. Leider blieb es ohne Folgen.
Sai-Phi klopfte kein zweites Mal - er blieb stehen wie die Felsen um ihn herum; nur ein Narr konnte denken, dass sein Klopfen unbemerkt geblieben wäre.
Sai-Phi wusste, dass man ihn beobachtete. Stundenlang stand er, die Sonne sengte und wurde nur langsam milder. Er spürte Schmerzen, überall, in Wellen kamen sie über ihn, in allen Körperpartien, nur mit eisernem Willen zu ertragen. Und dass er den hatte, war das Verdienst seines klugen Lehrers Li-Mai. Sai-Phi spürte weder Hunger noch Durst. Er spürte sich selbst nicht mehr – er stand nur, unbeweglich.
Ein Flügel des hölzernen Tores öffnete sich sehr langsam, gerade so, dass sich Sai-Phi mit Gedankenkraft in die Gegenwart zurückholen und besinnen konnte, wo und wozu er hier stand.
Sai-Phi trat ein. Die erlittenen Entbehrungen und die gemeisterten Schwierigkeiten seines Weges hierher hatten ihm unerwartete Energie und Selbstvertrauen gegeben; er hatte eine Ahnung, dass in ihm noch ein zweiter Sai-Phi existierte, der vielleicht auch sein Lehrer Li-Mai sein könnte.
Nach einigen Schritten blieb er stehen, keineswegs zögerlich oder zaghaft, nein, mit geradem Rücken, den Kopf aufgerichtet – nur der Kosmos wusste, woher er die Kraft dazu nahm.
Das Tageslicht wurde schwächer, als jemand, den er nicht kommen gehört hatte, mit sonorer Stimme sagte: “Guten Abend!“
Sai-Phi sagte das ebenfalls, wusste allerdings nicht, ob er sich rühren und umdrehen oder seine Haltung bewahren sollte. Die Entscheidung wurde ihm jedoch abgenommen - ein lebender Buddha trat in sein Gesichtsfeld und schaute ihn an: „Na, junger Mann, wie war die Anreise?“
„Danke“, sagte Sai-Phi, „sehr komfortabel. Wenn Sie erlauben, ich bin Sai-Phi.“
„Li-Mai schickt mir nur seinen besten Schüler. Ich habe einen guten ersten Eindruck von dir. Und ich glaube, du hast mir etwas mitgebracht?“
„Oh ja“, sagte Sai-Phi und zog das Päckchen unter der Jacke hervor. „Bitte sehr, hier ist es.“
Der Abt betrachtete es von allen Seiten und sagte dabei: „Übrigens bin ich dein neuer Meister, Ho-Prao, wenn’s genehm ist.“
„Meine Verehrung, Meister!“
„Kommen wir zur Sache. Ich vermute, deine Wegzehrung ist aufgebraucht. In einer halben Stunde isst du mit den Eleven in der unteren Halle. Du bist sieben Tage hier; wenn du dich vollkommen konzentrierst, bekommst du am siebten Tage das siebte Somen. Das ist in unserem Kloster die höchste Auszeichnung, aber es sind harte Prüfungen. Bist du mit dem linken oder mit dem rechten Fuß zuerst über die Klosterschwelle geschritten?“
„Mit dem rechten Fuß, Meister.“
„Ja. Du hast dich heute gut gehalten. Mach weiter so.“
Die folgenden Tage hatte Sai-Phi nichts zu lachen und ohne die Lektionen seines alten und ganz ausgezeichneten Lehrers Li-Mai hätte Sai-Phi wohl bald ausscheiden müssen.
Die Tage waren straff durchorganisiert. Es wurde viel gearbeitet: Kochen, Weben, Töpfern und Dachpfannen brennen, Schmieden, Papier herstellen, Gärtnern, Tusche anmischen, Schneidern und immer wieder putzen – gegessen und geschlafen wurde wenig. Sai-Phi lernte und lernte, dass er meinte, nach dem Klosteraufenthalt noch Jahre zu benötigen, um dieses geballte Konzentrat verdauen und verarbeiten zu können. Ein Großteil der Zeit war dem Kampfsport gewidmet und Sai-Phi war ein Schüler der Sonderklasse. Er wurde respektiert, aber niemand biederte sich an. Würde war das alles Überlagernde.
Zwischendurch stellte der Meister seine nicht enden wollenden Fragen:
„Was ist falsch, wenn ein Mönch, ein Lernender, Buddhas Buch zum Zeitvertreib liest?“
Sai-Phi: „Buddhas Buch zu lesen ist Zeitfreude und Zeitgewinn!“
Oder: „Die chinesische Flotte ist bis Ostafrika vorgestoßen. Wie weit schaffte sie es in umgekehrter Richtung?“
„Bis zu den heutigen Cook-Islands, Meister.“
Sai-Phi musste ganz allein eine Allee von gelbblättrigen Bäumen beschneiden und sich dafür ein transportables Gerüst aus Bambusstangen bauen, dessen Fertigung genauestens geprüft wurde; er kalligraphierte und bemalte selbstgebranntes Geschirr, spielte vorzüglich Laute und Flöte, rechnete mit dem Abakus wie der Blitz, konnte tausenderlei und machte immer die beste Figur.
Sein Großer Meister Ho-Prao ließ ihn nicht aus den Augen und nervte stets in den unpassendsten Momenten mit verblüffenden Fragen.
„Ich zwinkere nur mit einem Auge. Mit welchem?“
„Es ist das linke, Meister.“
Oder: „Wir haben vierzehn Adler. Wenn jeder täglich eine Ratte bekommt, aber vier Adler nur jeden zweiten Tag kommen - wie viele Ratten verfüttern wir in einem Jahr?“
„Das sind genau viertausendzweihundertachtzig, Meister.“
Sai Phi nahm alle Hürden, er sprang und er spurtete – für den siebten Somen würde er alles tun. Er reparierte das Dach an der höchsten Stelle, kannte alle Daten der chinesischen Dynastien, konnte die gesamte Weltkarte aus dem Kopf aufzeichnen und focht und kämpfte wie kein zweiter. Ihm einen Fehler nachzuweisen, war ein Ding der Unmöglichkeit und wenn er beim Kampf innehielt, dann um den Gegner zu schonen.
Der siebte und somit letzte Tag ist angebrochen. Noch vor dem ersten Sonnenstrahl wird der Speiseraum gescheuert, dann die Korridore. Dem kargen Frühstück folgen die Meditation, der Unterricht, das Arbeiten und wieder und wieder die hintergründigen Fragen des Meisters Ho-Prao.
„Wenn unsere Adler keine Flügel hätten, was würden sie dann tun?“
„Sie würden trotzdem fliegen, Meister. Nur mit ihrer Willensstärke.“
Der Meister macht eine anerkennende Miene. „Gut geantwortet“, sagt er. "Aber heute begegnen wir uns auf Augenhöhe: Du musst mir eine Frage stellen, die ich nicht beantworten kann, und du musst heute Abend gegen mich kämpfen; der Kampf muss wenigstens mit einem „unentschieden“ enden.“
Am Nachmittag geht ein fürchterlicher Regen nieder, hier in den schroffen Bergen nichts Außergewöhnliches.
Für die Adler werden weiße Ratten gezüchtet und Sai-Phi ist auf dem Weg, um Futter dorthin zu schaffen. Er kommt am Haus des Meisters vorbei. Nichts rührt sich, der Meister meditiert wohl.
Urplötzlich wird es stockdunkel, Sturmböen brechen Bäume, Schindeln zischen wie böse Vögel durch die Luft. Wassermassen stürzen hernieder und Sai-Phi springt instinktiv in die Vorhalle des meisterlichen Hauses. In der gleichen Sekunde erkennt er seinen Fehler, doch es ist zu spät.
Eine Tür knarrt, er drückt sich in eine Nische und verdeckt sich, so gut es eben geht, mit dem rotgoldenen Vorhang. Er hält die Luft an. Wenn er hier erwischt wird, kann er den siebten Somen vergessen.
Der Meister befindet sich am Stehpult – wie Sai-Phi durch den Vorhangschlitz erkennen kann. Auf der Schreibmaschine liegt das blaue Papier; fast gierig blättert er in einem Heft, die andere Hand kann Sai-Phi nicht sehen, aber der Arm führt gleichmäßige Bewegungen aus, dann etwas schneller werdend, wie auch des Meisters Atem jetzt heftiger geht und hörbar wird. Genau hier platziert Sai-Phi seine Existenzfrage:
“Meister, wie lange - glauben Sie - stehe ich schon hier?“
Nun gut, das ist schon lange her und niemand könnte heute mit Bestimmtheit sagen, ob der für den Abend geplante Endkampf zwischen Sai-Phi und dem Großen Meister stattgefunden hat und ob Sai-Phi tatsächlich den siebten Somen mit nach Hause genommen hat.
Bekannt ist nur, dass dort auch heute noch schlagartig ungeheure Wassermassen vom Himmel stürzen.