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Der Sohn des Ziegenhirten
Ein Ziegenhirte hatte drei Söhne. Der Älteste stellte sich oft mit dem fein geschnitzten Hirtenstab seines Vaters auf einen Hügel, abseits der Herde und schaute auf die Ziegen herab. „Wenn der Vater stirbt, gehören die Ziegen mir, weil ich den Hirtenstab halte“, verkündete er oft. Der mittlere Knabe brachte seinem großen Bruder dann und wann einen Leib Brot und etwas Wasser vom Fluss, wenn dieser vom Hügel auf die Herde sah. „Wenn der Vater gestorben ist, musst du mir ein paar Ziegen abtreten, großer Bruder, aus Dankbarkeit für meine Mühe dir Brot und Wasser zu holen“, bettelte er oft.
Eines Tages ging der nun schon alte Ziegenhirte zur Weide, um nach seinen Söhnen und den Tieren zu schauen. Er sah zuerst den Ältesten, wie er auf einem Hügel stand, den Hirtenstab in der Hand, seinen Blick auf die Herde gerichtet. Danach bemerkte er, wie sein Zweitgeborener vom Fluss mit einem Korb und einer Flasche den Hügel hinauf lief. Er lächelte, denn es erfüllte ihn mit großer Freude seine Söhne zu sehen. Er suchte seinen kleinsten Sohn, und ging zu den Ziegen. „Na kleiner Racker, wie geht’s den Ziegen?“, fragte er den Jungen. „Die Alte lahmt nicht mehr, aber dafür sieht sie schlechter; ich hab sie zusammen zu der Schwarzohrigen gestellt, die Alte folgt ihr immer beim Weiden, du weißt ja die Schwarzohrige ist klug und meidet die Klippen mehr als der Hirtenhund. Das Kalb säugt schon besser, ich muss es aber immer wieder zur Braunen tragen. Das Kleine sucht immer noch Milch bei seiner Mutter, das klappt aber nicht und da hab ich es mit der Braunen versucht und gestern lief es prima“, berichtete der Hirtensohn geschäftig.
Der Ziegenhirte hatte seinem Sohn aufmerksam zugehört, während er sich an einen schattigen Baum hinsetzte und sich an den breiten Stamm anlehnte. Nun blickte er zu ihm lächelnd auf. Der Knabe stand da, mit Ziegenkot an den Hosenbeinen, hochgekrempelten Hemdärmeln und einigen Schweißperlen auf der Stirn. „Vater! Du siehst müde aus, ist dir nicht gut?“ fragte er besorgt. „Komm her, mein Sohn!“, sprach der Ziegenhirt. Der Knabe gehorchte und setzte sich neben seinen Vater. Dieser legte seinen Arm um ihn, schloss seine Augen und starb.
Drei Tage später kam ein dicker Mann in das Haus der Witwe und sprach ihr sein Beileid aus. Bereits am selben Tag, an dem der Ziegenhirte verstorben war, hatte man ihn beigesetzt und von den vielen Trauergästen war nur noch die ältere Schwester der Witwe geblieben, um ihr etwas Arbeit abzunehmen. Die Witwe ging zum Schreibtisch und holte einen Brief hervor. „Herr!“, sagte sie. „Mein Mann, Gott barmherzige sich seiner, konnte weder lesen noch schreiben, drum diktierte er mir diesen Brief, den ich ihnen nach seinem Tode geben sollte.“ Sie streckte die Hand mit dem Brief aus. Der dicke Mann nahm ihn und las. Er war anscheinend recht kurz, denn schon wenige Augenblicke später lächelte er langsam, nickte der Witwe zu und verließ das Haus. Der älteste Sohn ging zusammen mit dem Mittleren zur Mutter und fragte: „Mutter! Wer war der Mann?“. „Der, dem die Ziegen gehören mein Sohn!“, antwortete die Frau.
Der dicke Mann fand den jüngsten Sohn, wo es ihm sein Vater in dem Brief mitgeteilt hatte. „Na was machst du mein Junge?“ Das Kind schaute verwundert zum Mann, als ob er die Frage nicht ganz verstanden hätte. „Herr! Ich lege der Ziege einen Kräuterverband an“, bekam er endlich hervor. „Ein Kräuterverband? Was ist denn das?“, fragte der Mann amüsiert. Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Knaben und machte einem noch traurigeren Gesicht als zuvor platz. „Was ist denn mein Junge?“, fragte der Mann, der sich nun an einen Zaun lehnte und sich mit einem weißen Tuch über das Gesicht vor. „Nur mein Vater fragt nach solchen Dingen“, antwortete der Junge leise. Der dicke Mann lächelte und sagte: „Na ich kann nicht dein Vater sein, … aber für Ziegen interessiere ich mich auch“. „Den Kräuterverband hab ich drauf getan, damit der Huf von dem Bock wieder verheilt, er hatte sich am Draht verletzt, glaube ich“, sagte der Halbwaise schnell und begann wieder den Verband um den verletzten Fuß zu wickeln.
„Es ist nicht lange her, dass dein Vater gestorben ist, und du bist bei den Ziegen?“, fragte der dicke Mann. Der Knabe antwortete nicht. Der Ziegenhirte steckte sein Tuch in seine Tasche und drehte sich in Richtung Tal. Er machte einen Schritt, hielt inne, dachte an den Brief und fragte: „Wem gehören die Ziegen, Junge?“ Dieser sah von seiner Arbeit auf, dachte kurz nach: „gehören?“. Dann setzte er seine Tätigkeit fort und sagte: „Das kommt darauf an! Im Winter gehören die Ziegen in den Stall und im Sommer auf die Weide“. Der dicke Mann lachte auf. „Ja! Die Ziegen gehören auf die Weide“, wiederholte er noch immer lachend, drehte sich schließlich um und ging langsam zum Tal hinunter.