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Der Sonnenblumenraum
Die Sonnenblume
„Kommst du am Samstag auch zu Ulis Party?“, fragte meine Freundin Jana mich in der großen Pause. Ich zuckte die Schultern: „Keine Ahnung, muss ich meine Mutter fragen“, gab ich lustlos zurück. Dabei wusste ich schon, das sie es mir verbieten würde. Ich hörte schon ihren Einwand: „Du kannst mich doch nicht mit den Kleinen alleine lassen. Du weißt, ich muss mich schonen.“
Und ich würde wie immer klein beigeben und zu Hause bleiben und meine Geschwister versorgen. So war das schon, seit meine Mutter aus dem Krankenhaus wiedergekehrt war. Jochen, mein großer Bruder, würde wieder auf Feten gehen und mir die Arbeit überlassen. Jana strich sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Sie dachte ungefähr dasselbe wie ich. Ich hatte es ihr schon des öfteren erzählt, wie das bei uns zu Hause nun ablief. Sie seufzte: „Du kannst dir doch nicht deine Freizeit versauen lassen“, sagte sie böse und ihre dunklen Katzenähnlichen Augen blitzten, „du sollst doch auch mal was machen dürfen.“ Ich nickte und fuhr durch mein kurzen schwarzen Haare.
Ich hatte sie mir abschneiden müssen, weil Mama das praktischer fand.
Ich brauchte nun nicht mehr so lange im Badezimmer und konnte mich so um den Haushalt kümmern. Vorher waren sie noch länger gewesen als die von Jana. Und Janas hingen schon fast bis zum Po. Nur heute hatte sie sie hochgesteckt. Da klingelte es und wir mussten in die Klasse zurück.
„Ich versuche es“, raunte ich Jana noch zu, bevor sie zum Kursraum der Französischschüler ging. Aber eigentlich wusste ich, dass es unmöglich war. Meine Chancen standen so hoch wie die eines Lottogewinns, dass meine Mutter es mir erlauben würde.
Zu Hause warf ich meine Tasche auf den nächststehenden Küchenstuhl und ging ins Wohnzimmer. Ines und Maleen saßen vor dem Fernseher und schauen sich mit Mama, die auf dem Sofa hinter ihnen lag, eine Talkshow an. „Hallo!“, rief ich und setzte mich auf die Couch.
„Hallo mein Schatz“, begrüßte Mama mich und gab mir einen Kuss.
Danach glitt ihr Blick wieder zur Flimmerscheibe.
Sie schien heute gut drauf zu sein. Also die richtige Zeit um zu fragen.
Ich räusperte mich: „Mama“, fing ich an. Sie wandte ihren Kopf nun wieder mir zu. Guckte mich mit ihren hellblauen Augen an und wartete auf meinen nächsten Satz. „Darf ich Samstag mit Jana auf Ulrikes Party?“ Schnell und mit belegter Stimme hatte ich das gesagt und wartete nun gespannt auf ihre Reaktion. Die fiel überraschend positiv aus. „Von mir aus. Aber dass du mir im Punkt 12 Uhr zu Hause bist und dich den ganzen Sonntag um Ines, Maleen und Claudias kümmerst. Karin nehme ich mit in die Klinik.“ Ich strahlte und fiel ihr um den Hals. „Na ja“, meinte sie verlegen, „verdient hast du es dir ja.“ Schnell ging ich in die Küche und fing an, das Mittagessen vorzubereiten.
Eine Stunde später saßen alle um den Küchentisch versammelt und aßen Kartoffeln, Gemüse und Apfelmus. Nur bei Papa und Jochen fand sich auch noch ein großes Stück Fleisch auf dem Teller. Ich beobachtete Jochen beim Essen. Wir hatten dieselbe Mutter und glichen uns kaum. Weder vom Aussehen noch vom Charakter. Ich glich eher unserer verstorbenen Mutter: Die graugrünen Augen, die schwarzen Haare und die Gesichtszüge.
Jochen kam nach unserem Vater. Die dicke Knollennase, braune Haare und Augen und der Körperbau. Beide waren echte Riesen. Vater maß 1,98 und Jochen 1,95. Dabei war er gerade mal 16. Kurz nach meiner Geburt war unsere leibliche Mutter gestorben. Wir konnten uns beide kaum noch an sie erinnern. Viele Jahren lang lebten wir mit Vater alleine in einer kleinen Wohnung in der Innenstadt. Bis er Hannelore kennen lernte.
Sie heirateten schnell und sie bekam die Zwillinge Ines und Maleen.
Doch schon ein Jahr später scheiterte die Ehe und Papa bekam das Sorgerecht von den Zwillingen. Kurze Zeit später lernte er seine jetzige Frau, Christin, kennen. Sie brachte Claudias mit in die Ehe, und kurz bevor sie an Krebs erkrankte schenkte sie Papa sein fünftes Kind, Karin. Wir waren eine richtig zusammengewürfelte Familie. Doch stört das niemanden.
Ich nannte Christin überall meine Mutter, außer manchmal, und sie störte das nicht im geringsten. Nur Jochen nannte sie immer beim Namen. Er hing sehr an unserer Mutter. Und auch mit Hannelore war er besser klar gekommen als mit Christin. Er mochte sie nicht. Vielleicht ließ er sich deshalb von ihr nichts sagen.
„Hallo, Schwesterchen, kannst du mich hören“, riss mich da Jochen aus meinen Gedanken. „Das heißt Erde an Lena“, korrigierte ihn Claudias und patschte mit der Gabel in seinem Apfelmus, das der über den ganzen Tisch spritzte. „Lass das“, rügte Vater ihn und nahm ihm die Gabel weg. „Was ist?“, fragte ich verwundert. Jochen grinste: „Ach nichts. Christin hat uns nur grad erzählt, dass du am Samstag auf eine Party gehst. Ich wundere mich nur, dass sie dir das erlaubt.“ Christin wurde rot. „Jochen“, schalt Papa ihn und legte einen Arm um seine Frau. „Aber ich muss ihm recht geben“, murmelte sie leise, „Lena musste in letzter Zeit wirklich oft zu Hause bleiben und sich um alles kümmern.“ „Jochen hätte mir ja auch mal helfen können“, nahm ich sie in Schutz. Sie sah wirklich wie ein Häufchen Elend aus, wie sie da zusammengesunken in Vaters Armen lag. Jetzt konnte man auch deutlich sehen, wie dünn und blaß sie geworden war. Vor der Chemotherapie hatte sie einige Kilo zuviel auf die Waage gebracht, jetzt wog sie nur ein wenig mehr wie ich. Ihre Haare waren zwar ein wenig nachgewachsen, aber einen kahlen Kopf hatte sie trotz allem noch. Die Krankheit hatte ziemlich an ihr gezehrt. Mit einem Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, stand Jochen auf: „Ich geh mal lieber, hier dreht sich ja doch alles nur wieder um Christin.“ Dann ging er in sein Zimmer. „Der spinnt doch“, meinte Maleen sachlich und auch Papa murmelte etwas von „Den knöpfe ich mir gleich mal vor.“
Kurze Zeit später waren wir fertig, und Christin half mir den Tisch abzudecken. „Tut mir Leid, dass Jochen das gesagt hat“, sagte ich und ließ Wasser ins Spülbecken laufen. Sie zuckte die Schultern: „Du kannst ja nichts dafür.“ Seufzend lehnte sie sich gegen den Kühlschrank. Dann fing sie unvermittelt an zu weinen. „Was ist denn, Christin?“, fragte ich besorgt und stellte das Wasser ab. Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Tasche und schnäuzte sich: „Wieso habe ich so gar keine Gewalt über ihn? Wieso lasse ich ihm alles durchgehen?“ Ich fing an, die Teller abzuspülen: „Er ist in einem schwierigen Alter“, zitierte ich Susanna „Du auch, und trotzdem bist du anders und verlangst nicht soviel und hilfst wo du kannst.“ Dafür hatte ich kein Argument mehr. Da kam Papa herein. „Jochen hat bis Sonntag Stubenarrest und er hilft Lena im Haushalt und mit den Kleinen. Sonntag übernimmt er diesen Dienst alleine, damit Jana sich von der Party ausruhen kann.“Ich lächelte und bekam noch bessere Laune als ich sowieso schon hatte. Das ganze Wochenende frei, und ich durfte machen was ich wollte! Zu schön, um wahr zu sein.
Nachdem ich mit dem Küchendienst fertig war, rief ich Jana an und erzählte ihr von meinem freien Wochenende. „Mensch, ist ja super.“ Sie war genauso begeistert wie ich. „Weißt du was? Morgen kommst du schon etwas eher zu mir und wir gucken, welche Klamotten du anziehen kannst. Dann schminken wir dich, und dann kann es los gehen.“ Ich stimmte zu.
Wir quatschten noch eine Menge belangloses Zeugs und dann legte ich auf. Voller Freude ging ich in mein Zimmer. Na ja, alleine mein Zimmer war es nicht. Maleens und Ines Zimmer war es auch. Die beiden saßen auf Maleens Bett und spielten, sie seien Meerjungfrauen und müssten vor einem Bösewicht fliehen. Das war ihr Lieblingsspiel. Ich stellte mich vor den großen Zimmerspiegel und überlegte, welche Sachen am besten aus Janas Kleidersammlung zu mir passen würde. Ihre weiße, weite Jeanshose und das hellblaue Top mit dem Glitzerstaub darauf, das wäre perfekt. Die Frage war nur, ob sie mir ausgerechnet diese Sachen lieh. Konnte ja auch sein, dass sie die selber anziehen wollte. Ich war wirklich schon zu lange nicht mehr auf einer Party gewesen.
Das Flirten hatte ich bestimmt schon längst verlernt. Meine Nervosität stieg. Dabei blieb ich doch sonst immer ruhig. Vorher hatte ich stets Jana beruhigen müssen, weil die vor lauter Aufgeregt sein nicht mehr wusste wohin. „Quatsch keinen Unsinn, Lena“ sprach ich zu mir selbst und setzte mich auf mein Bett. Maleen und Ines hörten auf zu spielen. „Hast du was gesagt?“, fragte mich Maleen. Ich schüttelte den Kopf und schaltete mein kleines Radio an, das neben meinem Bett stand. Groß war das Zimmer nicht, und erst recht nicht groß genug für drei Leute. Es passt so eben das Hochbett der Zwillinge, mein Schreibtisch und mein Bett sowie meine kleine Kommode mit Klamotten hinein. Die Anziehsachen der Zwillinge waren in Papas und Mamas Schrank untergebracht. Jochen hatte es gut. Er hatte sein eigenes Zimmer. Claudias und Karin schliefen im Zimmer meiner Eltern.
Wir hatten nur eine 5 Zimmer Wohnung. Für 7 Leute war sie ein wenig sehr klein. Aber Christin hatte mit dem Beginn ihrer Krankheit aufgehört zu arbeiten und von Vaters Gehalt konnten wir so eben die Miete und die Rechnungen bezahlen. Außerdem das Essen und was sonst noch so anfiel. Eine größere Wohnung war absolut nicht drinne. Aber wir lebte schon lange auf so engem Raum und hatten uns daran gewöhnt. Und die festen Regeln machten es allen leichter. So durfte zum Beispiel um die Mittagszeit herum nur leise gespielt werden, da Jochen, Claudias und ich Hausaufgaben machen mussten und weil Christin dann meistens schlief. Wenn ich Hausaufgaben machte oder lernte, durften die Zwillinge nur im Zimmer sein wenn sie lasen. Und das konnten sie ja noch nicht. Die Hausaufgabenzeit fand ich deshalb immer am schönsten. Das war die einzige Zeit, die ich dann alleine im Zimmer verbringen durfte. Leise sein hieß es allerdings meistens. Zumindest seit Christin krank war. Sie schlief die meiste Zeit.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und malte wahllos Kringel auf ein weißes Blatt. „Freust du dich so, weil du Samstag auf die Party darfst?“, erriet Ines meine Gedanken. Ich nickte. „Was ist daran schon so toll? Da hört man nur den ganzen Abend laute Musik und muss sich von doofen Jungs anlabern lassen“, war Maleens Meinung. „Ihr seid noch zu klein, ihr versteht das noch nicht.“ Das empfanden die beiden als Beleidigung und deshalb redeten sie bis zum Abendessen kein Wort mehr mit mir.
Meine Hausaufgaben erledigte ich ausnahmsweise in der Küche.
Danach half ich Claudias, der in Mathe nicht weiterkam.
Um halb 4 bat Christin mich mit Karin und Claudias einkaufen zu gehen.
Als ich auch das hinter mich gebracht hatte, gab es schon Abendessen und danach ging ich schnellstens ins Bett, damit Christin mir nicht noch mehr Aufgaben aufbürden konnte.
Die nächsten drei Tage bis Samstag vergingen quälend langsam, obwohl ich genug zu tun hatte. Die Vormittage waren mit Schule ausgebucht, die Nachmittage verbrachte ich mit Hausaufgaben und Geschwister aufpassen. Dann endlich war Samstagabend. Ich hatte von Jana eine schwarze Hose und das hellblaue Glitzertop bekommen. In den ungewohnten Klamotten und mit gewaschenen Haaren ging ich ins Wohnzimmer, um mich von Christin zu verabschieden. Sie lag blaß auf dem Sofa und starrte Löcher in die Luft. Sie sah schlecht aus. Bestimmt war ihr wieder nicht gut. „Ich gehe dann, Christin“, sagte ich leise. Sie sah mich nun an und in ihren Augen standen Tränen. „Ich habe so eine Angst, Lena.
Ich will nicht die ganze Tortour wieder durchmachen müssen.“ Ich setzte mich neben sie: „Das musst du auch bestimmt nicht. Morgen verläuft der Termin so wie alle anderen. Du wirst wieder ganz gesund, du musst nur selber daran glauben.“ Ich versuchte meiner Stimme einen zuversichtlichen und festen Klang zu geben, was mir ganz gut gelang. Papa hatte uns eingeschärft, Mama immer Mut zu machen und sie zu unterstützen wo es nur ging. Christin schloss die Augen und war im selben Moment eingeschlafen. Leise verließ ich die Wohnung.
15 Minuten später saß ich auf Janas Drehstuhl vor ihrem großen Zimmerspiegel. Sie schminkte mich mit Hingabe und nach ein paar Minuten erkannte ich mich selber nicht wieder. Meine Pickel waren mit einem mal verschwunden, dafür hatte ich jetzt ein glatte, gesund aussehenden Haut. Sie hatte mir ein wenig Lidschatten aufgetragen und mit schwarzem Kajal meine Augen umrandet. Richtig geheimnisvoll sah ich aus.
Vor allem wirkten meine Augen nun nicht mehr so unnatürlich groß wie sonst immer. Auch an Wimperntusche hatte sie nicht gespart. Irgendwann drehte sie mich zu sich um und pfiff durch die Zähne: „Mensch, siehst du gut aus. Da muss ich mich ja mal selber loben.“ „Sehe ich denn sonst immer so schrecklich aus?“, fragte ich gekränkt. „Nein, ach quatsch“, sagte sie schnell versöhnlich. Ich musste grinsen weil ich selber immer zu ihr sagte, dass kein Mensch schrecklicher aussehen kann als ich. Jana musste lachen und fing an meine Haare zu machen. „Sonst werden wir hier nie fertig“, meinte sie.
Doch schon 10 Minuten später verließen wir gutgelaunt das Haus.
Jana hatte einfach ein paar Strähnen genommen, sie geflochten und hinten mit einem dünnen Haargummi zusammengebunden. Sie meinte, ich sähe nun vom Gesicht her aus wie eine Elfe.
Bis zu Ulrike war es nicht weit, sie wohnte nur ein paar Straßen weiter. Schon von weitem hörte wir laute Musik. Uli hatte uns nur verraten, dass es eine Gartenparty sein würde, mehr nicht.
Schnell mischten wir uns unter die Leute. Es waren bestimmt schon an die 40 Freunde von ihr da, aber das merkte man in dem großen Garten gar nicht.
Es gab ein Zelt, wo man Bratwürstchen und Trinken bekommen konnte und ein große Tanzfläche. Erst nach einigem Suchen fand ich Ulrike.
Sie war umringt von Leuten aus meiner Klasse. Sie begrüßten mich verwundert aber freundlich. Das lag wahrscheinlich daran das ich schon seit einem Jahr bestimmt schon auf keiner Party mehr gewesen war, obwohl ich zu den Fetengängern der Klasse gehörte. Ich gab ihr mein Geschenk.
Ein Notizbuch und einen Kugelschreiber. Sie bedankte sich dafür und stellte mir einen Jungen aus der Parallelklasse vor. „Das ist Patrick.“
Ich lächelte ihn an und er grinste nett. Schlecht sah er nicht aus. Schwarze Haare die bis zu den Ohren reichten. Braungebrannt, braune Augen und ein offenes Gesicht. Ein Junge zum Verlieben! Aber das konnte ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Deshalb drehte ich mich um und wollte zur Tanzfläche gehen, da hielt er mich am Handgelenk fest und schaute mir in die Augen. Ich konnte mich nicht mehr von der Stelle rühren. „Wie heißt du?“, fragte er. „Lena“, flüsterte ich und wunderte mich, das er durch den Lärm um uns rum meinen Namen verstand. Er nickte und ließ mich los. Dann verschwand er in der Menge. Komischer Kauz! Wieso hatte er unbedingt meinen Namen wissen wollen? Da kam Jana auf mich zu und wir gingen zur Tanzfläche.
Von Patrick erzählte ich ihr nichts. Wir tanzten bis uns die Knochen wehtaten und wir Durst bekamen. An der Bar holte Jana für mich ein Cola und für sich eine Sprite und wir setzten uns auf die Mauer, die die Terrasse umgab.
Wir schlürften unsere Getränke und beobachteten die Leute. „Die meisten kenne ich gar nicht“, gab Jana zu. Da kam Patrick auf uns zugeschlendert.
Oder kam er doch eher auf mich zu? Ich drückte Jana mein Glas in die Hand und raunte ihr zu: „Geh mal eben aufs Klo“, und verschwand. Aus den Augenwinkeln sah ich nur noch, wie Patrick verwirrt stehen blieb und Jana
ihn anstarrte. Er war bestimmt ihr Typ. Ich bahnte mir einen Weg durch die tanzenden und aufgedrehten Partygäste. Ulrike fand ich eng umschlungen mit einem aus der Oberstufe. Da wollte ich nicht stören und deshalb ging ich ohne Verabschiedung nach Hause. In dem Moment war es mir egal, ob Jana nachher sauer auf mich war weil ich ohne ein Wort zu sagen nach Hause gegangen war.
Zu Hause wusch ich mir die dumme Schminke aus dem Gesicht und putzte mir die Zähne. Die Welt, die mein Klassenkameraden alle kannten und hatten, war nicht mehr meine Welt. Sie trugen keine oder kaum Verantwortung.
Die meisten wussten wahrscheinlich nicht einmal wie man das Wort schrieb oder buchstabierte. Ich hoffte, nie mehr auf eine Fete eingeladen zu werden. „Was bist du denn schon wieder hier?“, fragte Jochen mich verwundert. Erschrocken fuhr ich herum. Der Blödmann hatte sich rangeschlichen. Wahrscheinlich hatte er als einziger noch im Wohnzimmer gesessen und sich eines seiner blöden Horrorvideos reingezogen. „Ich bin ziemlich müde“, gab ich vor und gähnte aus vollem Halse. Doch Jochen glaubte mir nicht und so blieb er so lange vor der Badezimmertüre stehen, bis ich mit dem Sachverhalt rausrückte: „Ich habe mich da einfach so fremd gefühlt. Ich gehörte nicht mehr dazu.“ Ich hoffte das reichte ihm als Erklärung. Jochen nickte: „Man fühlt sich so anders als alle anderen, klar, kenne ich.“ Er lächelte schwach, „war bei mir auch lange Zeit so. Jeder wusste von Christines Krankheit und sie behandeln einen sofort anders. Meistens fällt es denen selber gar nicht auf.“
Ich war erleichtert das es Jochen da so ähnlich erging wie mir. Dass da noch die Sache mit Patrick war, das verschwieg ich. Ich wollte nie mehr von ihm reden, geschweige denn an ihn denken. Ich wollte mich nicht in ihn verlieben, aber ich war auf dem besten Weg dahin. „Gute Nacht dann“, sagte ich und verschwand in Richtung Schlafzimmer. Jochen sah mich an, wollte noch was sagen, tat es dann aber doch nicht. „Nacht“, erwiderte er nur und ging ins Wohnzimmer zurück. Ich verkroch mich in mein Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Ich wollte nichts mehr sehen, hören und noch weniger denken. Doch ich konnte nicht schlafen. Zum einen weil es zu stickig unter der Decke war und zum anderen weil ich alles war, aber nicht müde.
Leise schlich ich aus dem Zimmer um die Zwillinge nicht zu wecken.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich Schüsse. Na, dann schaute Jochen wohl eher einen Film aus Papas Westernsammlung. Ich setzte mich neben ihn.
Keiner von uns sagte ein Wort. Schweigend guckten wir den Film und als er kurze Zeit später zu Ende war, schaltete Jochen den Fernseher aus und stopfte sich noch eine Hand voll Chips in den Mund.
Leise kauend reichte er mir die Tüte, doch ich schüttelte den Kopf.
Er schluckte und sagte, mit ein wenig Neugierde in der Stimme: „Es war noch was auf der Party, oder?“ Ich nickte. Jochen und ich verstanden uns zwar nicht immer gut, aber bei welchen Geschwisterpaar war das der Fall? Mit ihm reden konnte man immer, und ich wusste, das bei ihm alles gut aufgehoben war. In Sachen Verschwiegenheit hatte er mich noch nie enttäuscht. „Ein Junge?“, mutmaßte er weiter. Ich nickte abermals. Ich sah Jochen nicht an, merkte aber das er grinste. Oder ich konnte es mir denken. „Schwer erwischt?“ „Keine Ahnung“, gab ich zu, „ich will das gar nicht. Gibt doch nur Probleme.“ „Wem sagst du das. Das es solche Gefühle überhaupt gibt, könnte mich schon ankotzen.“ Das er das genauso sah wie ich wunderte mich. Jochen hatte seine erste richtige Freundin bereits mit 12 gehabt. Viele darauf folgten. Allerdings hielt es nie länger als 5 Wochen. Vielleicht suchte er auch nur einen Mutterersatz.Die Frage war nur, ob er so was unter gleichaltrigen fand. Die meisten waren sogar erheblich jünger gewesen als er. „Wie steht’s eigentlich mit der Jobsuche?“, fragte ich, um auf ein anderes Thema zu kommen. Prompt wurde Jochens Gesicht finster. Das sah ich sofort, obwohl nur die Lampe an der Küchenzeile brannte. Und die war nicht gerade nahe. „Nur Absagen. Ich habe ja nicht mal ne Ausbildung. Nicht mal auf dem Bau nehmen sie mich. Aber sag mal, seit wann brauch man da als Aushilfe ne Ausbildung?“ „Vielleicht solltest du dich wirklich erst mal für eine Ausbildungsstelle bewerben. So dringend brachen wir das Geld nun auch wieder nicht. Und so ein schlechtes Zeugnis hast du doch gar nicht.“ Jetzt wurde Jochen lauter: „Das Geld ist ja auch nicht für die Familie, du Pfeife. Das ist logischerweise für mich, damit ich hier möglichst schnelle rauskomme!“ Ungerührt sagte ich: „Sei doch leiser, ich bin noch nicht schwerhörig. Und solange du noch keine 18 bist, kommst du hier so oder so noch nicht raus.“ Jetzt sprang er auf: „Du eingebildete Ziege!“, donnerte er, „kannst du einen nicht einmal in Frieden lassen mit deinen blöden Sprüchen? Was ich mit
dem Geld mache ist ganz alleine meine Sache und geht am allerwenigsten dich was an.“ „Was ist denn hier los“, mischte Papa sich ein. Er stand, nur mit Boxershorts bekleidet, verschlafen in der Tür zum kleinen Flur und guckte böse von einem zum anderen. „Kein normaler Mensch kann bei dem Krach schlafen den ihr hier veranstaltet.“ Jochen drängte sich an mir und an Papa vorbei, ohne noch ein Wort zu sagen. Dafür bekamen wir beide böse Blicke zugeworfen. Dann hörten wir nur noch ein leises Türschließen. „Willst du denn dann jetzt nicht auch ins Bett gehen?“, fragte Vater mich.
Ich schüttelte den Kopf: „Ich möchte lieber noch hier bleiben. Ich kann sowieso nicht schlafen und ich würde nur die Zwillinge stören.“ „Probleme?“ „Nein, wie kommst du darauf?“ Müde drehte er sich um und zuckte die Schultern: „Gute Nacht dann.“ Leise schloss auch er die Türe. Ich legte mich aufs Sofa und versuchte zu schlafen.
Das gelang nicht. Egal was ich auch versuchte. Immer wenn ich die Augen schloss, erschien das Bild von Patrick. Ob er noch Jana angesprochen hatte?
Ob er mich schon vergessen hatte? Wieso hatte er so darauf bestanden, meinen Namen zu erfahren? Fragen ohne Antworten. So was liebte ich ja. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte die Decke an.
Patrick, Patrick, Patrick. Ich kannte keinen anderen Jungen der so hieß. Ich ließ den Namen auf meiner Zunge zergehen. P-A-T-R-I-C-K.
Jede einzelne Silbe. Sie schmeckten nach Strand, Sonne, Meer, Ferien, Freizeit. So sah er aus. Jede einzelne Kleinigkeit an ihm fiel mir ein.
Das kleine Grübchen am Kinn, die einzelne Locke die ihm andauernd in die Stirn gefallen war. Einzelheiten, die ich wahrgenommen und doch nicht wahrgenommen hatte. Ob er wohl älter war als ich?
Ich schätzte ihn auf 16. Aber das Alter von Leuten hatte ich noch nie gut einschätzten können. Ob Jana sich an ihn rangemacht hatte?
Sie hatte ihn ja mit ihrem Glotzen erst auf sie aufmerksam gemacht. Ob sie wohl Montag mit ihm zusammen in die Schule kam, Arm in Arm?
Und ich blöde Kuh hatte ihn abblitzen lassen.
Kein Wunder das er da Jana genommen hatte. Sie war ja auch hübscher als ich und hatte mehr Freizeit und sie war unkomplizierter als ich,
lebte in einer einfacheren Welt. Für sie gab es kein Hindernis. Wenn er ihr gefallen hatte, waren sie jetzt schon zusammen, das stand fest. Jana bekam jeden rum. Mensch, war ich bescheuert gewesen.
Ich wurde von lauten Stimmen wach. Erst wusste ich gar nicht wo ich war, bis mir der vergangene Abend einfiel. „Mensch Christin, du weißt genauso gut wie ich, das die niemals von mir sein können. Die hat irgendjemand mir untergeschoben. Ich würde dich nie wegen einer anderen verlassen!“ Das war die Stimme meines Vaters. Ich machte mich ganz klein und hoffte,
das sie mich nicht bemerken würden. „Ach ja, aber jetzt passen die einzelnen Puzzleteile wenigstens zusammen. Jetzt werden mir deine
ganzen plötzlichen Überstunden klar. Und die Reise nach Teneriffa, die Tickets warenbestimmt auch nicht für dich und mich sondern für
dich und deine Unbekannte Geliebte.“ Christin tobte richtig. So hatte ich sie seit Beginn ihrer Krankheit nicht mehr erlebt. Aber was hatte sie da gesagt? Papa sollte eine andere haben? Unmöglich! Vater liebte sie. Auch wenn sie krank war, er hätte sich niemals eine andere gesucht. „Du hast doch einen gewaltigen Knall!“, schrie Papa und die Haustüre knallte. Weg war er! Christine schluchzte und röchelte. Ich bekam es mit der Angst und stürzte zu ihr. „Mensch Christin, ist ja gut“, versuchte ich sie zu beruhigen.
Langsam führte ich sie zum Sofa. „Dieser...Schuft!“, brachte sie zwischen zwei Atemzügen hervor. Ich half ihr sich so hinzusetzen das sie besser Luft bekam und deckte sie zu. Sturzbäche von Tränen stürzten aus ihren Augen. Ich holte ihr Taschentücher, setzte mich neben sie und wartete darauf, dass sie sich wieder beruhigte. Dann sagte ich langsam und leise: „Ich glaube einfach nicht, das er dich hintergehen würde. Dazu liebt er dich zu sehr.“ „Ha, was heißt hier schon lieben?“, fragte Christin, „du hast mit der Liebe nur Scherereien. Am besten man bleibt für immer alleine.“
Sie putzte sich die Nase.
Zu dieser Schlussfolgerung war ich in derselben Nacht auch gekommen. Ich sagte aber keinen Ton von der Party und zu meiner Erleichterung fragte Christin auch nicht danach. „Und wie kommst du jetzt zum Arzt?“, fragte ich. „Entweder dein Vater kommt vorher oder ich muss Susanne fragen, ob sie mich bringt. Damit ist dein freier Nachmittag leider weg.“ Sie schaute mich mit enttäuschtem Gesicht an. „Ist nicht schlimm, ehrlich“, beteuerte ich, „hauptsache du kommst zu deinem Termin.“ Sie seufzte und legte sich hin. Da war sie auch schon eingeschlafen.
Ich schlich zur Küchenecke und guckte auf die Uhr. Schon elf Uhr vorbei. Durch die Rollos der Küchenfenster schien ein wenig Sonne und ich sah ein kleines Stückchen blauen Himmel. „Morgen“, gähnte es da von der Küchentüre. Im Rahmen lehnte Jochen. Er war schon angezogen und auch halbwegs gewaschen. „Diesmal hat Kai mich aus dem Bett gebrüllt“, sagte er feixend. „Ha ha, sehr witzig“, meinte ich und erzählte ihm von den Anschuldigungen Christins. „Na, dann wären wir sie wenigstens los“, war sein befriedigtes Kommentar. „Blödmann“, zischte ich und fing an den Tisch zu decken. „Hilf mir mal lieber, statt Schwachsinn zu labern und blöd in der Ecke zu stehen“, kritisierte ich ihn sauer. „Klar, ich weck dann mal die Minis.“
Und weg war er. Der Kühlschrank war so gut wie leer und deshalb gab es nur Marmelade und Käse. Tja, meinen Schuld war es nicht. Jochen war mit einkaufen dran gewesen. Das dumme war nur, das sonntags kein Geschäft auf hatte. Da musste wir wohl teure Sachen bei der Tankstelle kaufen.
Kaum war ich fertig, kamen schon die Zwillinge in ihren Schlafanzügen
in die Küche getrottet. Ich legte den Finger auf den Mund und flüsterte: „Psst, Mama schläft auf dem Sofa.“ Sie nickten nur, schoben sich auf ihre Stühle und beklagten sich nicht mal wegen des spärlichen Frühstücks.
Claudias kam gar nicht und Jochen hörte ich nur leise fluchen. Vermutlich versuchte er wieder seine Künste in Kleinkinder wickeln.
Das beherrschte er gar nicht. Wunderte mich, das er mit dem Erlernen davon so hartnäckig war.
Wir sprachen kein Wort und nach dem Essen verpflanzte ich Maleen und Ines ins Badezimmer damit sie sich duschten. Jochen war inzwischen fertig und ich bat ihn Susanne anzurufen, da ich nicht glaubte, das Papa noch auftauchen würde. Sie erklärte sich bereit und versprach, um halb eins da zu sein.
Ich weckte Christin und kochte ein gutes, wenn auch spärliches Mittagessen, wovon alle satt wurden. Niemand fragte nach Vater.
Punkt halb eins stand Susanne mit ihrem Kleinwagen vor der Türe. „Pass gut auf die Kleinen auf“, bat mich Christin, während die Freundin ihr in den Mantel half. „Klar, das schaffe ich locker. Oder mache ich das heute etwa zum ersten Mal?“, fragte ich scherzend. Man konnte ohne große
Schwierigkeiten sehen, dass Christin Angst hatte. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, nahm Karin auf den Arm und verließ neben Susanne die Wohnung. „Hängst ja mehr an ihr als ich dachte“, sagte Jochen kalt.
Er hatte die Szene beobachtet. Ich glaub er hat mir nie ganz verziehen, dass ich unsere leibliche Mutter so schnell ersetzt habe. „Wenn nicht ich, wer dann?“, gab ich trocken zurück, „außerdem hast du dafür sehr an Hannelore gehangen.“ „Ach...“, doch bevor Jochen den Satz beenden konnte,
klingelte das Telefon. Doch bevor ich reagieren und den Hörer abnehmen konnte hatte Claudias abgehoben. „Hallo?“, fragte er.
Wie immer ohne seinen Namen zu nennen. Da nahm ich ihm schon den Hörer ab: „Bei Granger“, sagte ich und mein Herz blieb fast stehen, als ich die Stimme erkannte, die darauf durch den Hörer drang. „Hey Lena, bist du’s?“
Es war Patrick. „Ja ich bin’s. Hallo“, krächzte ich mit einer Stimme, die auch gut hätte von Jochen sein können, als er im Stimmbruch war. „Hast du dich erkältet?“, fragte er erstaunt. Ich räusperte mich: „Nein, nein, hatte nur einen Frosch im Hals.“ Zum Glück klang meine Stimme jetzt wieder Lena-normal- mäßig. Jochen grinste und tat so, als ob eine seiner Freundinnen
vor ihm stehen würde und er ihr einen Heiratsantrag machte. Ich schlug
die Augen gen Flurdecke und guckte ihn bittend an. Wieso verschwand
der Typ nicht? Dann konnte er auch gleich Claudias mitnehmen.
Der stand mit großen Augen neben ihm und starrte abwechselnd mich und Jochen an. Er wäre in der Lage, Christin nachher alles genauestens zu erzählen und das wollte ich ihr nicht antun. Sie hatte schon genug Probleme. Jochen erbarmte sich, legte einen Arm um Claudias und verschwand mit ihm im Wohnzimmer. „Wieso bist du gestern Abend so schnell wieder verschwunden?“ Ich überlegte. Ich konnte ja jetzt schlecht sagen, dass es wegen ihm war, dann war er bestimmt eingeschnappt. Und den Grund
konnte ich ihm erst Recht nicht sagen. Dabei war es ja trotzdem passiert. „Mir war nicht gut“, antwortete ich deshalb schnell. „Aber dir geht’s jetzt wieder besser?“ „Ja klar.“ Stille. Niemand sagte ein Wort. Mist, wieso konnte ich nicht einmal telefonieren, ohne das ein längere Redepause von 10 Sekunden entstand. Egal mit wem ich telefonierte, immer kam früher
oder später mindestens eine Redepause. „Woher hast du eigentlich
meine Nummer?“, fiel mir dann eine Frage ein. Die war auch noch halbwegs intelligent. „Von deiner Freundin. Wie heißt sie doch gleich... ach ja, von Jana. Die war gestern ziemlich sauer auf dich weil du einfach so abgezischt bist“, erzählte er, anscheinend auch froh das die Stille durchbrochen war. Jana hatte sie ihm gegeben? Aber wie sie ihn gestern angehimmelt hatte war es doch theoretisch unmöglich, das sie ihn auch noch freiwillig an mich abgegeben hatte. Oder hatte sie einen besseren gefunden? Na egal. Anscheinend war zwischen den beiden am vergangenen Abend nicht
mehr viel gelaufen und Jana hatte ihm sogar meine Nummer gegeben.
Und er hatte mich auch noch angerufen. Da konnte ich ihm ja nicht so
ganz egal sein. Danke Jana. Das werde ich dir niemals vergessen. „Hallo Lena, bist du noch dran?“, unterbrach Patrick meine Gedanken. „Ja ja, habe mich nur ein wenig gewundert, dass ich dich auf einmal am Telefon hatte.“ Na,
war ja schließlich nicht ganz gelogen. Ein kurzes Auflachen kam vom anderen Ende der Leitung, dann sagte Patrick: „Ich wollte dich auch nur fragen, ob du heute schon was vorhast.“ Was, er wollte ein Date mit mir?
Das war ja unglaublich. Da hatte ich mich doch bestimmt verhört. „Du willst dich mit mir treffen?“, fragte ich deshalb noch mal vorsichtshalber nach.
Ein einfaches „Ja“ war die Antwort. Ich glaub ich werde verrückt.
Ich hatte mich echt nicht verhört. Bevor ich richtig schaltete, hatte ich schon ein „Ich kann heute“, in die Leitung gehaucht. Lena, jetzt spinnst du total, schalt ich mich im selben Moment. Ich musste doch auf die Zwillinge und Claudias aufpassen. Andererseits, Jochen konnte das auch mal für mich übernehmen. Zu Hause bleiben musste er sowieso. „Okay. Willst du zu mir kommen?“ „Ich fände es besser wenn wir uns im Park treffen würden.
Danach können wir ja immer noch gucken.“ „Ist gebongt. Um 2?“ „Okay, bis dann.“ Mit zitternden Händen legte ich auf. „Na dann, viel Spaß.“
Jochen hatte also wieder mal gelauscht. „Du bist richtig fies“, sagte ich sauer. Bevor ich im Zimmer verschwand fragte ich noch: „Ist das denn okay für dich?“ Er kratzte sich am Kopf, hob die Augenbrauen, zog eine Grimasse und guckte mich böse an. Ich wollte schon wieder zum Telefonhörer greifen und Patrick absagen, da grinst Jochen und nickte. „Na klar. Raus darf ich
ja ohnehin nicht, also kannst du deinen Sonntag genießen.“ Bevor ich
ihm um den Hals fallen konnte, war er schon wieder in der Küche verschwunden.
Im Zimmer stand ich ratlos vor meiner Kommode und
hatte das berühmt berüchtigte Kleiderproblem. Was sollte ich anziehen?
Die weiße Bluse fiel aus (zu protzig), ebenso die schwarze Hose (zu traurig aussehend). Die Sachen von Jana wollte ich nicht schon wieder
anziehen, außerdem hatte ich sie schon in den Wäschekorb geschmissen. Also blieb nur die dunkelblaue Schlagjeans und das grüne Oberteil mit der roten Jacke. Das sah sogar halbwegs annehmbar aus. Schminke hatte ich nicht, also musste es ohne gehen. Ein Blick auf die Uhr riet mir auch dazu.
Es war schon viertel vor zwei. Zum Park brauchte ich locker 10 Minuten. Wenn ich noch pünktlich sein wollte, musste ich mich beeilen.
Einen Anorak brauchte ich nicht, dafür war es zum Glück schon zu warm.
Ich hatte nämlich nur noch so alte Überbleibsel, die von Jochen und Vater stammten. „Ciao!“, rief ich, bevor ich die Wohnung verließ, damit Jochen wusste, dass ich weg war.
Joggend lief ich meinem ersten Date entgegen.
Wir hatten zwar keinen Treffpunkt im Park ausgemacht, aber der war so klein, da traf ich ihn bestimmt an. Ein paar Minuten später sah ich ihn schon. Patrick! Er hatte sich leicht an das Eingangstor gelehnt und blickte durch die Gegend. Da sah er mich und ging langsam auf mich zu.
Er sah genauso gut aus wie gestern Abend. Jetzt sah ich auch ein paar Wellen, die er in den Haaren hatte. Er trug eine Jeans, ein T-Shirt und eine Jacke. Ungefähr so wie ich. Er blieb vor mir stehen und lächelte. Seine Zähne waren gerade und richtig schön weiß. Wenn der nicht längst schon eine Freundin hatte, dann wusste ich auch nicht mehr. Aber anscheinend
hatte er keine, sonst hätte er sich ja nicht mit mir treffen wollen. „Hey“, begrüßte er mich. Dann gab es einen Kuss links und rechts auf die Wange. Dabei lief ich mal wieder rot an. Wie eine rote Ampel stand ich bestimmt vor ihm. Na klasse, konnte man das nicht einmal abstellen? „Hi“, sagte ich deshalb schnell. „Wollen wir ins Eiscafe? Ich kenne da ein ganz tolles, hat vor ein paar Wochen erst aufgemacht“, schlug er vor. Froh, das nicht schon wieder eine Redepause entstanden war, nickte ich. Nebeneinander liefen wir los. Es war nicht weit und auf dem Weg dorthin erzählte Patrick noch von der Fete. „Deine Freundin hat mich richtig angemacht“, vertraute er mir an, „aber ich fand dich viel netter und wollte dich näher kennen lernen, deshalb bin ich einfach gegangen.“ Mir blieb fast das Herz stehen als er das sagte.
Zum Glück standen wir da schon vor dem Cafe und ich musste nichts sagen. Wir suchen uns einen Tisch im Freien. Patrick saß vor mir und guckte mir unverwandt in die Augen. Seine waren braun, mit ein paar grünen Sprenkeln drinne. Er gefiel mir immer besser. Er sagte das was er dachte und fühlte sich nicht so obercool. Da kam der Kellner. „Was möchtest du?“, fragte Patrick mich. Ich war überrumpelt und zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, dasselbe wie du.“ Damit konnte ich nicht falsch liegen, wenn es um
Eis ging aß ich alles, jede Sorte. „Dann nehmen wir den großen Früchtebecher und 2 Cola.“ Der Kellner nickte und verschwand. „Das ist doch bestimmt
teuer das Eis“, wandte ich ein. „Egal, ich habe erst noch gestern von meiner Oma 10 Euro gekriegt. Ich lade dich natürlich ein.“ Dann ging das in- die- Augen- guck- Spiel weiter. Bis ich fragte: „Wie alt bist du eigentlich? Du siehst nicht aus wie 14 oder 15.“
Er nickte : „Vor drei Monaten bin ich16 geworden. Bin einmal sitzen geblieben.“ Das erklärte auch, wieso er in meiner Parallelklasse war.
„Und, wie geht’s so zu Hause?“ Eine blödsinnigere Frage hätte mir nicht einfallen können, trotzdem stellte ich sie. „Willst du meine Familienverhältnisse wissen?“ Er grinste: „Meine Alten sind ganz okay. Ich habe noch drei große Brüder. Wir wohnen auf der Eleusstraße. Weißt du wo die ist?“ Ich nickte. Die Eleusstraße gehörte zu den besten Vierteln
der Stadt. Dort standen fast nur Villen und große Eigentumswohnungen. Dann kam unser Eis. Ein riesiger Früchtebecher, garniert mir Erdbeeren, Kirschen, Mangos und allerlei mehr. Die Eissorten konnte man unter dem riesigen Berg kaum erkennen. Und obendrauf hatten sie auch nicht mit Sahne gespart. „Hier kriegt man was für sein Geld“, sagte Patrick zufrieden und fing an zu essen. Wir brauchten lange, um den Becher zu leeren. Vielleicht lag es auch daran, das Patrick mich nachher fütterte und umgekehrt.
Ich schwebte im siebten Himmel und niemand hätte mich da noch heute runter holen können. Die Colas tranken wir auf Ex weg, da wir keine Lust mehr hatten zu sitzen und zum Park wollten. Patrick bezahlte und wir machten uns auf den Weg. Unterwegs fragte er: „Und wie ist es so in deiner Familie?“ Normalerweise erzählte ich nicht gerne aus meinem Leben und erst recht nicht von der zusammengewürfelten Familie, aber Patrick hatte so mein Vertrauen gewonnen, das ich ihm alles erzählte. Vom Tode meiner Mutter, von den Jahren wo ich nur mit Papa und Jochen zusammengelebt hatte, von Hannelore, den Zwillingen, der Trennung von Hannelore, von Christin, Claudias und Karin. Letzten Endes sogar von Christins Krebsleiden. „Ziemlich turbulentes Leben“, war Patricks Schlusskommentar. Ich nickte. Wir hatten den Park bestimmt schon fünfmal ganz abgeklappert und setzten uns auf eine Bank, die am See unter einer Linde stand. „Und heute musste sie wieder zum Arzt?“ „Ja. Wenn dann alles wieder okay ist, die Blutwerte im normalen Bereich, dann darf sie auch wieder arbeiten. Und erst wenn sie in den nächsten fünf Jahren keinen Rückfall erleidet, wird sie für gesund erklärt“, erzählte ich. Da musste ich an Papa denken. Ob er wirklich eine andere hatte? „Und deshalb musstest du die Zeit wo Christin krank war auf deine Halbgeschwister aufpassen, weil sie noch zu schwach war?“ „Genau. Die meiste Zeit war sie ja in der Klinik. In der Zeit hat Papa sich Urlaub genommen und Karin übernommen. Claudias war schon in der Schule, Jochen und ich sowieso und die Zwillinge waren im Kindergarten. Da wir aber keinen Ganztagshort bezahlen können, musste ich eben mittags immer da sein
und auf sie aufpassen. Später hat Vater dann wieder angefangen zu arbeiten und ich hatte alle am Hals.“ „Hat Jochen dir nicht geholfen?“ „Der steckte bis zum Hals in Abschlussprüfungen. Aber auch danach hat er mir alle Arbeiten überlassen.“ „Ziemlich scheiße von ihm“, war Patricks Meinung. „Ja klar, aber er ließ sich von niemandem was sagen. Aber jetzt wird ja alles besser, wenn Christin erst mal wieder ganz bei Kräften ist und sie wieder arbeiten kann“, meinte ich zuversichtlich, „dann können wir wieder eine Haushilfe einstellen und ich habe wieder mehr Zeit.“ Patrick lächelte. „Wir können ja auch zusammen auf die Kleinen aufpassen. Dann bin ich trotzdem bei dir.
Und so schwer kann die Arbeit ja nicht sein.“ Der mittlere Satz ließ mich aufhorchen. Er wollte mich oft sehen? Er legte es darauf an, in meiner Gesellschaft zu sein? „Ja klar, wenn du willst.“ Und dann kam der erste Kuss meines Lebens. Also der erste Kuss von einem Jungen. Jochen, Papa und Claudias zählten ja nicht. Patrick küsste mich! Zu schön um wahr zu sein. Wenn er mich nicht festgehalten hätte, dann wäre ich schnurstracks Richtung Himmel geflogen. Doch schon nach ein paar Sekunden war es vorbei und seine Lippen lösten sich von meinen. „Bin ich froh, dass Ulrike dich mir vorgestellt hat“, sagte er heiser. Eigentlich war es ja umgekehrt gewesen, doch ich sagte nichts. Dafür bekam ich noch einen Kuss. Und der war mir tausendmal lieber.
Fast tanzend kam ich wieder in die Wohnung. Es war schon nach acht und ich erwartete eigentlich einen Anschiss, weil ich so spät zu Hause war. Stattdessen saßen ein traurig dreinblickender Papa und ein bleicher Jochen am Küchentisch. Vor ihnen standen die Reste eines Mc Donalds Essens.
Karin lag in ihrer Tragetasche auf dem Stuhl neben Jochen und schlief. Claudias und die Zwillinge waren nirgendwo zu sehen. Genauso wenig Christin. „Was ist passiert?“, fragte ich. Papa schniefte und guckte mich
nicht an. Jochen hob den Kopf. Seine Augen waren aufgerissen, als ob er was gespenstisches gesehen hätte. „Christins Blutwerte haben sich dramatisch verschlechtert“, erzählte Jochen tonlos, „sie haben sie gleich dabehalten. Morgen fangen sie mit der Chemotherapie an.“
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. Das konnte doch nicht wahr sein. Schon wieder, das ganze Theater von vorne. Gerade jetzt. Wieso? Papa weinte leise. Es wunderte mich, dass er überhaupt hier war. Ich hatte keinen Zweifel mehr daran, dass er andere hatte. Jochen stand auf und nahm mich am Arm. Wir gingen in sein Zimmer und er schloss die Tür. Dann erzählte er die Geschehnisse des Tages in Kurzform. „Susanne kam um 6 ohne Christin zurück. Sie hat Karin gebracht und gleich Sachen für Christin mitgenommen. Sie hat mir alles erzählt, dass kein Zweifel daran besteht das sie doch nicht krank ist und so. Papa habe ich auf seinem Handy erreicht. Er hat wirklich eine andere.
Das Aufgebot der Hochzeit stand schon. Er wäre heute nur noch einmal zurück gekommen um sich zu verabschieden und uns mitzunehmen.“ Ich war sprachlos vor Wut und Enttäuschung. Wie kam er dazu? Ohne unsere Einwilligung hätte er uns einfach mitgenommen. So ein Schuft! Jochen schien Gedanken zu lesen: „Ja, das habe ich auch gedacht. Ich habe Oma angerufen und ihr alles erzählt.“ Oh Schreck, Oma. Papas Mutter. Sie hatte sich schon vor seiner Hochzeit mit Hannelore von ihrem Sohn abgewandt.
Sie hatte ihn nicht mehr ausstehen können. Sie hatte ihn verantwortungslos und egoistisch bezeichnet. Und sie hatte recht, das war er auch.
Trotzdem konnte ich Oma nicht leiden. Als ich mal bei ihr zu Besuch war, hatte ich nur Röcke und Blusen tragen dürfen. Im Dreck spielen war nicht mehr drin. Ich musste mit anderen Mädchen in meinem Alter Tee trinken
und Kuchen essen müssen. Es war grauenvoll gewesen. „Sie kommt hierhin um nach dem Rechten zu sehen.“ „Das kannst du doch nicht machen!“, rief ich entsetzt, „wer weiß wozu sie mich diesmal alles zwingt.“ Jochen lächelte: „Keine Sorge. Ich habe Papa und Susanne soweit gekriegt, dass wir beide bei Susanne wohnen dürfen. Oma zieht hier ein und kümmert sich den ganzen Tag um die Minis.“ Jetzt hätte ich ihm um den Hals fallen können.
Wir mussten nicht mit Papa weg, ich musste mich nicht von Oma in graue Röcke zwängen lassen und obendrein hatte wir eine ganz andere Wohnung nur für uns alleine. Susanne war nämlich den ganzen Tag arbeiten.
Ich klopfte ihm auf die Schultern: „Und wann ziehen wir um?“, fragte ich tatendurstig.
Jochen zuckte die Schultern: „Ich denke sobald Oma sich hier eingelebt hat, sie weiß wo alles ist und was sie alles machen muss.“ Das klang ja vielversprechend. „Passen wir überhaupt in Susannes kleine Wohnung?“, war mein nächster Gedanke. Jochen lachte. Sein Gesicht hatte schon wieder etwas Farbe bekommen: „Das wird schon klappen. Ich schlafe auf dem Wohnzimmersofa und du kannst von mir aus das Gästezimmer haben.“ „Oh, wie heldenhaft von dir“, sagte ich spöttisch, aber dankbar. „Meinst du Oma erlaubt das überhaupt?“ Jochen zuckte die Schultern: „Keine Ahnung.
Aber das würde ziemlich eng hier werden, wenn wir beide auch noch hier bleiben würden. Selbst wenn Papa weg ist.“ „Und wann fährt der mit seiner Neuen weg? Und wohin überhaupt? Wo hat er sie kennen gelernt?“ Jochen ließ sich auf sein Bett fallen und machte sich lang: „Was weiß ich. Soweit ich informiert bin, hat er sie auf einem Kongress kennen gelernt. Es muss wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.“ Jochens Stimme nahm einen enttäuschten Klang an, „sie haben sich wohl ein paar mal getroffen und jetzt wollen sie in ihre Heimat zurück. Ich mein, Griechenland war das.“ Eine Griechin? Seit wann stand Papa auf Griechinnen? Dabei hatte er uns so oft in den Ohren gelegen wie schrecklich er die ganzen Frauen fände, die sich als Ausländerinnen ausgaben und so taten als wären sie superreich. Und jetzt hatte er sich so eine geangelt und ließ Christin und uns im Stich.
„Meinst du dann bekommt Christin das Sorgerecht über uns?“, fragte ich Jochen. Er würde das bestimmt nicht so toll finden. Doch wider Erwarten nickte er: „Ich denke schon. Aber das ist auch okay. Papa hat uns nicht verdient.“ Da ging die Türe auf und Papa steckte seinen Kopf herein. „Wenn man vom Teufel spricht...“, murmelt Jochen undeutlich. „Ich fahr dann wieder“, sagte er, „wenn etwas ist, meine Handynummer habt ihr ja. Die Zwillinge nehme ich mit.“ „Nein, die lässt du hier“, widersprach Jochen barsch, „sie sind hier zu Hause und Christin ist ihre Mutter.“ Doch ohne darauf näher einzugehen sagte er: „Hannelore hat einen Anwalt eingeschaltet. Sie will die Kleinen wiederhaben. Morgen kommt sie und holt sie ab. Entweder ihr fügt euch oder sie werden euch wenn nötig mit Gerichtsgewalt genommen. Christin hat sowieso keine Zeit sich um sie zu kümmern.“ „Das du so gemein sein kannst...!“, rastete Jochen aus. Papas sowieso schon müdes und eingefallenes Gesicht wirkte auf einmal noch älter und traurig wandte er sich an. „Ich will dich nie wieder hier sehen!“, schrie Jochen, „bleib doch wo der Pfeffer wächst.“ Zu guter Letzt schleuderte er noch ein Kissen hinter ihm her. Dann weinte er. Vater hatte ihn sehr enttäuscht. Und nicht nur ihn.
Ich allerdings ging hinter ihm her. Gerade holte er seine Koffer aus seinem ehemaligen Schlafzimmer. Maleen und Ines standen ziemlich verloren im kleinen Flur. Dann brauchte Oma ja gar nicht zu kommen. Jochen und ich konnten sehr gut alleine alles regeln. Claudias war schon alt genug um alleine zurechtzukommen. Karin würden wir schon untergebracht kriegen.
Und wenn Susanne regelmäßig nach uns schaute müssten auch die Jugendämter damit einverstanden sein. Ich drückte die Zwillinge an mich. „Hannelore ist eure richtige Mutter. Sie hat euch ebenso verdient wie wir auch. Und vielleicht dürft ihr uns mal besuchen“, versuchte ich die beiden zu trösten. Maleen weinte leise. Ines war kurz davor. „Außerdem müsst ihr ja noch euer Spielzeug hier holen. Da sehen wir uns auch schon wieder.“ Die beiden nickten. Ich richtete mich wieder auf. „Bis dann Vater“, sagte ich kalt. Er wollte mich noch in den Arm nehmen, doch ich drehte mich um und ging in Jochens Zimmer zurück und schloss die Türe. Ich hörte nur noch wie er die Mädchen nahm und mit ihnen die Wohnung verließ.
Ich wurde von Jochen geweckt, der über mich stolperte. „Mist, verfluchter“, sagte er. Dann sah er das ich wach war, obwohl es stockdunkel im Zimmer war. „Entschuldige Lena, ich wollte dich nicht wecken. „Ach, nicht schlimm.“ Mit quälenden Rückenschmerzen richtete ich mich auf. Ich stöhnte.
„Wundert mich nicht, dass du Schmerzen hast. Du hast fünf Stunden da unten gelegen und geschlafen.“ „Wie spät ist es denn?“, fragte ich und setzte mich vorsichtig aufs Bett. „Schon 2. Susanne war eben da und hat Karin abgeholt. Sie darf im Krankenhaus bleiben.“ Da fielen mir die Geschehnisse des vergangenen Abends ein. „Wie kann bloß soviel an nur einem läppischen Nachmittag geschehen. Eine Krankheit, die alles aus der Bahn wirft.“ „Nicht nur der Krebs ist daran Schuld. Auch Papas Griechin“, meinte Jochen trocken. „Susanne meinte, dass Papa wohl noch
Ärger mit dem Jugendamt bekommt, da sich niemand im uns kümmern kann außer er. Wieso bin ich nicht schon 18? Dann wäre alles einfacher.“ Ich nickte und knipste die Nachttischlampe an. „Und was ist wenn er uns mitnehmen muss?“, fragte ich ängstlich, „ich will hier bleiben, Jochen.“ Er setzte sich neben mich und legte mir einen Arm um die Schulter: „Wir müssen jetzt nur zusammenhalten, du und ich. Dann wird uns nichts passieren. Er kann uns nicht einfach in ein fremdes Land versetzten, das darf er gar nicht.“ Das sollten bestimmt beruhigende Worte sein, doch ruhiger wurde ich dadurch nicht. „Leg dich hin und schlaf noch eine Runde. Denk am besten an Patrick.
“Was, woher wusste er? Ich guckte ihn fragend an. Er lächelte: „Du hast im Schlaf öfter als einmal seinen Namen genannt.“ Bevor ich mich bei ihm über seine Unverfrorenheit beschweren konnte, war ich schon wieder eingeschlafen.
Als ich das nächst Mal erwachte, war es bereits hell. Ein schon ziemlich warme Maisonne schien durch das Fenster. Ich lag immer noch auf Jochens Bett, allerdings zugedeckt. Da klopfte es leise und Jochen steckte seinen Kopf ins Zimmer. „Du bist auch mal wach, oh Wunder“, zog er mich auf.
„Ha ha, sehr witzig“, sagte ich und schälte mich aus der Decke. Mein Rücken schmerzte und meine Knochen taten weh. Ich biss die Zähne zusammen.
„Soll ich dir ein Bad einlassen?“, fragte Jochen auf einmal besorgt.
Ich nickte und wir verließen das Zimmer. Er ging ins Bad und ich in die Küche. Erschrocken fuhr ich zurück, als ich die fremde Frau am Tisch sah.
Sie saß mit dem Rücken zu mir und rauchte. Das war bestimmt nicht ihre erste Zigarette, schon im Flur roch es nach Qualm. Ich durchforstete mein Hirn nach einer Erinnerung an diese Frau. Vielleicht war sie eine von Jochens Freundinnen. Obwohl, sie war viel älter als er. Jetzt hatte sie mich bemerkt. Das merkte ich an der Art wie sie die schulterlangen Haare zurückwarf.
Dann drehte sie sich um und stand auf. Reichte mir die Hand und lächelte.
Sie war stark geschminkt. Ich schätzte sie auf ende 20. Ihre Haare hatten eine Farbe zwischen hellbraun und ganz hellem blond. Irgendwie sah das total albern aus. Ich ignorierte die hingehaltene Hand und ging an den Küchenschrank, nahm mir ein Glas das ich mit Orangensaft auffüllte. „Guten Morgen. Ich bin Tanja Wenze. Ich komme vom Jugendamt“, stellte sie sich vor. Mir blieb fast der Saft im Hals stecken. Oh mist, auch das noch. Ich stellte das Glas ab und reichte ihr nun meine Hand. „Bei solchen Leuten ist immer Höflichkeit das oberste Prinzip“, hatte Susanne mir mal gesagt. „Entschuldigen Sie, ich bin gerade erst aufgestanden und deshalb noch nicht so ganz wach.“ Das war eine schlechte Ausrede, aber besser als gar nichts. Sie lächelte wieder mit ihren knallrot angemalten Lippen: „Ja, das kenne ich auch.“ In der linken Hand balancierte sie elegant ein Zigarette, von der sie jetzt einen Zug nahm. Obgleich ich nicht unhöflich sein wollte öffnete ich doch ein Küchenfenster. Als Erklärung meinte ich: „In unserer Familie war niemand Raucher. Ich bekomme immer Kopfschmerzen von dem Qualm.“ Schuldbewusst drückte sie ihre Zigarette in dem von Jochen hingestellten Aschenbecher aus: „Entschuldige, meine Schuld. Ich hätte ja auch auf die Idee kommen können ein Fenster zu öffnen bevor ich anfange rumzuqualmen.“ Da kam Jochen in die Küche: „Das Bad ist eingelassen, holde Dame“, alberte er. Ich stellte das Glas in die Spüle und ging. Leise schloss ich die Küchentür. Ich wollte Patrick anrufen. Doch bevor ich dazu kam, klingelte das Telefon schon. „Lena Granger“, meldete ich mich. „Hey Lena, hier ist Patrick."
Sag mal, konnte der Typ Gedanken lesen? „Ich habe dich heut gar nicht in der Schule gesehen, deshalb wollte ich mal nachfragen.“ Stimmt ja, heute war ja Montag. Hatte ich etwa so lange geschlafen? „Patrick, wie spät ist es?“, fragte ich. „Schon halb drei. Hast du bis jetzt geschlafen oder wie?“ „Sag mal, kannst du heute zu mir?“, fragte ich ihn, ohne auf seine Frage einzugehen, „ich erzähle dir dann alles.“ Er schien kurz zu überlegen: „Klar kann ich. Wann soll ich kommen?“ „Kannst ruhig um drei Uhr hier sein.“ „Okay, bis gleich.“
Tut, tut, tut. Ich legte den Hörer auf die Gabel. Jetzt musste ich mich aber beeilen, damit ich um drei fertig war. Die Gefahr des Verlaufens und somit des später hier seins war ja schon gebannt, er hatte mich gestern Abend nach Hause gebracht. Ich stieg in die Wanne und stand um 5 vor drei in meinem Zimmer vor dem großen Spiegel und wusste wieder nicht was ich anziehen sollte. Meine Sachen von gestern waren ganz zerknittert weil ich darin ja geschlafen hatte. Also entschied ich mich für eine Jeans und klaute mir aus Christins Kleiderschrank ihren Lieblingspulli, der super zu der Hose passte. Mit dem Klingeln an der Wohnungstür wurde ich fertig. Ich öffnete die Türe. Patrick lächelte mich an, gab mir einen Kuss zur Begrüßung und dann verschwanden wir in mein Zimmer.
In Kurzform erzählte ihm von dem vergangen Abend und der Nacht. „Du hast wirklich ein turbulentes Leben“, war sein Abschlusskommentar, „von einer Sekunde zur anderen ändert es sich, ohne das du groß was machst.“ In seiner Stimme schwang ein wenig Neid mit. „Ich wünschte es wäre nicht so“, klagte ich, „stell dir nur mal vor, ich muss nachher zu meiner Oma ziehen, weil Jochen noch nicht 18 ist und ich so nicht alleine mit ihm wohnen darf. Dann bleibt sie bestimmt nicht hier wohnen und ich muss mit ihr nach Frankfurt.“ „Ach Quatsch.“ Patrick legte einen Arm um mich, „das lässt dein Bruder bestimmt nicht zu. Na, und ich sowieso nicht.“ Da kam Jochen ins Zimmer geplatzt. Fast wäre er zurückgeschnellt, als er Patrick sah. Aber dann grinste er wieder dämlich: „Entschuldige, aber wenn ich gewusste hätte,
dass du deinen Liebling hier hast, hätte ich brav angeklopft uns auf ein ‚Herein’ gewartet.“ „Scher dich was weiß ich wohin, aber sag vorher was du willst“, sagte ich barsch. Langsam nervte er mich wirklich. Doch er ließ sich nicht beirren: „Ich fahre mit Frau Wenze und Claudias zur Klinik. Wir informieren Christin über den jetzigen Stand und was passiert ist.“ Ich nickte und bat ihn, Christin schöne Grüße zu bestellen. Er versprach es und verließ mit der Frau vom Jugendamt und Claudias die Wohnung. Den Rest des Tages verbrachten Patrick und ich mit reden, küssen, fernsehen und essen. Um sieben musste er gehen. „Du kommst aber morgen wieder zur Schule?“,
fragte er unsicher an der Haustüre. Ich nickte und verabschiedete ihn.
Kaum war die Türe zu, klingelte das Telefon. Maleen war dran. Ich war richtig froh, ihre Stimme zu hören. Jetzt erst merkte ich, wie sehr ich die beiden vermisste. Obwohl sie mich oft genug genervt und fast in den Wahnsinn getrieben hatten. „Mama, Ines und ich kommen morgen unsere Sachen abholen“, informierte sie mich. Dann erzählte sie stolz von der großen Wohnung ihrer Mutter. Sie und Ines hätten jede ihr eigenes Zimmer und
einen Garten gäbe es auch. Sogar mit Schaukel und Klettergerüst. Auf die Frage, wieso die Mutter sie nicht eher zu sich geholt hätte, hat sie wohl gesagt, das sie vorher im Ausland gelebt hat und mit einem Mann zusammen gewesen war, der sie aber jetzt verlassen hätte. Deshalb sei sie auch nach Deutschland zurückgekehrt. Plausible Geschichte.
Die Frage war nur, ob sie so ganz der Wahrheit entsprach. Aber ich sagte keine Wort, um Maleen nicht zu verunsichern. Die beiden wussten jetzt wo sie hingehörten und waren vielleicht sogar glücklicher bei ihrer leiblichen Mutter. Aber Hannelore war ja auch lieb.
Nur, ich hatte sie trotzdem nie so wirklich leiden können.
Da wurde die Haustüre geöffnet und ein bleicher Jochen trat mit einem schlafenden Claudias auf dem Arm ein. Ich sagte Maleen schnell Tschüß und nahm Jochen den Jungen ab. „Was ist passiert?“, fragte ich ihn wenig später in der Küche, nachdem ich Claudias in sein Bett verfrachtet hatte.
Jochen saß am Tisch und rauchte. Eine halbleere Packung lag vor ihm. Wahrscheinlich hatte Frau Wenze sie hier liegen lassen.
Er nahm einen tiefen Zug, behielt den Rauch ein paar Sekunden in der Lunge und blies ihn in die Luft. Er hustete nicht einmal. Ob er schon öfter geraucht hatte? „Ihr geht es verdammt mies“, sagte er in die Stille hinein, „der Arzt hat uns nicht mal zu ihr gelassen. Ihr Zustand hat sich über Nacht drastisch verschlechtert.“ Ich erschrak: „Aber so auf einmal. Vor ein paar Tagen ging es ihr doch noch gut“, sagte ich verzweifelt. Jochen drückte die Zigarette im vollen Aschenbecher aus und steckte sich eine neue an.
Ich hinderte ihn nicht daran. Er musste wissen was er tat. „Der behandelnde Arzt meinte, ihr Zustand sei schon seit längerem kritisch. Es war nur noch ein Frage der Zeit, bis sie wieder dort gelegen hätte. Also entweder hat sie uns nie was davon erzählt um uns nicht zu beunruhigen oder sie war nie bei den Terminen und wusste es selber nicht. Aber ich tippe mehr auf die erste Möglichkeit.“ Seufzend drückte er nun auch die zweite Zigarette aus.
Doch bevor er sich die nächste nehmen konnte, nahm ich die Packung weg. Um seiner Nervosität herr zu werden, stand er auf und lief durch die Küche und das angrenzende Wohnzimmer. Das regte ungemein auf.
Doch ich traute mich nicht, ihn zu bitten, auch das zu unterlassen. „Frau Wenze ist noch dageblieben. Ich habe dort schon mit Oma telefoniert. Sie kommt morgen.“ „Musst das sein?“, fragte ich sauer, „oder hat Frau Wenze das angeordnet?“ Jetzt rastete Jochen aus: „Meinst du ich lasse alle Verantwortung auf mir? Wenn dir was passiert, werde ich zur Rate gezogen. Außerdem kann ich nicht den ganzen Tag hier sitzen und dein Händchen halten!“, schrie er. „Weißt du was, du kannst mich mal!“, brüllte ich zurück, „wer sagt den das du hier bleiben musst. Ich bin doch keine 5 mehr.“ Wütend verließ ich die Küche, riss meine Jacke vom Haken und öffnete die Türe. „Lena, du bleibst...“, doch weiter hörte ich ihn nicht.
Wie von Sinnen stürzte ich die Treppe hinunter und nach draußen.
Dann schlug ich die Straße zur Innenstadt ein. Zum Glück war es schon spät und kaum ein Mensch lief mir über den Weg.
Sonst hätte ich sie alle umgerannt, so in Fahrt war ich.
Dabei hatte Jochen doch schon gesagt, dass Oma nicht kommen brauchte. Was für ein Fiesling er doch war. Auf der Hauptstraße liefen noch ein paar ältere Damen, die sich missbilligend nach mir umdrehten. Sie fanden es wahrscheinlich unerhört, dass ein Mädchen noch so ‚spät’ abends auf der Straße zu sehen. Ich beachtete sie gar nicht und fiel in Schritttempo. Völlig aus der Puste lehnte ich mich an die Mauern des Museums. Hier waren im Moment Gemälde ausgestellt, wie man von einem großen Schild am Eingang entnehmen konnte. „Landschaftsfotografien und Gemälde voller Umweltfreuden entführen Sie in ein wunderbare Welt des Unbewohnten Nichts“ stand in grünen Lettern darauf. Eintritt frei, offen bis acht Uhr, auch Sonn- und Feiertags. Ich schaute auf die nahe Kirchturmuhr und betrat dann die warme Räume. Am Eingang saß eine ältere Dame im grauen Kostüm.
Ihre schlohweißen Haare hatte sie zu einem festen Knoten hochgesteckt. Sie schien nicht der Sorte Frauen zu sein, die im Alter so richtig fies und allwissend wurden. Oder zumindest so taten. Sie hatte viele Falten im Gesicht, die meisten aber schienen Lachfalten zu sein. Erst als ich leise die Türe schloss, bemerkte sie mich. ‚So spät noch ein Besucher?’, schien sie zu denken. Doch ich bekam eine nette Begrüßung zu hören: „Guten Abend, junge Dame.“ Das war aber auch das einzige was sie sagte. Ich nahm mir einen Führer vom Empfangstresen wohinter sie saß und ging in den ersten Raum. Hier hingen kleine Aufnahmen, die allerlei Bauernhoftiere auf ihren Weiden zeigten. Also ziemlich langweilig.
Im nächsten Abschnitt kamen die ersten gemalten Bilder.
Uralte Gehöfe im fahlen Sonnenlicht und Wälder waren darauf abgebildet.
Und so ging das weiter. Fotografien und Malereien wechselten sich ab und irgendwann wiederholten sie sich. Ich wollte gerade umdrehen und gehen, da betrat ich einen hellgelb gestrichenen Raum. Die Lampen an der Decke tauchten ihn in so ein Licht, das man glaubte, man betrete die Sonne.
Dieses Licht allerdings war nicht aggressiv hell. Es war eher sanft und es schien mir, als streichelte es mich am ganzen Körper. Man fühlte sich auf einem anderen Stern. Erst jetzt bemerkte ich die Sonnenblumenbilder an den Wänden. Sie hatten alle ungefähr die doppelte Größe eines A1 Blattes, manche waren auch größer. Sie alle zeigten Sonnenblumen in den unterschiedlichsten Größen und Farben. Aber sie alle bildeten eine Einheit. Eine Einheit von Sonnenblumen, eine ganze Armee von ihnen. Aber ich bekam keine Angst bei dieser Menge, sie überfielen einen nicht mit ihrer Anzahl. Sie wirkten zusammen eher wie eine große, einzige Sonnenblume, die einen beschützte und helfen konnte. Ich war gefangen von diesem Gefühl und dieser Einzigartigkeit. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Da legte sich von hinten eine warme Hand auf meine Schulter. Erschrocken drehte ich mich um und sah in die gütigen, grünen Augen der Dame vom Empfangstresen.
Mir war, als spiegle sich ein wenig des künstlichen Sonnenlichtes in ihren Augen. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, flüsterte sie. Ich wurde rot und schüttelte den Kopf: „Nein, schon gut, haben sie nicht.“ Es war mir peinlich, dass sie mich in so einer Verfassung erwischte.
Auf sie hatte dieses Zimmer bestimmt nicht so eine Wirkung.
Doch wider Erwartend sagte sie: „Ich liebe dieses Zimmer. Es ist das beste an dieser ganzen langweiligen Ausstellung. Es hat so eine atemberaubende Wirkung, einfach wundervoll.“ Erleichtert nickte ich: „Ja, es ist einfach fesselnd schön. Man kann sich gar nicht davon losreißen.“ „Das musst du aber leider, denn es ist schon nach acht und ich hätte schon längst die Alarmanlage anschalten und gehen müssen“, bedauerte sie. „Oh Entschuldigung, dann habe ich sie schon lange genug aufgehalten. Ich gehe dann besser“, sagte ich höflich. Moment, wie redete ich da? So bescheuert hatte ich mich ja noch nie ausgedrückt. Was ein normales Zimmer nicht alles mit einem anstellen konnte! Verrückt. Gemeinsam mit der Frau ging ich durch die ganzen Räume zurück. Diese schienen auf einmal noch langweiliger und phantasieloser als sie schon vorher. Bevor ich das Gebäude verließ, fragte ich noch: „Darf ich morgen wiederkommen?“ Mensch, so was fragte doch kein normaler Mensch. Man tat es einfach. Die Frau nickte und antwortete: „Natürlich, komm vorbei so oft und wann du willst.“ Erleichtert öffnete ich die Türe und ging nach draußen.
Ein kalter Wind war aufgekommen und ich fröstelte in meiner dünnen Sommerjacke, deshalb beeilte ich mich, nach Hause zu kommen. Vorsichtig stieg ich die Stufen zur Wohnung hoch. Jochen sollte nicht vorgewarnt werden. Ich gab mir Mühe, die Türe so leise aufzuschließen, dass es nicht in der ganzen Wohnung zu hören war.
Doch trotzdem empfing mich ein grimmig dreinblickender Jochen im warmen Flur. Schuldbewusst senkte ich den Kopf und hing die Jacke an den Garderobenhaken. „Was hast du dazu zu sagen?“, fragte er tonlos. „Was meinst du?“, kam die Gegenfrage von mir zurück. Natürlich wusste ich was er meinte. Und er wusste, das ich es wusste. „Zum Donnerwetter noch mal, Lena! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, tobte er, „verdammt, wo warst du?“ Dann schloss er mich in die Arme. „Sorry“, murmelte ich undeutlich.
Da erschien Frau Wenze in der Küchentüre. Sie sah gestresst aus und überhaupt nicht mehr so schön wie heute morgen. Unter ihren Augen waren dicke Ringe, ihr Make-up war weg und ihre Schminke war verschmiert.
Ihre Haare hingen schlaff hinunter und waren schon fettig. Das krasse Gegenteil zu 12 Stunden vorher. Ich hob die Hand zur Begrüßung. Sie lächelte schwach und kam auf uns zu. Ihre Handtasche hatte sie über die rechte Schulter gehangen. Sie angelte nach ihrem Mantel am Haken und zog ihn an: „Jetzt, wo sie da ist, kann ich ja gehen.“ Jochen ließ mich los. „Und Sie wollen wirklich nicht hier übernachten? Claudias würde es wirklich nicht stören, wenn sie mit ihm in einem Zimmer schlafen. Das ist er gewöhnt“, versuchte er sie zu überreden. Frau Wenze schüttelte den Kopf: „Ich aber nicht. Ich komme morgen früh wieder.“ Sie winkte noch kurz durch die offene Tür und verschwand. Ich konnte kaum noch die Augen offen halten, so müde war ich. Doch Jochen hatte kein Erbarmen mit mir. Ich musst noch mit in die Küche kommen, was essen und erzählen, wo ich gewesen war.
Da ich ihm nichts von dem sonderbarem Zimmer im Museum erzählen wollte, sagte ich einfach, dass ich in der Stadt herumgelaufen war. Doch das glaubte er mir nicht: „Man läuft doch nicht einfach so eine Stunde lang draußen herum und friert sich einen ab, wenn man ein warmes Zuhause hat“, sagte er verständnislos. „Ich wohl“, sagte ich müde und würgte den letzten Bissen herunter, „was meinst du wohl weshalb ich so müde bin?
Vom ganzen Herumlaufen natürlich. Und deshalb gehe ich jetzt auch ins Bett.“ Jochen schüttelte ungläubig den Kopf, ließ mich aber, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, gehen. Im Bad putzte ich mir nur kurz die Zähne, wusch mir das Gesicht und zog mich um. Im Zimmer fiel ich nur noch aufs Bett und war Sekunden später eingeschlafen.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem hellwachen Jochen geweckt. Und nicht nur das war sonderbar. Das Jochen sonst morgens immer als letzter aus dem Bett fand und stets muffelig drauf war und kein Wort sagte, daran hatte ich mich längst gewöhnt. Aber wieso war er es diesmal, der mich weckte, der gut drauf war? Ich duschte, zog mich an und packte meine Schultasche. Als ich dann in die Küche kam, sah ich auch den Grund, wieso er so drauf war. Der Grund hieß Tanja Wenze und saß am gedeckten Frühstückstisch und aß eine Brötchenhälfte mit Quark und Marmelade. Na, dann war es ja kein Wunder. Ich setzte mich Frau Wenze gegenüber und nahm mir ebenfalls ein Brötchen. Claudias war noch nicht zu sehen, ebenso wenig Jochen.
„Guten Morgen, Lena“, begrüßte sie mich gut gelaunt, „ich habe mir erlaubt, schon zum Frühstück bei euch aufzukreuzen und gleich was zu Essen mitgebracht.“ Ich nickte zum Zeichen der Anteilnahme, da ich den Mund voll hatte. Da stürmte Claudias, nur in Unterwäsche, in die Küche und klaute sich ein Brötchen. „Ha, das ist meins!“, schrie er laut und hopste um den Tisch herum. Mensch, war der Junge aufgedreht! Doch da kam schon Jochen und schnappte sich ihn. „Bevor du frühstückst, ziehst du dich erst mal vernünftig an und gehst dich waschen“, mahnte er ihn und schubste ihn Richtung Badezimmer. Dann setzte er sich neben Frau Wenze. „Das Krankenhaus hat vorhin schon angerufen. Christin geht es erheblich besser. Das gestern war wohl nur so ein erster kritischer Tag, da geht es allen wohl dreckig“, erzählte er. Meine Laune hob sich. Zum Glück, dann kam sie bestimmt schon bald wieder nach Hause und ich musste nicht so lange mit Oma ausharren.
Bei dem Gedanken an Oma wurde mir schon wieder schlecht. Als ob Jochen meine Gedankengänge erraten hätte, sagte er: „Also, wegen Oma... Na ja, Tanja hat mir von einem Übergangsheim erzählt. Das ist mitten in der Stadt und du könntest dort für die Zeit wohnen, die Christin nicht da ist.
Denn ich alleine darf dich auch nicht beherbergen und...“ Heim, hatte er da gerade echt Heim gesagt? Frau Wenze sah mein entsetztes Gesicht. „Du denkst jetzt sicher, das es dort der totale Horror ist und so“, sie lächelte ihr Zahnpastawerbung- Lächeln und schmierte sich die nächste Brötchenhälfte, „aber du kannst weiter auf deine Schule gehen und darfst alles machen was du willst, wie zu Hause eben. Du hast dort eben nur deinen Schlafraum und musst zum Essen immer dort sein, aber sonst ist dort
alles so wie hier. Aber es ist ja auch nur eine Lösung dafür, wenn du deine Oma wirklich nicht für die Zeit ertragen kannst.“ Sie biss in das Brötchen und kaute leise. Für sie übernahm Jochen wieder das Wort: „Ich würde zu einem alten Klassenkameraden ziehen und Claudias lassen wir bei Oma, das heißt er würde nach Frankfurt gehen für die Zeit. Oma würde natürlich hier bleiben, wenn du hier wohnen würdest.“ Ha, der zog sich da ja ziemlich elegant raus. Aber so kam er mir nicht davon. „Vergiss es“, sagte ich knapp, „entweder alle bleiben hier oder ich gehe mit Claudias ins Heim und du zu deinem Klassenkameraden.“ Jochen wurde rot. Klar, ich hatte ihn durchschaut. Ich stand auf und holte meine Jacke: „Ich tendiere mehr dazu, das wir alle hier bleiben und Oma für die Zeit gemeinsam ertragen.
So schlimm wird es schon nicht werden.“ Frau Wenze grinste. Ob sie sich so was gedacht hatte? Das ich so reagiere? Na egal, es war höchste Zeit für die Schule. Ich drückte noch schnell dem herbeirennenden Claudias einen Kuss auf die hellen Haare und ging.
Auf dem Weg zur Schule überlegte ich mir noch eine plausible Ausrede für Jana, warum ich Samstag ohne Verabschiedung gegangen war. Doch die brauchte ich gar nicht, wie sich 15 Minuten später herausstellte. Jana war nämlich nur begierig auf die Information, wie es denn jetzt nun zwischen mir und Patrick aussah. Sie hatte ihm schließlich meine Nummer gegeben. So erzählte ich ihr bereitwillig von unserer Beziehung bzw. nicht Beziehung. „Wieso solltet ihr keine haben?“, fragte sie, „ihr habt euch doch schon getroffen und geküsst, also seid ihr doch zusammen.“ Wir saßen auf der Mauer, die den Sportplatz vom Schulhof abgrenzte. „Ich sehe das nicht so. Nur wegen ein paar Küssen ist man doch nicht zusammen“, warf ich ein. „Aber du liebst ihn doch?“, brachte Jana die Sache auf den Punkt. Ich seufzte und nickte: „Ich glaube schon.“ Sie nickte befriedigt: „Dann hätten wir das ja geklärt. Patrick liebt dich nämlich auch.“ „Woher weißt du den das?“, fragte ich perplex in das Klingeln hinein. Jana sprang von der Mauer: „Na, ich habe ihn gefragt.“ Das war typisch meine Freundin. Direkt wie immer. Keine Scheu vor den Menschen und immerzu geradeaussagend und fragend was sie dachte. Kopfschüttelnd ging ich ins Gebäude. Jana trottete hinter mir her. Ob sie wohl noch auf jemanden wartete? Mir konnte es egal sein, ich hatte jetzt sowieso anderen Unterricht als sie. Auf dem Weg zum Raum unseres Schwedischlehrers Herrn Bergmann begegnete ich Patrick. Er war auf dem Weg zum Französischunterricht von Monsieur La Catéll. „Hey Lena“, sagte er und gab mir einen Kuss. Zum Glück war gerade keiner aus meiner Klasse auf dem Flur. Sonst hätte es nachher Fragen und Verarschungen gegeben ohne Ende. Das hatte ich schon oft genug miterlebt. „Hi“, sagte ich und hoffte, schnell hier wegzukommen, obwohl ich froh war, Patrick zu sehen. „Kannst du heute?“, fragte er und hielt meine Hand fest. Vielleicht rechnete er damit, das ich einfach wegging. Ich zuckte die Schultern. Große Lust hatte ich nicht, obschon ich jetzt mehr Zeit als genug hatte. Aber ich wollte lieber ins Museum. Außerdem hatte ich nicht vor, mich von ihm abhängig machen zu lassen und meine Freizeit gestohlen zu bekommen. Und dann fiel mir ein, dass Maleen und Ines heute Mittag kamen. Das passte ja hervorragend. „Nein, heute eher nicht. Die Zwillinge kommen und holen ihre Sachen, da muss ich helfen“, sagte ich und senkte den Kopf. Patrick glaubte mir nicht, das stand fest. Aber er sagte nichts mehr und drehte sich, ohne ein Wort des Abschiedes, um und ging. War er etwa eingeschnappt, nur weil ich keine Zeit hatte? Und es war ja nicht mal gelogen. Der spann doch. Da kam Herr Bergmann „Guten Morgen Lena. Bist du noch nicht in der Klasse?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Blöde Frage, natürlich war ich noch nicht im Klassenraum, sonst stände ich ja nicht hier. So kamen wir gemeinsam in die Klasse und ich ging auf meinen Platz in die letzten Reihe. Dann fing der Unterricht an.
In der Pause erzählte ich Jana empört von Patricks Reaktion. „Na klar, Jungen sehen sich meistens als Herr der Beziehung“, philosophierte sie, „und wenn dann selbstbewusste Frauen wie du ihnen dazwischenfunken, dann werden sie ungemütlich.“ Ich kaute langsam mein Brot: „Aber ich lasse mir von ihm doch nicht mein Freizeit vorschreiben. Er kann doch nicht frei nach seinem Willen über mich verfügen“, sagte ich sauer. „Dann mach ihm das schnellstmöglich klar, bevor ihr euch deshalb noch unnötig verstreitet“, meinte Jana. Sie leerte ihre Kakaoflasche und warf sie im hohen Bogen genau in den Papierkorb, der ein paar Meter neben uns an der Mauer stand. Mein Butterbrotpapier flog hinterher.
Die nächsten Tage verliefen ziemlich ereignislos. Patrick und ich redeten und vertrugen uns wieder. Obwohl, so richtig verstritten waren wir ja gar nicht gewesen. Zu viert, den Jana hatte auf der Party auch einen Jungen kennen gelernt, trafen wir uns fast jeden Tag und unternahmen was. Einmal Kino, einmal eine Fahrradtour und ein paar Treffen im Park. Die fielen immer am lustigsten aus, denn meistens waren auch noch andere aus unserer Schule und der Hauptschule da, sodass es richtige Partys wurden. Aber von dem Zimmer im Museum erzählte ich keinem. Nicht mal zu Hause. Jeden Abend war ich da gewesen. Manchmal waren Hanna, die Frau vom Empfang, und ich noch bis halb neun im zusammen im Sonnenblumenraum und hatten diese Atmosphäre auf uns wirken lassen. Jeder Abend war gleich abgelaufen. Sie waren schon zum Ritual geworden und ich genoss sie. Aber manchmal waren noch andere Leute dort gewesen, dann hatte sich Hanna um diese kümmern müssen, denn manche verlangten auch eine Führung von ihr. Christin rief uns jeden Abend an und fragte, wie es so ohne sie laufen würde. Papa meldete sich nicht ein einziges Mal. Oma war doch nicht angereist. Tanja hatte sich erbarmt und war bei uns eingezogen. Sie schmiss nun den Haushalt. Jochen ging vormittags und zweimal in der Woche auch nachmittags in einer Schreinerei arbeiten. Den Job hatte Tanja ihm besorgt. Sie arbeitete nur vormittags, wo Claudias und ich in der Schule waren.
„Heute Abend steigt eine Party bei Rafat“, erzählte Patrick mir am Freitag nach der Schule. Er brachte mich, wie immer in letzter Zeit, nach Hause. „Kommst du auch?“ Ich schüttelte den Kopf. Hanna hatte mich für heute Abend ins Museum eingeladen. Aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen. „Ich fühle mich heute nicht besonders“, log ich deshalb, „ich gehe früh schlafen.“ Er nickte und machte ein trauriges Gesicht. Vielleicht wollte er mich so noch umstimmen. Zum Glück waren wir da schon an meinem Haus angelangt. „Bis dann“, verabschiedete ich mich, ging ins Haus und ließ einen verdutzten Patrick draußen stehen. Auf der Treppe zum zweiten Stock begegnete ich Claudias. Sein Gesicht war schneeweiß und tränennass. Seine Jacke hatte mehrere Risse und im Gesicht hatte er Schürfwunden. Er humpelte auf mich zu. „Um Gottes Willen, Claudias!“, rief ich erschrocken, „was ist denn mit dir passiert?“ Er fing an zu weinen und stammelte unverständliche Wort. Ich kramte meinen Haustürschlüssel aus dem Rucksack und schloss auf. In der Wohnung war keine Tanja, kein Jochen. Empört half ich Claudias aus der Jacke und schickte ihn aufs Sofa. Dann holte ich Verbandszeug und Desinfektionsmittel und während ich ihn verarztete, erzählte Claudias: „ In der Mathestunde musste Manfred nach vorne, und er konnte die Aufgabe nicht, die die Lehrerin im stellte, obwohl das Hausaufgabe gewesen war. Und ich sitze in der ersten Reihe und bin ja auch der beste in Mathe. So wollte er unbedingt, das ich ihm die Antwort zuflüstere, wenn die Lehrerin mal gerade was anderes tut. Und das habe ich nicht gemacht und deshalb hat er mich mit seinen Freunden nach Schulschluss verprügelt.“
Er fing wieder an zu weinen. „Das ist aber wirklich nicht fair“, bestätigte ich ihm, „mit mehreren Leuten auf einen alleine, das ist sehr feige.“ Claudias nickte. Dann verzog er böse sein Gesicht: „Denen zeige ich es, gleich morgen. Ich finde schon jemanden, der mir hilft, sie fertig zu machen.“
Er sprach das mit so einem Hass, das ich richtig Angst bekam. Der sonst so friedliebende und kameradschaftliche Claudias wurde zum Prügler. „Nein Claudias“, ermahnte ich ihn, „Gewalt entgegnet man nicht mit Gewalt.
Sowas musst du diplomatisch lösen.“ „Diplo... was?“, fragte der Kleine und guckte mich zweifelnd an. Doch bevor ich ihm das Wort erklären konnte, wurde die Haustüre geöffnet und Tanja steckte ihren Kopf ins Wohnzimmer. „Was ist denn mit dir passiert, Claudias?“, fragte sie entsetzt. Claudias lächelte nur schief und ich erzählte für ihn. Tanja holte währenddessen Eis aus der Kühltruhe und legte es ihm auf das geschwollene Knie. Dann kochte sie sein Lieblingsessen, wobei ich ihr half. Claudias hockte derweil vor dem Fernseher und zog sich das Nachmittagsprogramm rein. „Wieso warst du nicht da?“, fragte ich sie beim Kartoffelschälen. Tanja ließ sich Zeit mit der Antwort. Zuerst stellte sie die Kochplatte an, ließ Wasser in eine Topf laufen und stellte ihn auf die Platte. Dann trocknete sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und setzte sich neben mich. „Jochen liebt mich“, erklärte sie, „aber er will nicht kapieren, dass das nicht auf meiner Seite zutrifft.“ „Das erzählt er oft. Er hat alle paar Wochen eine, die er glaubt zu lieben“, sagte ich lässig. Sie schüttelte, wie mir schien, verzweifelt den Kopf: „Zuerst habe ich auch nur gelacht, wenn er das gesagt hat.
Aber er hat mir versichert, das er wirklich nur mich liebt und alle für mich links liegen lassen würde. Auch als ich ihm sagte, dass ich einen Freund habe, hat er nicht aufgegeben. Jetzt fängt er sogar an, mir Blumen ins Büro zu schicken.“ Ich musste lachen. Das passte ja alles gar nicht zu meinem unromantischen Bruder, was sie da erzählte. Aber Tanjas trauriger Gesichtsausdruck blieb: „Er meint es ernst, Lena. Gar nichts kann ihn von mir abbringen“, sagte sie leise. Ich legte die Kartoffeln in das kochende Wasser und stellte die Platte tiefer. „Soll ich vielleicht mal mit ihm reden?“, bot ich ihr an. „Nein“, sagte sie erschrocken, „es wäre ihm bestimmt nicht recht, dass du es weißt. Auch wenn du seine Schwester bist. Außerdem glaube ich nicht, dass du mehr bei ihm ausrichten kannst.“ „Danke, das reicht“, sagte ich
sauer und legte das Messer in die Spüle. „Das war jetzt nicht böse gemeint, Lena“, beeilte sie sich zu sagen. „Tanja, du urteilst über mich, als ob du mich schon Jahre kenne würdest. Tust du aber nicht“, unterbrach ich sie kalt, „du kennst das Verhältnis zwischen Jochen und mir nicht, also halte dich da mit deiner Urteilung zurück.“ Bevor wir uns noch so richtig in die Haare bekamen, kam Claudias in die Küche. „Wann ist mein Essen fertig?“, fragte er ungeduldig. Tanja sprang auf: „Sofort, edler Ritter, geduldet euch noch ein paar Minuten“, sagte sie und versuchte wohl, witzig zu wirken. Ich fand es nur albern und verzog mich deshalb in mein Zimmer. Hier drin war es richtig leer, seit die Zwillinge am Montag ihre Möbel abgeholt hatten. Alles an Möbeln hatten sie mitgenommen. ‚Mamas Haus ist riesig, da passen alle unsere Sachen rein’, hatte Maleen mir stolz erzählt. Natürlich war es schön, ein eigenes Zimmer zu haben. In meinem ganzen Leben war ich noch nicht in diesen Genuss gekommen. Und wenn mir jemand mal gesagt hätte, die Zwillinge würden mir fehlen, sobald ich mein eigenes Zimmer hätte, den hätte ich für verrückt erklärt. Aber es war so. Besonders abends war das der Fall. Ich hatte mich manchmal bis tief in die Nacht mit ihnen unterhalten. Hatte ihnen vom Leben erzählt, von dem, was sie alles noch erleben würden und sie erzählten mir von ihrem Tag und was sie alles gemacht hatten. Jetzt starrte ich die kahlen Wände an, wo vorher Bilder von ihnen gehangen hatten. Dort, wo das Hochbett gewesen war, hatte die Wand nun eine hellere Farbe. Ich beschloss, die Hausaufgaben auf einen andern Zeitpunkt zu verlegen, holte meine Sommerjacke und verließ, ohne ein Wort zu sagen, die Wohnung.
Das Wetter war während der Woche immer schlechter geworden. Jetzt zogen dicke Regenwolken über den Himmel und hin und wieder fielen ein paar Tropfen. In der Innenstadt war kaum jemand. Das war typisch Menschen, dachte ich. Sobald es auch nur ein wenig kälter und regnerisch wurde, blieben sie zu Hause. Verwöhnt waren sie doch alle. Ich liebte dieses Wetter. Den Sommer mochte ich nicht. Und wenn ich ihn mögen würde, dann
nicht wegen des Wetters. Dann wegen der Vegetation. Den blühenden Bäumen, dem vielen grün und den Vögeln. Deshalb war der Frühling auch meine liebste Jahreszeit. Da fing alles an zu blühen und die Vögel kamen zurück und man wurde morgens von ihnen begrüßt. Die paar Tropfen hatten sich zu einem richtigen Wolkenbruch entwickelt. Schnell stellte ich mich unter das Vordach einer Konditorei. Aus der sich hin und wieder öffnenden Türe strömte ein Geruch von frischem Kuchen und köstlichen Süßspeisen. Es war die beste Konditorei der Stadt. Sie gehörte den Eltern eines Mädchens aus Patricks Klasse. Ich linste durch das Schaufenster und entdeckte Patrick.
Er saß mit einem blonden Mädchen zusammen an einem der hintersten Tische. Das war bestimmt Marina, deren Eltern die Konditorei gehörte.
Ich hatte sie schon mal auf dem Schulhof gesehen. Sie hatte sich über ein Buch gebeugt, während Patricks Mund sich öffnete und schloss. Wahrscheinlich gab er ihr Nachhilfe und er erklärte ihr gerade was. Aber wieso hatte er mir davon nichts erzählt? Er hätte ja sagen können, dass da nichts weiter lief. Wieso hielt er das geheim? Da hatte er mich entdeckt.
Er tippte Marina an und sie hob den Kopf. Sie entdeckte mich ebenfalls, doch bevor einer von den beiden reagieren konnte, hatte ich das schützende Vordach verlassen und war in den Regen hinausgestürzt.
Schon nach ein paar Metern war ich durchnässt bis auf die Haut. Doch ich strebte weiter durch die Stadt. Keine Menschenseele begegnete mir. Irgendwie landete ich nach, wie mir vorkam, stundenlangem Laufen vor dem Museum. Ein Schild hing an der Eingangstür. „Wegen Krankheit geschlossen!“ Ich fluchte leise. Ich wollte gerade umdrehen, da fiel mir der kleine handgeschriebene Satz unter der Computernachricht auf. „Lena, klopfe laut!“. Ich zögerte erst. Die Nachricht konnte nur an mich gerichtet sein. Vielleicht war sie von Hanna. Ich klopfte also laut und eine Minute später erschien Hanna. Sie trug keine Kostüm, wie sonst immer. Sie sah blaß aus und ihre Haare lagen ihr locker über den Schultern. „Hallo Lena“, begrüßte sie mich. Wundern tat sie sich nicht, dass ich früher da war als abgesprochen „Bist du krank?“, fragte ich Blödsinnigerweise. Hanna nickte und hustete: „Eine kleine Erkältung, sonst nichts. Die habe ich bis zur nächsten Woche auskuriert.“ Wir gingen zum Sonnenblumenraum. „Wieso bist du nicht zu Hause geblieben?“, fragte ich, „du hättest mich anrufen können.“ Sie nickte und schnaufte.
Ich hörte, dass sie nur schlecht Luft bekam. Dann waren wir zum Glück schon da. Diesmal allerdings waren die Bilder nicht die einzigen Gegenstände im Raum. Hanna hatte 2 bequeme Matten besorgt, außerdem einen Kassettenrekorder und Entspannungsmusik. „Ich bin schon den ganzen Tag hier und entspanne mich auf diese Weise“, erklärte sie und ließ sich aufatmend auf einer Matter nieder. Ich setzte mich auf die andere und wartete ab. „Ich wollte, dass du das auch mal kennen lernst und habe dich deshalb nicht angerufen. Es wird dir gefallen“, prophezeite sie.
Nun legte sie eine Kassette ein, drückte auf ‚Start’, setzte sich im Schneidersitz hin und schloss die Augen. Ich tat ihr nach und schon fing die Musik an. Ich wusste nicht, wie lange wir dort saßen und ob Hanna die Kassette mal zurückspulte. Ich war gefangen in dieser Atmosphäre. Das Licht, die Musik, dass alles passte wunderbar zusammen.
Nicht einmal Hannas Husten hörte ich, vorausgesetzt sie tat es. Patrick, Marina, Christins Krankheit und das alles verschwand, als gäbe es diese Probleme gar nicht. Irgendwann hörte die Musik dann auf und ich öffnete die Augen. Hanna lächelte mich an: „Na, wie hat es dir gefallen?“, fragte sie.
Ihr Gesicht hatte nun wieder eine wenig Farbe und sie sah gesünder aus.
Ob das die Entspannung machte? Nein, wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Ich nickte: „Es war super. Machst du das oft?“ Da schüttelt sie eine Hustenanfall und sie konnte erst mal nicht antworten. Ich klopfte ihr zaghaft auf den Rücken. „Ja, sehr oft“, antwortete sie luftringend. „Du solltest lieber nach Hause gehen und dich ins Bett legen“, schlug ich ihr sorgenvoll vor, „so kannst du nicht gesund werden.“ Hanna stand auf und begleitete mich
ohne ein Wort zur Eingangstür zurück. Dort legte sie mir ihre Hand auf meinen Kopf: „Du bist wirklich ein besonderes Mädchen, Lena. Geh deinen Weg im Leben und mach das, was du für richtig hältst.“ Ich musste es ihr versprechen und sie versprach mir, mindestens bis Dienstag im Bett zu bleiben. Verwundert und nachdenklich ging ich nach Hause.
Tanja sagte kein Wort zu meinem Verschwinden. Sie tat so als sei nichts gewesen und stellte mir mein Essen vor. Bratkartoffeln mit Spiegelei und jede menge Apfelmus. Ich aß wortlos und spülte danach freiwillig den Topfe und die Pfanne. Tanja sprach kein Wort mit mir und schenkte mir keinen ihrer Blicke. Oder sie tat es nur dann, wenn ich wegsah. Claudias merkte von der Anspannung nichts. Er saß vor dem Fernseher und zog sich Videos rein. Die Klopperei erwähnte er nicht mehr und auch die Schmerzen seiner Verletzungen schien er kaum noch zu spüren. Ich verabschiedete mich sehr bald und ging in mein Zimmer. Es dauerte allerdings nicht lange, da kam Claudias. Er stürmte ohne anzuklopfen, wie immer, in mein Zimmer und knallte die Türe hinter sich zu. „Ein Junge hat heute Mittag für dich angerufen. Patrick hieß er glaub ich“, erklärte er seinen Grund für den Besuch. Dann war er auch schon wieder draußen. Patrick hatte angerufen? Wie kam er dazu? Vielleicht hatte er mich noch überreden wollen, doch mit zur Party zu kommen. Aber jetzt hatte er ja Marina. Ach ja, Marina! Die hatte ich ja schon fast vergessen. Vielleicht hatte er deshalb angerufen. Bestimmt hätte er mich vollgeschleimt mit „das war alles ganz anders als es ausgesehen hat“ und „zwischen uns läuft nichts, ich habe sie nur rein zufällig getroffen“. Gut, dass mir das erspart geblieben ist. Hatte ich überhaupt noch Gefühle für ihn. Im ersten Moment stellte ich erstaunt fest, dass nichts mehr von meinen Empfindungen für ihn vorhanden war. Hatte sich das nach einer Woche schon abgekühlt? Aber kaum sah ich sein Gesicht vor meinem inneren Auge, da wurde meine Sehnsucht nach ihm größer denn je. Diese wunderschönen Augen, die Haare... Marina, das bedeutete Krieg!
Den Samstagmorgen verschlief ich ganz. Erst Jochen bekam mich um halb eins wach. Ich aß mit Tanja, Claudias und Jochen zu Mittag. Tanja erwähnte unsere kleine Auseinandersetzung von gestern mit keiner Silbe und auch Jochen schien sie nichts davon erzählt zu haben. Claudias war überhaupt der einzige, der redete. Er erzählte von Manfred, der ziemlichen Ärger von seiner Mutter gekriegt hatte, weil er ihn verhauen hatte. Als Strafe hatte er Claudias eines seiner Lieblingsspielzeuge geben müssen. Und jetzt waren sie beste Freunde und sie hatten sogar schon Fußball zusammen gespielt. Tanja war mit ihren Gedanken ganz woanders, das sah ich an ihrem Gesichtsausdruck. Jochens Augen waren an Tanja geheftet. Zum Glück merkte Claudias das nicht. Er wäre ziemlich gekränkt gewesen, wenn er bemerkt hätte, dass niemand ihm zuhörte.
Nach dem Essen wollte ich gerade abspülen, als das Telefon klingelte. Ich bekam den Hörer vor Claudias zu fassen. Nachdem Patrick seinen Namen genannt hatte, wünschte ich, Claudias wäre zuerst am Telefon gewesen. Patrick fragte, ob ich heute Zeit hätte, er wolle mir was erklären. Da ich mir denken konnte, worum es ging und ich gerne seine Ausrede hören wollte, sagte ich ja. Wir verabredeten uns in einer halben Stunde am Parkeingang. Ich half Jochen noch beim Abspülen und machte mich dann auf den Weg.
Schon von weiten sah ich, dass Patrick nicht alleine war. Als ich näher kam, erkannte ich- Marina! Ganz cool, in Minirock und hautengem Top stand sie neben ihm. Bevor ich einen Rückzieher machen konnte, kamen die beiden leider schon auf mich zu. Ganz automatisch schlug mein Herz höher, je näher Patrick kam. Dabei wollte ich das doch gar nicht. Dann stand er schon vor mir. Ich erwartete, dass er anfangen würde zu reden, doch stattdessen öffnete Marina ihren rosa geschminkten Mund. „Patrick hat mir gestern echt nur Nachhilfe gegeben. Und es war auch nur einmalig. Ehrenwort, brauchst nicht gleich so auszuticken.“ Sie kaute gelangweilt auf ihrem Kaugummi und wandte sich zum Gehen. Ich hätte ihr am liebsten eine reingehauen, doch sie war mindestens einen halben Kopf größer als ich (aber auch nur wegen den hochhackigen Schuhen, die sie trug) und auch so reizte mich keine Klopperei. Hatte ich nicht gestern noch zu Claudias gesagt, dass man Konflikte nicht mit Gewalt löst? Obwohl, das hier war was anderes. Kaum war sie außer Hörweite, ließ ich meine ganze Wut an Patrick aus: „Und du glaubst jetzt echt, nur weil dieses aufgetakelte Etwas dir ein Alibi gegeben hat, glaube ich dir?“, schrie ich. Es war mir egal, dass sich alle Leute auf der Straße nach uns umsahen. Ein paar alte Omas schüttelten schon die Köpfe und auch Patrick legte mir beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Doch ich schüttelte sie ab. Sollten die doch alle denken was sie wollten. „Du glaubst das doch, oder? Gib es doch zu. Es war mehr zwischen euch“, fauchte ich ihn weiter an. Doch statt eine Antwort abzuwarten, ging es weiter. Wie eine begossener Pudel stand Patrick da vor mir und ließ meinen Wutanfall über sich ergehen. Kein Wort warf er dazwischen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er da und wartete ab. Ob er mir überhaupt zuhörte?
Schließlich drehte ich mich erschöpft um und ging auf Umwegen nach Hause. Er hielt mich nicht auf. Schien auch nicht erstaunt zu sein. Ich wusste selber nicht, was ich ihm alles an den Kopf geworfen hatte. Alles war wie in Trance abgelaufen. Und ich wusste, einiges was ich gesagt hatte, betraf gar nicht ihn. Ich hatte den ganzen Groll über meinen Vater an ihm ausgelassen,
die Verbitterung über Christins Krankheitswiederkehr, den Auszug der Zwillinge, der mir näher ging als ich je gedacht hatte, und meinen dummen Streit mit Tanja wegen nichts und wieder nichts.
Zu Hause warf ich mich auf mein Bett und heulte. Zum Glück waren weder Jochen noch Tanja da. Auch von Claudias war nichts zu hören. Irgendwie tat mir Patrick Leid. Aber der Teufel war mit mir durchgegangen. Dabei war nicht mal er der Auslöser gewesen. Eher der blöder Kommentar dieser dummen Schlampe Marina. Und auch daran war er nur indirekt Schuld gewesen. Ich hatte ihn total zum Affen gemacht, vor allen Leuten. Wieso hatte er nicht versucht mich zu beruhigen oder war einfach weggegangen? Ich war doch
total bescheuert. Den Rest des sowieso schon beschissenen Samstags verbrachte ich im Bett. Nicht mal zum Abendessen kriegte mich Jochen aus dem Bett. Mit saurer Miene verließ er mein Zimmer. Doch im Flur hörte
ich ihn mit Tanja reden und dann ließ er mich in Ruhe. Was sie ihm wohl erzählt hatte? Das Mädchen in meinem Alter nun mal schwierig waren,
dass es bei ihr nicht anders gewesen war. Ja, wahrscheinlich.
Die Älteren kamen sich ja immer schlauer vor. Erst um acht Uhr kam ich ins Wohnzimmer. Einträchtig saßen Tanja, Jochen und Claudias vor dem Fernseher und aßen Chips und tranken Cola. Sie lachten gerade. Wahrscheinlich über einen blödsinnigen Witz von Jochen. Er kannte eine ganze menge davon. So richtig einen auf Familie am machen waren sie.
Dabei konnte Tanja doch Jochen angeblich nicht sonderlich leiden. Ich kam mir ausgeschlossen vor. Ohne das sie mich bemerkten, schlich ich in meine Zimmer zurück. Traurig vergrub ich mich in meinem Bett und löschte das Licht. Was für ein beschissener Tag war das doch gewesen.
Patrick konnte ich abschreiben, der hatte bestimmt die Nase voll von mir. Aber was sollte ich tun, wenn ich ihm rein zufällig mal begegnete?
Ich konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Vielleicht tauchte er ja bald mit Marina zu den Treffen im Park auf und ich wäre ziemlich schnell vergessen. Mir lief ein Gänseschauer den Rücken hinunter. Dann saß er bestimmt mit ihr auf einer Decke, cremte ihr den Rücken ein und lauschte den Geschichten der anderen. Dann würde er mit Marina und Jana und deren Freund Ausflüge machen und ich durfte gucken, wo ich blieb. Mir wurde richtig schlecht bei der Vorstellung. Jana wollte bestimmt auch wissen,
wieso wir wieder auseinander waren. Dabei hatte ich gar keine Lust, ihr von meiner Blamage zu berichten. Bloß gut, dass morgen noch keine Schule war. Da viel mir Hanna ein. Ob es ihr wohl schon wieder besser ging? Hoffentlich war sie bald wieder auf dem Damm. Ich vermisste schon den Sonnenblumenraum, die Musik und diese ganze Stimmung.
Dabei hatte ich gerade mal einen Tag darauf verzichtet. Traurig und nicht wissend wie es weiter gehen sollte, schlief ich irgendwann ein.
Ich wachte schon ziemlich früh auf. Die Sonne war noch nicht mal aufgegangen. Ich trat ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Man sah schon, dass das Wetter schlecht wurde. Na, das passte auch besser zu meiner Stimmung. Ich schlich ins Wohnzimmer und fand die Reste eines fröhlichen Familienabendes. Leere Chipstüten und Colaflaschen lagen neben der Fernsehzeitung auf dem Tisch. Ein paar verstreute Mensch-ärgere-dich-nicht Figuren lagen daneben und unter dem Sofa. Ich räumte auf und kochte Kaffee. Aus der Kühltruhe holte ich Brötchen, die ich im Backofen aufbuk. Dann deckte ich den Frühstückstisch. Es war erst halb sieben, als ich die drei aus dem Bett holte. Aber böse waren sie mir deshalb nicht.
Wir frühstückten gemütlich. „Ich fahre heute zu Christin. Willst du mit, Lena?“, fragte Jochen mich. Ich zuckte unschlüssig die Schultern. Ich konnte Krankenhäuser nicht leiden. Auch als Christin das letzte mal krank gewesen war, hatte ich sie nur zweimal besucht. Ich hasste diese weiße Umgebung. Diese auf fröhlich tuenden Krankenschwestern, die Ärzte mit Kladden, wo ganze Krankheitsgeschichten drauf geschrieben waren. Das alles war mir zuwider. Christin tat mir schon Leid genug, dass sie das schon wieder ertragen musste. „Du warst die ganze Woche schon nicht mit“, warf Jochen mir vor, „Christin hat dauernd nach dir gefragt. Sei froh, dass mir immer plausible Ausreden eingefallen sind.“ „Hättest ja nicht lügen müssen. Wieso hast du sie nicht einfach daran erinnert, dass ich Krankenhäuser auf den Tod nicht ausstehen kann?“, gab ich kalt zurück. „Weil das eine ziemlich dumme Ausrede ist. Du hattest einfach keinen Bock“, flippte Jochen aus, „und selbst wenn es stimmt, könntest du ihr ruhig mal diesen Gefallen tun.“ „Wer von uns beiden kann den Christin nicht leiden und versucht auf diese Weise, es wieder gut zu machen, dass man sie lange Zeit nicht beachtet hat?“, fragte ich frech. Jochen wurde rot vor Wut und wenn Claudias nicht völlig verschreckt auf seinem Stuhl gesessen und Tanja nicht die Stirn gekräuselt hätte,
hätte er mir bestimmt eine runter gehauen. Doch stattdessen drohte er mir nur mit der Faust und ich floh in mein Zimmer. Wie immer in den letzten zwei Tagen war mein Bett der Zufluchtsort, wohin ich mich verzog.
Wieso hatte ich nicht einfach meine Klappe halten und mitfahren können? Nein, ich ließ es gleich wieder auf einen Streit ankommen.
Den ganzen Vormittag blieb ich in meinem Bett und bemitleidete mich selber. Zwischendurch hörte ich die Haustür auf- und zugehen.
Doch niemand betrat mein Zimmer. Es klingelte mal das Telefon und ich hörte Tanja sagen, dass ich im Moment für niemanden zu sprechen sei. Bestimmt war es Jana oder Patrick. Erst am späten Nachmittag kam ich aus meinem Zimmer. Tanja saß in der Küche und tippte was auf ihrem Laptop,
als ich rein kam. Ich nahm mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte mich ihr gegenüber. Ohne von der Tastatur aufzusehen sagte sie: „Jochen war ziemlich traurig, dass du nicht mitgefahren bist.“ Ich trank geräuschvoll. „Mir egal“, sagte ich dann. Tanja sagte nichts mehr und man hörte nur noch das Uhrticken der großen Küchenuhr und sie Tastenschläge von ihr.
Langsam stand ich auf und schlurfte zum Fernseher im Wohnzimmer. Doch bevor ich ihn einschalten und mir irgendeinen sonntäglichen Schwachsinn ansehen konnte, rief Tanja noch: „Eine gewisse Hanna Berger hat für dich angerufen“ Hanna! Was wollte sie denn von mir? Da schoss mir eine Gedanke durch den Kopf: Vielleicht ging es ihr schlechter und sie hatte keine Verwandten mehr hier, die sie anrufen und um Hilfe bitten konnte.
Ich trabte zurück in die Küche. „Was wollte sie?“, fragte ich.
Tanja ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie merkte, dass es mir wichtig war. Endlich schaute sie auf und meinte: „Sie plapperte irgendwas von schlimmen Husten und Halsschmerzen. Ich konnte sie kaum verstehen, sie hatte eine total heisere Stimme.“ Ich geriet in Panik und rannte in den Flur.
Tanja hechtete hinter mir her. „Brauchst deshalb nicht gleich auszuflippen. Sie hat doch bestimmt Eltern, die sich um sie kümmern“, sagte sie.
Mensch, die glaubt immer noch, dass Hanna eine Klassenkameradin von mir war. Doch ich hatte keine Zeit, ihr alles zu erklären. Ich riss meine Jacke vom Haken und bat Tanja, mir die Adresse von Hanna rauszusuchen.
Ohne eine weitere Frage tat sie mir den Gefallen, während ich Hustentees und Fiebersenkende Mittel zusammensuchte. „Brunnenstraße 22!“, rief Tanja aus der Küche und schon hastete ich aus der Wohnung.
Zum Glück wusste ich, wo die Brunnenstraße war und hatte meine Monatsfahrkarte für die Straßenbahn dabei. Zu Fuss hätte ich viel länger gebraucht. Die Hausnummer 22 war ein weiß verputztes Haus mit hellbraunen Fensterläden und einer dunkelbraunen Holztür. Ich klingelte und musste lange warten, bis ein blasse Hanna im Bademantel die Türe öffnete.
Sie hatte sich einen langen, bunt gestreiften Schal um den Hals gebunden und hustete ununterbrochen. Aus ihrem Gestammel dazwischen konnte ich so eben heraushören, dass sie froh wäre mich zu sehen und das es ihr miserabel ginge. Aber das letzte konnte man auch so sehen.
Sie zeigte mir die Küche. In der sah es verehrend aus. Leere und ungespülte
Teetassen wechselten sich mit Taschentüchern- und packungen ab. Geschirr und Besteck stapelte sich in der Spüle und es war unheimlich stickig.
Hanna war ziemlich schwach, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Deshalb kümmerte ich mich erst mal um sie. Steckte sie ins Bett mit genügend Wärmflaschen, kochte ihr Tee und gab ihr Hustensaft.
Dann lüftete ich das Zimmer, nachdem sie es warm genug hatte im Bett.
Anschließend bekam sie noch ein Fieber senkendes Mittel. Man sah auch ohne Thermometer, das sie fieberte. Dann schlief sie zum Glück bald ein und ich konnte mich um den Rest des Hauses kümmern. Ich riss alle Fenster auf und spülte bei Radiomusik das Geschirr und die Tassen. Danach schmiss ich alle Taschentücher weg und wischte Staub. Nach gut drei Stunden sah es im Haus schon erheblich besser aus. Wahrscheinlich war Hanna schon länger krank gewesen, denn der Haushalt war schon länger vernachlässigt worden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Hanna sonst so eine schlechte Hausfrau war, die nicht mal ein wenig sauber halten konnte. Dann wäre sie ja noch miserabler als Hannelore gewesen, und mit der war es schon ein Graus. Bestimmt hatte sie nun eine Putzfrau, die sich um alles kümmerte. Anders konnte es gar nicht gehen. Um halb acht rief ich zu Hause an und bat darum, bei Hanna bleiben zu dürfen, bis sie wieder wach war.
Allerdings musste ich Tanja erst mal alles erklären, sonst dürfte ich nicht länger hier bleiben. Sie hatte inzwischen begriffen, dass Hanna keine Klassenkameradin von mir war. So erzählte ihr die Geschichte, allerdings ein wenig anders: Demnach hatte ich Hanna in der Stadt kennen gelernt und ihr beim Taschen tragen geholfen. Sie hatte mich danach noch zum Tee eingeladen und so waren wir gewissermaßen Freundinnen geworden. Und weil sie so entsetzlich krank war und sie keine Familie mehr hier hatte,
hatte sie eben mich angerufen. Tanja glaubte mir und versprach, Jochen zu erzählen, ich sei spazieren. Ich wollte nicht, dass er davon erfuhr und sich noch womöglich darüber lustig machte. Außerdem musste sie mir versprechen, keinen Arzt zu rufen. Ich beteuerte ihr, dass ich ganz prima zurecht käme, was ja auch nicht gelogen war. Dafür versicherte ich ihr,
dass ich beim nächsten Christin Besuch mitkommen würde. Erleichtert legte ich auf. Im selben Moment rief Hanna nach mir. Sie saß aufrecht im Bett und sah schon etwas besser aus als heute Mittag. Sie dankte mir überschwänglich und wollte mir Geld geben, doch in winkte ab. „Du hast auch viel für mich getan. Und wenn du mir unbedingt Geld geben willst, dann tust du das, wenn du wieder gesund bist“, sagte ich. Sie wollte widerspreche, doch ein neuer Hustenanfall schüttelte sie. „Und ich kann die heute Nacht alleine lassen?“, fragte ich unsicher und gab ihr die Flasche mit Hustensaft. Sie nickte und nahm die von mir verschrieben zwei Löffel. Bevor ich ging, kochte ich noch einen Tee und schärfte ihr ein, mich sofort anzurufen, wenn was wäre. Ich würde das zu Hause schon klären, dann würde ich sofort zu ihr kommen. Dankbar und erschöpft ließ sie sich in die Kissen zurück sinken und war schon wieder eingeschlafen. Anscheinend hielt sie Ärzte für genauso unfähig jemanden zu heilen wie ich. Oder sie konnte diese Leute generell nicht leiden. Hätte sie sonst mich angerufen? Ich packte meine Sachen zusammen, nahm den Schlüssel, den ich von ihr bekommen hatte, und verließ das Haus.
Jochen war glücklicherweise noch nicht zu Hause, als ich um halb neun eintrudelte. Ich erfuhr von Tanja auch, warum. Christins Blutwerte waren über Mittag rapide in den Keller gegangen. Die Ärzte hatten sich das auch nicht erklären können und hatten sie auf die Intensivstation verlegt,
um sie besser beobachten zu können. Aus lauter Unruhe hatte Jochen noch keine Lust gehabt, nach Hause zu fahren. Jetzt bereute ich, dass ich nicht mit gefahren war. Ich hatte vor, noch auf Jochen und Claudias zu warten, doch um halb elf schickte Tanja mich ins Bett. Sie ließ sich nicht erweichen. Also machte ich Katzenwäsche und ging in mein Zimmer.
Erst im Bett merkte ich, wie müde ich war und deshalb schließ ich auch verhältnismäßig früh ein.
Geweckt wurde ich von einem Lichtstrahl, der in mein Zimmer fiel. Die Flurtür stand auf. Die Rollos waren noch unten und durch die Schlitze konnte ich sehen, dass es auf keinen Fall schon Tag sein konnte.
Ich schaute auf meinen Wecker. Halb drei. Waren Jochen und Claudias etwa erst jetzt zurückgekehrt? Angestrengt lauschte ich. Doch im Haus war es still. Leise stand ich auf und huschte zur Türe. An der Garderobe hingen ihre Jacken. Demnach waren die beiden wohl doch schon da.
Aber seit wann? Jetzt hörte ich leise Stimmen aus der Küche. Die eine kam von Jochen und auch Tanjas hörte ich heraus. Aber von wem war die dritte? Lautlos schlich ich zur Türe und horchte. „Wir sollten uns abwechseln. Zu jeder Tageszeit sollte jemand bei ihr sein. Ihr geht es miserabel“, erzählte Jochen gerade. „Am besten gehe ich nachmittags, da kann ich mir problemlos frei machen“, sagte die dritte Stimme. Jetzt wusste ich auch, zu wem die gehörte. Susanne, Christins Freundin von gegenüber. Was trafen sich die drei mitten in der Nacht? Hatte sich Christins Zustand so verschlechtert?
Angst überfiel mich. Mein Herz hämmerte so laut, das ich längere Zeit nicht verstehen konnte, was in der Küche gesprochen wurde. „...und wie erklären wir das Claudias? Und wie machen wir das mit Karin? Sie kann doch nicht die ganze Zeit in der Klinik bleiben“, warf Tanja da gerade ein. Ihre Stimme zitterte ein wenig, das konnte man sogar durch zue Türen hören. „Die Ärzte haben gesagt, dass das das beste wäre. Vor allem weil Christin sonst total durchdrehen würde. Nur gut, das wir ihr noch nicht gesagt haben, dass sie Zwillinge wieder bei ihrer leiblichen Mutter sind“, erwähnte Jochen.
„Wir sollten uns mit den Kindern zusammen setzten und nach einer Lösung suchen“, sagte Tanja, „ich kann nicht weiter so tun, als wäre hier alles in Butter. Ich muss das meiner Chefin melden.“ „Nein, bitte nicht“; bat Jochen sie eindringlich, „sie werden die Kinder und mich doch nur in ein Heim stecken oder Oma holen und das wäre keine gute Lösung.“ Tanja seufzte.
Susanne auch, doch dann sagte sie: „Im Falle eines Falles, also wenn ihr wirklich in ein Heim müsst oder eure Oma hierhin kommen soll und es stimmt, dass niemand von euch mit ihr klar kommt, aber auch nur dann, würde ich mich erbarmen und euch aufnehmen, bis Christin wieder gesund ist.“ „Wirklich, das würdest du tun?“; fragte Jochen erfreut.
Jemand gähnte und war im Begriff, die Küche zu verlassen, also verschwand ich schnell wieder in mein Zimmer und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Zu meinem Vorteil kam dieser Jemand, der die Küche verlassen hatte,
nicht in mein Zimmer. Es wäre sofort aufgefallen, dass ich nicht am schlafen war, denn um so zu tun war ich viel zu aufgeregt. Christin ging es schlechter, vielleicht musste Oma doch kommen oder wir mussten in ein Heim... die Gedanken drehten sich im Kreis. Richtig schlecht wurde mir. Im Moment war mein Leben echt ein Scherbenhaufen. Ein ganz großer und immer größer werdender Scherbenhaufen.
Jochen weckte mich am nächsten Morgen. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und sah überhaupt sehr sorgenvoll aus. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken. Das war auch nicht weiter schwierig. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen und dachte, als er mich um halb sieben weckte, dass ich gerade erst wieder eingeschlafen war. Ich wusch mich fix und zog mich an. Eigentlich hatte ich keinen Hunger und angesichts des dürftig gedeckten Frühstückstisches noch weniger, doch Tanja zwang mich eine Scheibe Brot und eine Banane zu essen. Von Claudias war weit und breit nichts zu sehen und wir redeten kein Wort. Jochen las die Zeitung und Tanja, die auch nicht viel besser aussah als er, lackierte sich mit angestrengtem Gesichtsausdruck die Fingernägel. Kaum war ich mit essen fertig, schnappte ich mir meine Tasche und verließ mit einem knappen „Ciao“ die Wohnung.
Ich holte Jana nicht ab, wie ich es sonst immer tat sondern strebte direkt die Schule an. Irgendwie war es eine Erleichterung, dort hin zu müssen. Nur hier lief alles so wie es sollte und nichts konnte mich von dieser vorgeschriebenen Bahn ablenken. Auf dem Schulhof war wenig los.
Nur die Schüler die mit dem Bus oder dem Zug kamen waren schon da. Klar, sie waren immer die ersten. Ich setzte mich auf die Mauer und wartete.
Es dauerte nicht lange und ich sah ein paar aus meiner Klasse. Keks, eigentlich hieß er Roland, saß auf der einzigen Bank des Schulhofes und verdrückte sein zweites Frühstück das, wie der schon Spitzname sagte, aus einer Rolle mit Keksen bestand. Das tat er jeden Morgen.
Ebenso in den zwei großen Pausen und nach der Schule. Richtig süchtig nach den Dingern war er. An der Raucherecke stolzierten die drei „Divas“, wie Susan, Melanie und Natascha nur genannte wurden. Sie waren eine eingeschworene Mädchengruppe und kümmerten sich um nichts anderes als die angesagte Mode, Schminke, Partys, Jungs, Jungs und noch mal Jungs. Jede von ihnen hatte einen Freund aus der 10. Klasse und lief stets in Minirock und bauchfreiem Top durch die Gegend. Die hochhackigen Schuhe nicht zu vergessen. Melanie drehte sich gerade eine Zigarette,
damit sie cool genug bei den Großen rüberkam. Natascha knutschte mit ihrem Freund und Susan kaute gelangweilt Kaugummi. Irgendwie erinnerte sie mich ein bisschen an Marina Die hatte auch Kaugummi gekaut und war genauso angezogen gewesen wie sie. Überhaupt, Marina würden gut zu den drei Divas passen. Wieso war sie nicht Mitglied in diesem dämlichen Club der drei? Dann hätte sie was besseres zu tun als anderen Mädchen den Freund auszuspannen. Mir kamen fast wieder die Tränen und ich verbot mir,
noch mal an Patrick und Marina zu denken. Die beiden waren für mich gestorben. Marina sowieso und Patrick zwangsläufig auch, nach dem Samstag. Da kam Jana auf mich zu. Sie winkte und setzte sich mit
Schwung neben mich. „Hey, du!“, rief sich mit einer Miene, wie sie fröhlicher nicht hätte sein können. Na, wenigstens lief bei ihr im Moment alles in normalen Bahnen. „Was ziehst du den für ein Gesicht?“, fragte sie bestürzt, „gerade so, als sei mit Patrick Schluss.“ Konnte das Mädel Gedanken lesen? Ich seufzte. „Sag nicht, ich habe richtig geraten?“, sagte sie und ich nickte nur noch, bevor ich wieder zu heulen anfing. Mensch, wieso war ich bloß so nah an Wasser gebaut! Jana legte einen Arm um mich: „Mensch, dann erzähl doch mal. Danach geht es dir bestimmt besser. Sagt meine Mutter zumindest immer. Und sie hat damit sogar mal recht.“ Ihre Mutter war Psychologin und andauernd musste ich mir von Jana solche Tipps anhören. Echt nervtötend nach einiger Zeit. Trotzdem erzählte ich stammelnd von Freitag und Samstag. Jana hörte geduldig zu und unterbrach mich nicht ein einziges mal. Eine echte Höchstleistung von ihr. Sonst war sie eine
Meisterin im Dazwischenplappern von Erzählungen. Pünktlich zum Klingeln hatte ich geendet. Wir sprangen von der Mauer und folgten den andern Schülern ins Schulhaus. „Das ist ja echt ein starkes Stück von ihm“, war Janas Meinung. „Das heißt, du findest das okay, das ich ihn angeschnauzt habe?“, fragte ich. Jana nickte und wurde gegen mich gedrückt. „Er anscheinend auch, sonst wäre er doch einfach abgehauen“, sagte sie dann noch, bevor sie von dem Strom der Schüler in eine andere Richtung gezogen wurde. Ich ging zum naturwissenschaftlichen Trakt und überlegte. Jana hatte was Wahres gesprochen. Ob es ihm wirklich nichts ausgemacht hatte? Hoffentlich sah ich ihn heute nicht mehr. Das würde nur dummes Fragen geben. Obwohl, Fragen würde es genug geben. Schließlich glaubte jeder in der Klasse, dass ich mit Patrick zusammen gewesen war. Na ja, vielleicht waren wir das auch. Und sie würden wissen wollen, warum wir wieder auseinander waren und dergleichen. Dabei ging sie das alles nichts an.
Vor den Glastüren der Chemie-Physik- und Biologieräume standen schon ein paar aus meinem Kurs. Keks, Uli und ein paar aus de 9b. Unter ihnen war auch Marina. Sie sah mich nur kurz an und grinste gemein. Oder bildete ich mir das nur ein? Ich wandte mich ab und ging zu Uli, die von einigen Schülern umringt war. Ulrike war beliebt. Nicht nur, weil sie andauernd Partys gab, auch vom Mensch her war sie einmalig. Sie tratschte nicht, hielt sich aus fremden Angelegenheiten raus und half jedem, dem sie konnte. Und erzählen konnte sie wie kein anderer. Jetzt berichtete sie von einer Fete in einer
Diskothek am Wochenende. Dort war natürlich die halbe Schule gewesen und hatte gefeiert. Doch bevor sie die Story beenden konnte, kam Lieschen, unsere Biologielehrerin, und scheuchte uns in den Bioraum. Natürlich war Lieschen nur ihr Spitzname. In Wirklichkeit hieß sie Frau Lies und Liese mit Vornamen. Schon ziemlich dumm, wenn Vor- und Nachname so gleich klangen. Sie war erst 27 und die halbe Schülerschaft der Jungen
schwärmte für sie. Frau Liese sah auch gut aus. Bestimmt stand auch der ein oder andere Lehrer auf sie. Natürlich waren das nur Gerüchte, aber ein Funken Wahrheit steckte bestimmt darin. Während sich die meisten
des Kurses der Mitosestadien widmeten, gingen meiner Gedanken auf Traumreise. Ich bekam nichts mit und bemerkte nicht einmal das Klingeln am Ende der Stunde.
So verlief der ganze Schultag. Kein einziges Mal begegnete ich Patrick und auch Marina ließ sich nicht mehr blicken. Ich ging mit Jana nach Hause. Sie erzählte von ihrem jetzigen Freund Marcel, nachdem ich es ihr erlaubt hatte. Wie toll sie sich verstehen würden und wie viele Gemeinsamkeiten sie hätten und Marcel wäre der Mann fürs Leben. Wie oft erzählte Jana das. Jeder zweite Freund, den sei gehabt hatte, sei der Mann ihres Lebens gewesen. Endlich konnte ich mich von ihr verabschieden.
Doch nach Hause zu gehen hatte ich noch keine Lust. Es waren sowieso nur Tanja und Claudias da.
Also ging ich zu Hanna. Da ich nicht mit der Straßenbahn fuhr, dauerte es diesmal ein wenig länger. Ich klingelte an der Türe und wartete. Wartete, wartete. Niemand öffnete. Ich klingelte noch mal und noch mal. Nichts rührte sich. Ich versuchte, durch die Schlitze des Rollos am Küchenfenster zu gucken. Alles war dunkel. Ob sie wohl noch immer schlief? Oder wieder? Ich schaute auf meine Uhr. Es war bereits halb drei. Tanja machte sich bestimmt schon Sorgen. Am besten, ich rief Hanna heute Abend an. Sie konnte ja nicht den ganzen Tag schlafen. Für den Rückweg nahm ich die Straßenbahn.
Es war trotzdem schon nach drei, als ich leise die Wohnung betrat. Doch niemand hatte mich vermisst, wie ich eine Minute später feststellt. Bei uns in der Küche war nämlich ein Versammlung. Wenn man die Ansammlung von alten und neuen Familienmitgliedern so nennen konnte. Jochen saß auf einem Küchenstuhl und rauchte schon wieder. Neben ihm stand Tanja. Auch sie qualmte. Claudias stand ganz verloren am Herd und kaute auf einem Schokoriegel. Auch Hannelore war da mit den Zwillingen, und zwei mir unbekannte Männer. Außerdem Susanne, die Freundin von Christin.
War was passiert, dass sie sich alle hier trafen? Ging es Christin immer noch so schlecht? Ich schluckte. Erst jetzt entdeckte mich Jochen. „Lena, na endlich“, sagte er erleichtert und stand auf, „wo warst du noch so lange? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Ich lächelte schief und ging zu Claudias. Er hatte rote Augen und blickte mich traurig und auch ein wenig vorwurfsvoll an. Ich nahm ihn in den Arm. Auch die Zwillinge ließen die Hand
ihrer Mutter los und wollten von mir umarmt werden. Schön, dass sie mich noch so sehr mochten. Hannelore hatte sie anscheinend nicht ganz
von uns wegerziehen können. Schließlich gehörten sie nicht mehr zu Familie. Schon allein, weil Vater weg war. „Wieso seit ihr alle hier?“, fragte ich dann meinen großen Bruder. Der senkte den Blick und drückte seine Zigarette aus. Mit stockender Stimme sagte er dann kaum hörbar: „Christin geht es sehr, sehr schlecht. Sie wird vielleicht diese Woche nicht mehr überleben.
“Nein, das konnte nicht sein. Nein, er log. Ich sah ihn an und er sah mich an. In seinen Augen sammelten sich Tränen. Also doch. Dann hatte er letzte Nacht nicht übertrieben, als er sagte, dass es ihr miserabel ginge.
Ich drückte Claudias an mich. Sein warmer Körper zitterte.
Er weinte auch. Ich weiß nicht, wie lange ich dort hockte und mit Claudias weinte. Irgendwann nahm Jochen mich in seine Arme und ging mit mir ins Wohnzimmer. Wir setzten uns auf das Sofa, auf dem bis vor
zwei Wochen noch Christin immer gelegen und Fern geschaut hatte. Claudias kauerte sich neben mich. Sein Gesicht war tränennass und er zog
andauernd die Nase hoch. Wir ließen es ihn gewähren. Vielleicht merkten wir es aber auch nicht richtig. Keiner außer uns dreien schien da zu sein. Wo waren sie alle auf einmal hin? Tanja, Susanne, Hannelore, die zwei fremden Männer. Die Wohnung war leer. Ich hörte die Küchenuhr ticken und leisen Vogelgesang aus einem offenen Küchenfenster. „Wieso so plötzlich?“,
fragte ich. Jochen seufzte: „Ihre Blutwerte gehen rasch in den Keller. Sie hat ihn schon verloren. Den Kampf um diese heimtückische Krankheit. Auch die Chemotherapie kann sie nicht mehr retten.“ Er sagte es ohne einen bestimmten Ton in der Stimme. Als ob es um ein Stofftier ginge, das
so alt war, dass es schon bei der kleinsten Berührung auseinander fiel. Niemanden kümmerte es, ob es zu reparieren oder doch besser in den Mülleimer zu werfen war. Aber hier ging es um Claudias Mutter, unsere Stiefmutter. „Weiß Papa schon davon?“, fragte ich, „ich meine, dass
sie bald sterben wird.“ Er schüttelte den Kopf: „Ich kann ihn nicht auf seinem Handy erreichen. Aber es ist mir auch egal. Genauso wie wir und Christin ihm egal sind.“ Klar, Recht hatte er. Aber er musste uns aufnehmen. Ich wusste nicht, wer Claudias Vater war, aber Papa konnte uns jetzt nicht im Stich lassen. Wer weiß, wo wir sonst landen.
Der Abend kam und ging, genauso die nächsten Tage. Wir gingen zur Schule und Jochen zur Arbeit. Nachmittags besuchten wir Christin. Sie registrierte uns, konnte aber kein Wort über die Lippen bringen, da sie sogar das anstrengte. Sie lag nur noch im Bett und starb vor sich hin. Ja, nur so konnte man es beschreiben. Am Ende der Woche konnte sie nicht mal mehr atmen, sodass die Ärzte sie an eine Atmungsmaschine anschließen mussten. So ging das fast noch zwei Wochen. Tag für Tag schienen mehr Geräte an ihr Bett zu kommen, die ihr Leben noch ein paar Tage verlängern sollten. Für uns war es ein schrecklicher Anblick. Claudias nahmen wir gar nicht mehr mit. Er bekam Albträume. Obwohl, die hatten wir alle. Aber nicht nur Jochen und ich besuchten sie, obgleich Christin sowieso von alledem nichts mehr mitbekam. Auch Susanne war täglich da. Am Ende auch Claudias Vater, den Tanja hatte ausfindig machen können. In diesen ganzen zwei schrecklichen Wochen ging ich jeden Abend mit Hanna ins Museum. Sie war wieder gesund und tröstete mich Abend für Abend, denn bei der Musik bekam ich immer Weinkrämpfe. Entspannend war das nicht mehr, aber es tat mir gut. Zu Hause traute ich mich nicht zu weinen. Jochen schaffte es auch und ich wollte nicht an Claudias tränennassem Gesicht schuld sein. Am Samstag, zwei Wochen nach der Verkündung Jochens von Christins nahem Tod, weckte Jochen mich. Ich wusste, was los war. Christins Ende stand bevor! Schnell stand ich auf und zog mir eine Jeans und einen Pullover an. Jochen half indessen Claudias. Claudias Vater zu benachrichtigen hatten wir total verschwitzt.
Fünf Minuten später saßen wir in Susannes kleinem Fiat und rasten über die leeren Straßen zur Klinik. Am Eingang erwartete uns bereits Schwester Anni. Sie hatte sich die letzte Zeit um Christin gekümmert. Viele weiße, kahle Gänge durchliefen wir mit ihr, bis wir in einer Art Leichensaal standen.
War Christin etwa schon gestorben? Nein, bitte nicht. Anni deutete auf die einzige Türe in diesem Raum. Sie gab uns zu verstehen, dass wir ruhig ohne, wie sonst immer, Plastikmantel, Mütze und Schuhe hinein gehen konnten. Susanne öffnete die Türe zögerlich und ich war grenzenlos erleichtert, das Christin dort im Bett lag und atmete. Langsam gingen wir hinein.
Alle Geräte waren noch da. Sie piepsten regelmäßig und sie lag da, wie von einem anderen Stern. Aus Christins Gesicht war jegliche Farbe geflüchtet.
Sie lag da so friedlich, als wäre sie nur am Schlafen. Aber das war sie ja auch. Noch. Tränen traten mir in die Augen. Jochen, Susanne und Claudias ging es nicht anders. Ich trat an Christins Bett und gab ihr einen Kuss
auf die Stirn. „Ich habe dich lieb, Christin“, flüsterte ich mit tränenerstickter Stimme. Es war mir, als zögen sich ihre Mundwinkel leicht nach oben, als ob sie mich verstanden hätte. Aber wahrscheinlich war es nur Wunschdenken und Einbildung gewesen. Dann kam Claudias neben mich. Er umarmte seine Mutter innig und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Auch Jochen beugte
sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr was ins Ohr. Zum Schluss betete die streng christlich erzogene Susanne noch etwas für sie. Und wie als ob
es abgesprochen wäre, piepsten die Geräte auf einmal laut. Schwester Anni kam ins Zimmer und legte ein paar Schalter um. Sofort war es still. Christin atmete nicht mehr. Die Schwester fühlte den Puls und den Herzschlag.
Dann nickte sie. Christin war tot. Es war endgültig. Ich bekam einen Weinkrampf und schlang meine Arme um sie. Claudias war ziemlich erschrocken über meinen Ausbruch. Trotzdem legte er seine dünnen, kurzen Ärmchen um mich und weinte mit. Anni ließ mich gewähren.
Doch nach einer, wie mir schien, sehr kurzen Zeit zog Jochen mich vom Bett weg. Keine Ahnung, wie wir wieder in unserer Wohnung landeten.
Ich weiß nur noch, dass ich die ganze Zeit wie besessen weinte. Es war, als hätte ich eine Wasserquelle in mir, die niemals wieder versiegen wollte.
Den Sonntag und die ganze nächste Wochen verlebte ich wie in Trance. Am Sonntag kamen viele Leute, die uns Beileid wünschten. Sie brachten Blumen, Karten und Essen. Auch Hanna kam. Woher sie wusste, dass Christin tot war, wusste ich nicht, aber es war mir auch egal. Ich war froh darüber,
dass sie da war. Montag ging ich wieder zur Schule. Alle aus meiner Klasse gaben ihr Beileid. Auch jeder Lehrer. Sogar Patrick kam zu mir und gab mir die Hand. Selbst ein „es tut mir Leid“ brachte er über die Lippen.
Ob das auf Christins Tod zu deuten war oder auf unseren Streit, wusste ich nicht. Der Dienstag ging vorbei wie immer. Den Vormittag verbrachte ich in der Schule, den Nachmittag zu Hause. Claudias Vater war zu uns gezogen.
Er war uns nicht böse, dass wir vergessen hatten, ihn Samstagnacht anzurufen. Am Mittwoch um zwei Uhr war die Beerdigung. Fast die ganze Kirche war besetzt. Ich kannte fast keinen der Menschen, die extra für Christin hergekommen waren. Der Trauerzug zum Friedhof bestand aus noch mehr Leuten als die, die schon in der Kirche gewesen waren.
Es hatte wohl doch mehr Leute gegeben, die Christin gekannt hatten. Direkt hinter dem Sarg lief Claudias mit seinem Vater. Danach kamen Susanne, Jochen und ich, dann folgte der Rest. Die Trauerfeier danach fand nur im kleinsten Kreise statt. Außer Jochen, Claudias, Christins Ex- Mann,
Susanne und Schwester Anni waren noch Tanja, ihr Freund, Hannelore und die Zwillinge dabei. Vater hatten wir nicht ausfindig machen können.
Tanja wollte sich nach dem ganzen Beerdigungszeug auf die Suche nach ihm machen. Sonst müsste sich Oma um uns kümmern. Eigentlich nur um mich und Jochen, denn Claudias würde ab jetzt bei seinem Vater in Hamburg wohnen. Unsere ganze Familie wurde auseinander gerissen. Da konnte man mal sehen, wie viel eine Person ausmachte. Und ausgerechnet diese eine Person,
die alle zusammenhielt, war nun fort. Für immer. Am Abend trafen wir uns noch alle in unserer nun ziemlich leeren Wohnung. Claudias Möbel
waren schon auf dem Weg nach Hamburg. Einen Großteil wollten wir verkaufen. Wir kannten Christins Testament noch nicht, aber es gab nichts Unwichtigeres im Moment als das.
Wir tranken Christins Lieblingssekt und hofften, dass sie es nun gut hatte, wo immer sie jetzt auch war. In dem Moment fiel mir Hanna ein. Seit Sonntag hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ob sie all die Abende auf mich gewartet hatte? Am besten, ich schaute Montag wieder im Museum vorbei. Jetzt fühlte ich mich noch nicht in der Lage dazu.
Donnerstag ging ich wieder zur Schule. Claudias tat das nicht mehr. Er war schon abgemeldet auf seiner alten Schule und würde in Hamburg auf eine neue gehen. Donnerstagmittag war großes Abschiednehmen angesagt. Claudias versprach, mich mal am Wochenende zu besuchen. Er weinte schrecklich, als sein Vater mit ihm ins Auto stieg. Er winkte noch, bevor das Auto davon fuhr. Auch Jochen tat es Leid, dass wir nun ohne Claudias
leben mussten. Freitag zogen Tanja und ihr Freund bei uns ein. „Sonst würde meine Chefin euch hier schneller abholen als das ihr ‚nein’ sagen könntet“, meinte sie dazu. Jochen hatte aufgehört um sie zu buhlen. Vielleicht wegen Christins Tod. Wahrscheinlich aber eher, weil er eingesehen hatte,
dass seine Chancen bei ihr gleich null waren. Am Wochenende kamen viele aus meiner Klasse zu mir. Samstag waren Jana, Keks, Samantha und Christoph da.
Am Sonntag kamen sogar die drei Divas. Als ob sie alle Angst hätten, ich würde vereinsamen oder auf dumme Gedanken kommen. Tanja buk für alle Kuchen und kochte Tee in rauen Mengen. Ich war froh, als das Wochenende vorbei war.
Am Montagabend ging ich mehr oder weniger frohen Sinnes
zum Museum. Ich freute mich auf den Sonnenblumenraum und die Musik. Aber noch mehr freute ich mich auf Hanna. Ich fühlte mich durch sie erwachsener. Sie war nicht so albern wie die Leute aus meiner Klasse.
Sie verstand mich, ohne viele Worte. Bei ihr fühlte ich mich einfach wohl. Mit fröhlicher Stimmung, wie ich sie schon seit Christins Tod nicht mehr gehabt hatte, betrat ich den Empfangsraum. Ich stutzte, als ich nicht, wie sonst immer, Hanna hinter den Tresen stehen sah, sondern ein ungefähr 20-jährige Frau. Sie war noch stärker geschminkt als Tanja, trug hochhackige
Schuhe und ein enges kurzes Kostüm. Ich ging auf sie zu. „Entschuldigung, wo ist Hanna?“, fragte ich. Erst jetzt sah sie mich. Mit hellblauen Augen musterte sie mich abschätzend. „Bist du eine Verwandte von ihr?“, fragte sie spitz, „sonst darf ich dir nämlich keine Auskunft geben.“ War mit Hanna was passiert? Ich nickte schnell: „Ja klar, ich bin ihre Nichte.“ Wie dumm dieses Mädchen doch war. Da konnte ja jeder herkommen und behaupten, eine Verwandte von Hanna zu sein. Aber irgendwie war ich das ja fast.
Na ja, eher eine Freundin. Dafür aber eine sehr enge. „So weit ich informiert bin...“ Doch ehe sie den Satz beenden konnte, trat ein Mann im schwarzen Anzug zu uns. Seit der Beerdigung Christins hasste ich schwarz. Alle Leute dort hatten schwarze Sachen angehabt. Schwarze Kostüme, schwarze Anzüge, schwarze Hüte. Auch ich hatte schwarze Sachen tragen müssen. Dabei hätte Christin das bestimmt nicht gewollt. Der Mann war bestimmt
nur einen Kopf größer als ich. Er war sehr dick und er roch nach Schweiß und Tabak. Am liebsten wäre ich zwei Schritte zurückgetreten. „Ich übernehme das Mädchen, Frau Tebartz. Sie sollten sich weiter um die anderen Gäste kümmern.“ Dann legte er einen Arm um mich und führte mich in ein Büro, unweit der Ausstellungsräume.
Der Raum war weiß gestrichen und ein paar Bilder von Friedrich Hundertwasser hangen dort. Außerdem gab es einen großen Schreibtisch, mehrere Aktenschränke und ein kleine Sitzecke mit drei schwarzen Ledersesseln und einem Glastisch. Er drückte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, er setzte sich dahinter. Dann steckte er sich genüsslich eine Zigarre an, bevor er fragte „Du bist Lena Granger?“ Ich nickte. „Was ist mit Hanna?“, fragte ich mit krächzender Stimme. Langsam ahnte ich nichts Gutes mehr. Der dicke Typ hustete und schnäuzte sich in ein weißes Seidentuch. Erst dann: „Hanna hat dich beschrieben. Sie wollte,
dass du es von mir und nicht aus der Zeitung erfährst.“ Ja mensch, dann sollte er doch endlich mal sagen was los war. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihm das in sein aufgequollenes Gesicht geschrien, doch ich beherrschte mich. Er räusperte sich, bevor er mit der Sprache rausrückte: „Hanna ist...“, er seufzte und wenn er nicht sofort weiter gesprochen hätte, wäre ich wirklich noch aufgesprungen und hätte ihn angeschnauzt. „... sie ist- ist.. tot.“ Auf einmal war ich wie versteinert.
Nein, der Dicke log. Hanna hatte doch nur eine Erkältung gehabt. Danach war sie doch gesund gewesen. Am Sonntag hatte sie mich noch getröstet und war quitschfiedel gewesen. Sie konnte doch nicht....! „Es tut mir Leid, aber... die Ärzte konnten nichts mehr machen.“ Seine Stimme drang wie durch Watte in meinen Kopf. Sie hallte in ihm wieder und er begann zu schmerzen. Wie von Sinnen sprang ich auf und raste aus dem Büro.
Vorbei an den weniges Besuchern, zum Sonnenblumenraum.
Doch er war leer. Nur noch die gelben Wände waren übrig. Selbst die Lampen waren abgenommen. Dunkel und kalt war er nun. Kein Vergleich zu vorher. Das konnte doch nicht sein. Man konnte mir doch nicht meine Mutter, meine Freundin und meinen Raum auf einmal nehmen. „NNEEIINN!“, schrie ich und rannte durch die Räume. Ich musste mich im Zimmer geirrt haben.
Der Raum war bestimmt noch irgendwo. Ich schubste die Besucher zur Seite und rannte und rannte. Ich fand ihn nicht. Er war weg! Als ob er nie da gewesen wäre. Ich schluchzte und rannte zum Ausgang. Dort standen die Empfangsdame und der dicke Anzugmann. Sie wollten mich aufhalten,
doch ich stürzte an ihnen vorbei ins Freie. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Regenwolke jagte Regenwolke. Dicke Regentropfen fielen auf mich herunter und vermischten sich mit meinen Tränen, von denen ich auf einmal wieder genug hatte. Nach Christins Tod war ich wie ausgetrocknet gewesen.
Ich rannte durch die Stadt. Kaum ein Mensch war hier. Ich rannte und rannte und hoffte, somit der vergangenen Zeit wegzulaufen.
Doch es funktionierte nicht.