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Der Sohn
Am Morgen-
Am Morgen fanden die Eltern den Sohn in seinem Zimmer erhängt. Der Vater stand da und wollte nichts verstehen, bald aber begann die Mutter zu schreien. Es dauerte lange, eh die Polizei gerufen wurde.
Vor dem Haus hielt ein Wagen und die Leute versammelten sich neugierig.
Der Fall war klar. Einen Abschiedsbrief gab es nicht, nur zwei Wörter:"Ich muss".
Als der Leichenwagen kam, trug man ihn mit den Füßen zuerst heraus, wie es üblich ist. Der Kommissar stellte noch einige überflüssige Fragen, als ob er einen Schuldigen finden wollte, was nicht seine Aufgabe war.
Man rief einen Psychologen, dass er sich der Eltern annehme. Die Furcht der Leute vor den Tränen der Eltern besiegte ihre Schaulust, und die Menge verzog sich. Man sagt, die Eltern blieben zuerst bei weit entfernt lebenden Verwandten oder sie seien in psychiatrischer Behandlung. Nur einmal kamen sie wieder, das war, als sie auszogen. Sie standen da und schauten den Fuhrleuten zu, wie sie alles aus dem Hause trugen. Eine furchtbare Ruhe ging von ihnen aus. Kein Nachbar erschien, ihre Angst war zu groß.
Nur die Gardinen bewegten sich, aber die Eltern sahen es nicht, sie sahen gar nichts mehr.
Mit der Zeit wurde die Furcht der Leute kleiner und sie begannen im Stillen darüber zu tuscheln, was wohl der Grund für das Schreckliche gewesen wäre. Am Beginn jeden Gespräches dieser Art beteuerte man sich gegenseitig, wie schrecklich und unvorsehbar das Geschehnis gewesen sei und der Form halber frug man sich, wie es den armen Eltern wohl ginge. Dann aber begann der eigentliche Teil des Gespräches.
Jeder frug den Anderen, was er glaube, was der Grund für diese Tat gewesen wäre. Und zögerlich, dann aber immer lebhafter begannen die Leute die Möglichkeiten zu erörtern, neue Theorien aufzustellen, andere zu erwägen, wieder andere zu verwerfen.
Wenn dann ein Kind zufällig hineinkam, verstummten die Leute, aber gewöhnlich ergriff einer aus der Runde der Erwachsenen das Kind unterm Kinn und frug es mit forschendem und besorgtem Blicke, ob es denn auch brav gewesen sei. Wenn dann das Kind mit einem Kuchenstück weglief, oder auch ohne, war es froh, dass es nicht weitere blöde Fragen beantworten musste. Dabei schauten ihm die Älteren nach und einer sagte gewöhnlich: "Nein, normal war das nicht."
Wenn dann die Leute doch weiter rätselten, was der Grund für diese Tat gewesen wäre, so wurde Vielerlei geäußert.
"Ich habe gehört, er sei drogensüchtig gewesen", sagte die eine.
"Nein, nein, er war einfach verrückt," meinte ein anderer, "Wisst ihr, man hat sich über ihn lustig gemacht, er war ein Trottel."
"Ja, ja, er war wohl einsam, sagt man-" sprach ein weiterer. "Da habe ich aber Anderes gehört, er war ein Perverser, ein Monster," widersprach der nächste "Es ist gut, dass er sich umgebracht hat, sonst hätte er noch irgendwem was angetan." "Ach, du weißt doch gar nicht, was du da redest," unterbrach ihn dann gewöhnlich seine Frau "vielleicht war er einfach unglücklich verliebt", ohne zu bedenken, dass das vielleicht dasselbe war.
Und Vieles sprach man in trauter Runde, da aber die Stadt groß war und die Nachbarn sich nicht sonderlich um einander kümmerten, hatte niemand den Sohn wirklich gekannt und irgendwann schwieg die Runde wieder, nicht ohne zuvor ihr Bedauern ausgedrückt zu haben, und wandte sich einem anderen Thema zu.
Und wie es sein muss, sprachen die Leute immer seltener darüber und vergaßen den Fall mit der Zeit.
Aber eines Tages fand ein Kind auf dem Dachboden des Hauses einen Kasten mit einer Schreibmappe.
Weil es jedoch erst seit kurzem lesen konnte und die Schrift nicht zu entziffern vermochte, brachte es den Kasten mit der Mappe seiner Mutter. Was in der Mappe stand, war aber so unerhört, dass es, obwohl es wirr und unfertig schien, beachtet werden musste, zumal die schreckliche Tat des Sohnes jenem ja in gewisser Weise eine Bedeutung zumaß.
Weil aber die Leute so Unerhörtes nicht hören wollten, wurde es Gebot unter den Nachbarn, sobald sie es einmal im Geheimen gehört hatten, niemals darüber nicht zu sprechen, und falls einer dann doch auch nur den Namen des unfruchtbaren Geschlechtes erwähnte, ohne selbst an das Unerhörte zu denken, etwa weil er vorgab, etwas von den Eltern zu wissen, blickten ihn die anderen so an, dass er bald verstummte.
So wurde die Geschichte vergessen, und doch nicht vergessen, denn wer weiß, ob nicht manch einer in schlafloser Nacht an das Unerhörte dachte, wovon niemand sprechen durfte, und sich frug, ob ihm auch Solches zustoßen könnte.
Einer muss jedenfalls daran gedacht haben, denn irgendwann fand sich auf den schwarzen Stein des verwahrlosten Grabes des Sohnes am Rande des Friedhofes dahingelegt, wo niemand vorbeiging und wenn doch, dann nur ungern, ob aus Furcht vor den Göttern, ob aus schlechtem Gewissen, ob aus unnützem Mitleide, ob aus irgendeinem anderen rätselhaften Grunde, eine weiße Rose.