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Der Sprung
Der Sprung
Schweißperlen rannen ihr über das Gesicht. Sie spürte das Adrenalin in ihrem Magen kochen, gleich Säure, die sich Stück für Stück tiefer in ihr Fleisch fraß. Ein primitiver Urinstinkt sagte dem Mädchen: Lauf weg! Doch sie schien die Kontrolle über ihre Muskeln bereits verloren zu haben, nachdem sie die höchste Stelle erreicht hatte.
Warum bin ich nur so ein dummes Gör?, dachte das Kind verzweifelt. Hätte ich nicht vernünftiger sein können? Warum auch musste ich meine Ziele immer so hoch stecken?
Der Panik nahe, umklammerte die Kleine das Einzige, das ihre winzigen Hände zu fassen vermochten: Metall. Kaltes, glänzendes Metall, das ihr mit seiner Festigkeit sicheren Halt versprach wie ein guter Freund in einer schrecklichen Not. Doch sie wusste, dass sie nicht ewig hier oben stehen konnte, dass sie diesen einen bedeutenden Schritt machen musste. Und sie fürchtete sich davor, dass es auch ihr letzter sein könnte.
Hatte sie sich nicht den gesamten Weg alleine hinauf gekämpft? Hatte sich irgendjemand bereiterklärt, sie zu unterstützen? Ihr tröstende Worte zu schenken, wie: du schaffst das, Mädchen?
Nein. Sie war allein gewesen. Von Anfang an.
Und nun sollte sie in den Abgrund springen? Nachdem sie hochgeklettert war?
Sie spürte Tränen der Angst und Unentschlossenheit ihre Wangen hinablaufen.
„So spring doch, Kind!“, riefen plötzlich die Leute um ihr herum, und es kam ihr vor, als wären die Schreie in ihrem Kopf.
Spring!
Trau dich!
Feigling!
Konnten Menschen wirklich so viel Freude am Leid anderer haben?
Die Sekunden verstrichen. Sie hatte inzwischen ganz fest ihre Augen geschlossen, dass sie ihre Umgebung nicht mehr sehen musste. Sie wollte nicht springen! Ganz sicher nicht! Sie war doch noch viel zu jung zum sterben, viel zu jung, um sich in den Freitod zu stürzen! Aber die Leute drängten sie. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sie tat einen weiteren Schritt.
Und fiel.
All ihre Ängste waren wie weggeblasen, und kein zweifelnder Gedanke drängte sich mehr in ihr Bewusstsein. Ah, es war so herrlich, nicht mehr denken zu müssen! Stattdessen sah sie das eigenes Leben noch einmal an ihr vorbeiziehen. Bilder aus der nahen und fernen Kindheit. Bilder ihrer Eltern. Ihrer Freunde. All jener Menschen, die ihr etwas bedeutet hatten.
Bilder, die nicht mehr von Wichtigkeit waren.
Dann wurde sie auch schon eins ... mit der kühlen, nassen Dunkelheit.