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Der Sommer nimmt und der Sommer gibt

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12.01.2025
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Der Sommer nimmt und der Sommer gibt

Als ich noch ein Kind war, lehrte mich meine Mutter ein Sprichwort: Der Sommer nimmt und der Sommer gibt. Nun hatte er mir meine Mutter genommen und ich fragte mich, was würde er mir dafür geben?
Momentan blieb mir keine andere Wahl, als weiter dem Zug der Karawane zu folgen. Ich spürte den Stich der Hitze im Nacken, denn mein Kapuzenmantel vermochte nicht länger zu kühlen. Die Sonne hing am Himmel wie ein unerbittlicher Herr, der mit glühender Peitsche sein Vieh vor sich hertrieb. Die Schritte vor mir wurden langsamer. Es waren vor allem die Kranken und Schwachen, die unser Fortkommen verzögerten. Ich sah ihre langgezogenen Gesichter, die trockene, sonnengegerbte Haut, die müden Augen, in denen die Hoffnung schwand, und mir selbst erschien die Aussicht auf eine Wasserquelle wie ein weit in die Ferne gerückter Traum. Die Blätter an den Bäumen hatten jegliches gesundes Grün verloren und die Schatten ihrer knorrigen Äste begannen unter den sengenden Strahlen weiter zu schrumpfen. Vereinzelt erblickte ich Gräser, die die gleiche Farbe von ausgeblichener Trockenheit wie der Erdboden angenommen hatten, als verkomme alles langsam zum gleichen eintönigen, gelben Staub, der uns am Horizont die Sicht versperrte.
Wir passierten ein langgezogenes Becken, dessen Zentrum von tiefen Rissen durchzogen war, während sich um den Rand Tierkadaver sammelten. Ich zog mir meinen Gesichtsschal über die Nase, als der Verwesungsgeruch zu mir vordrang. Die Geier labten sich an den Kadavern, in dem sie Fleischreste mit ihren großen blutigen Schnäbeln herausrissen. Solvar, die Zwillingsgottheit des Sommers mit den zwei Gesichtern, forderte ihren Tribut von Menschen, Tieren und Pflanzen.

Ich konnte bereits das Ende des Beckens erkennen, als ein Horn aus der Ferne ertönte. Es hatte den unverwechselbaren Klang des Büffelhorns, wie es in seiner Verwendung nur den Stammeskriegern gestattet war. Einer von ihnen eilte zu mir herüber. Er trug einen Speer in der Hand, dessen Ende silbrig in der Sonne glitzerte, und die Embleme auf seiner Kleidung wiesen ihn als einen der erfahrenen Krieger aus, die schon viele Sommer gesehen hatten.
»Werte Schamanin«, sagte er, »wir haben die Höhlen erreicht. Der Häuptling bittet um eure Anwesenheit!«
»Führt mich zu ihm«, antwortete ich, und ich folgte dem Krieger vorbei an den in Aufruhr geratenen Menschen, die weiter nach vorne zum Ton des Horns strebten. Ihre Blicke waren geradeaus zum staubbedeckten Horizont gerichtet, wo sich mit jedem Schritt mehr ein Schemen von imposanter Größe abzeichnete. Doch einige sahen erwartungsvoll zu mir herüber, als der Krieger und ich sie festen Schrittes überholten.
Schließlich konnte ich aus der Nähe die Eingänge zu den Höhlen erkennen, wie ich sie nur aus den Erzählungen meiner Mutter kannte. Sie ragten stolz aus dem Staub empor wie die steinernen Gesichter unserer Ahnen, die mit unergründlicher Miene das Tor zu ihrem dunklen Reich bewachten.

Vor dem Eingang bildetet sich eine Traube von Menschen. Ihre Stimmen mischten sich zu einer Dissonanz von Kinderschreien, Stöhnen und Jubel. Ich konnte nicht sagen, ob es Freude oder doch Klagen war, das sie erfüllte.
Der Häuptling tauchte seine Finger in die mit Farbe gefüllte Tonschale und strich mir die Symbole von Solvar über Wangen und Stirn.
»Wir haben den Marsch überstanden. Jetzt liegt es allein an euch«, sagte er, und in seiner Stimme schwangen sowohl Zweifel als auch Erwartung mit.
»Der Sommer wird uns geben«, entgegnete ich. Der Häuptling schwieg für einen Moment, wischte sich die Farbe von den Fingern und musterte mich mit dem Blick seiner tiefliegenden, alten Augen.
»Was ist, wenn es wahr ist, was die Ältesten des Stammes erzählen. Was ist, wenn Solvar uns verlassen hat?«
»Er wird sein zweites Gesicht bald offenbaren«, sagte ich entschlossen, »meine Mutter lehrte mich, die Zeichen zu deuten. Ich sehe es im Flug der Geier und im Wurf der Schatten.«
»Eure Mutter hätte den Marsch nicht gewagt, denn sie kannte die Unbarmherzigkeit des Sommers. Ihr seid fast noch ein Kind. Die wenigen Sommer, die ihr erblicktet, waren reich an Wasser.«
Ich spürte, wie die Zuversicht in meinem Kopf wie der Boden unter meinen Füßen Risse bekam. Da war sie wieder, die Verantwortung, die der Tod meiner Mutter mir aufgebürdet hatte. Sie hatte das Amt der Schamanin an mich weitergebeben, wie es im Stamm seit Generationen von Mutter zu Tochter üblich war.
»In den Höhlen werden wir die Quelle finden und ihr Wasser wird den Stamm nähren«, sagte ich.
Der Häuptling presste die Lippen aufeinander und nahm meine Hand.
»Eure Mutter hatte ein starkes Band zu Solvar. Die Quelle offenbart sich nur der Schamanin, die sich Solvar als würdig erweist. Einen weiteren Marsch durch das Ödland schaffen wir nicht. Beweist mir, dass es klug war, auf euren Rat zu vertrauen.«
Ich brachte kein weiteres Wort über die Lippen und nickte nur. Die Geste eines der Stammeskrieger, der mit dem Speer auf den Eingang der Höhle wies, riss mich aus meiner Sprachlosigkeit. Ich ging voran und die Krieger des Stammes folgten mir. Um mich herum wurde es dunkel.

Der Schein der Fackeln erhellte den schmalen Durchgang, der sich tiefer in das innere des Berges bohrte. Die Stimmen der Menschen wurden zu einem hintergründigen Rauschen und verstummten schließlich. Das Knistern der Fackeln und die eigenen Schritte auf dem blanken Fels drangen in den Vordergrund. Glattgeschliffenes Gestein erzählte die Geschichte von Wasser, das einst diesen Gang erschaffen hatte. Ich versuchte, nach der Quelle Ausschau zu halten, doch die Unebenheiten des Bodes zwangen mich immer wieder meinen Blick nach unten zu richten, um nicht zu stolpern. Der Gang wurde breiter und ging in eine große natürliche Halle über, dessen Ausmaß ich nicht erkennen konnte. Um uns herum war nur noch die Stille einer nicht enden wollenden Dunkelheit. Ich tastete mich langsam weiter voran und meinen eigenen Gedanken erschienen mir ungewöhnlich laut. Die Quelle musste direkt vor uns liegen, denn ich hatte diese Halle zuvor im Traum gesehen. Doch war es wirklich eine Eingebung Solvars gewesen, die mich und den Stamm an diesen Ort geführt hatte? Die Worte des Häuptlings lasteten schwer auf mir. Ich sah den Marsch der letzten Tage vor meinen Augen, das Leid, das ich den Stamm aufgebürdet hatte, und das Gesicht meiner Mutter in ihren letzten Atemzügen, als die Hitze des Sommers ihr das Leben nahm. Mit meiner Entscheidung hatte ich alles in die Waagschale geworfen. Mein Schicksal als Tochter der Schamanin war das Schicksal des Stammes geworden.

Vor mir breitete sich ein Torbogen aus, dessen perfekter Schwung kein Wasser auf natürliche Weise formen konnte. Wandmalereien säumten die Wände und zeigten Menschen unter den zwei Gesichtern der Sommers. Die Geschichten meiner Mutter mussten wahr sein und unsere Vorfahren hatten zuvor an diesem Ort gesiedelt. In der Mitte des Torbogens klaffte ein dunkles Loch, aus dem ein Graben entsprang, der sich in unvorhersehbaren Windungen durch den Stein schraubte. Wir hatten die Quelle gefunden. Ich lief als erstes vorweg und als ich den Torbogen erreichte, traf mich die Last der letzten Tage wie ein Schlag. Ich griff mit der Hand nach dem Wasser, doch alles was ich fand, war trockener Sand, der mir durch die Finger glitt, wie das letzte bisschen Hoffnung, das in jenem Moment meinen Verstand verließ.
»Solvar hat uns verlassen«, hauchte ich und wagte meinen Blick nicht zu den Kriegern zu wenden. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, hatte ich das Gefühl, dass mich ihre Blicke in diesem Moment zu Boden drückten.
»Die Ältesten hatten recht! Ihr habt uns verdammt«, sagte einer. »Wir hätten den Marsch nicht wagen dürfen«, sagte ein weiterer. »Eure Mutter hätte gewusst, was zu tun ist«, sagte ein dritter.

Der Aufstieg kam mir vor wie eine Ewigkeit. Wir alle schwiegen und unsere Blicke wichen einander aus. Wie konnte ich noch die Kraft aufbringen, meinem Stamm die fürchterliche Botschaft zu überbringen. Mein Herz pochte, als wir wieder in das Licht traten, doch dann ergoss sich Wasser wie ein gewaltiger Quell über unsere Köpfe. Der Horizont zerfloss in einer Wand aus Regen und Wind und verwandelte den trockenen, rissigen Boden in Schlamm. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich die Menschen tanzen, singen und lachen sah. Der Sommer hatte mir meine Mutter genommen, doch er hatte mir und meinem Volk eine neue Zukunft gegeben.

 

Hallo @Nachtgoblin,

ein etwas mystischer Text, habe einige Stellen gefunden, die mir nicht so treffend erscheinen, schau halt mal:

Wir passierten ein langgezogenes Becken, dessen Zentrum von tiefen Rissen durchzogen war, während sich um den Rand Tierkadaver sammelten.
"während" ist eigentlich ein zeitlicher Begriff. Klingt so, als ob sich die Kadaver nach und nach versammeln.

Die Sonne hing am Himmel wie ein unerbittlicher Herr, der mit glühender Peitsche sein Vieh vor sich hertrieb.
Hier würde ich den Fokus nicht ganz vom Menschen weg, zum Vieh lenken. Vielleicht 'die Menschen wie Vieh ...'

Ich sah ihre langgezogenen Gesichter, die trockene, sonnengegerbte Haut, die müden Augen, in denen die Hoffnung schwand,
Wenn die Leute vor ihr marschieren, sieht sie die Gesichter nicht. (Vorschlag: Wenn sie sich zu mir umdrehten, sah ich ihre gequälten ...).

die Schatten ihrer knorrigen Äste begannen unter den sengenden Strahlen weiter zu schrumpfen. Vereinzelt erblickte ich Gräser, die die gleiche Farbe von ausgeblichener Trockenheit wie der Erdboden angenommen hatten, als verkomme alles langsam zum gleichen eintönigen, gelben Staub, der uns am Horizont die Sicht versperrte.
Eine gute Passage, die die wütende Hitze eindringlich beschreibt.
Trotzdem: Trockene Münder, der wiederholte Versuch, einem Wassersack noch einen Tropfen zu entlocken ... da ist noch mehr möglich.

Ich zog mir meinen Gesichtsschal über die Nase, als der Verwesungsgeruch zu mir vordrang
Das ist zu harmlos erzählt - wie muss es da stinken! Wie wirkt das auf die Moral der Gruppe, die verdursteten Tiere zu sehen?

»In den Höhlen werden wir die Quelle finden und ihr Wasser wird den Stamm nähren«,
"nähren" ist wissenschaftlich nicht korrekt, aber die Aussage ist auch zu harmlos, gemessen an der Wichtigkeit des Wasserfunds.

Der Schein der Fackeln erhellte den schmalen Durchgang, der sich tiefer in das innere des Berges
Innere

Ich griff mit der Hand nach dem Wasser, doch alles was ich fand, war trockener Sand, der mir durch die Finger glitt, wie das letzte bisschen Hoffnung, das in jenem Moment meinen Verstand verließ.
»Solvar hat uns verlassen«, hauchte ich
Das ist so eine entscheidende Situation - ich denke, man muss verdeutlichen, warum nur die Schamanin Wasser finden kann (im Sand wühlen könnte jeder. Vielleicht darf nur sie in den heiligen Bereich ...).

»Die Ältesten hatten recht! Ihr habt uns verdammt«, sagte einer. »Wir hätten den Marsch nicht wagen dürfen«, sagte ein weiterer. »Eure Mutter hätte gewusst, was zu tun ist«, sagte ein dritter.
Dreimal 'sagen'.
Nach dem ersten Absatz könnte schon erwähnt werden, dass es hier um eine Schamanin geht, die eine schwere Bürde von ihrer Mutter übernommen hat. Damit ist das Geschlecht festgelegt und man kann sich fragen, worin ihre Last besteht, was wohl passieren wird.

"Der Sommer hatte mir meine Mutter genommen, doch er hatte mir und meinem Volk eine neue Zukunft gegeben."
Das hat mir gefallen, die gedankliche Rückführung auf den Anfang, die isolierte Situation des Wasserfindens wird in einen größeren, allgemeinen Zusammenhang gebracht!

Eigentlich eine gut zu lesende Story, mit Verbesserungs-Potenzial. Mal sehen, wie du das Ganze noch intensiver gestaltest.

LG,

Woltochinon

 

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