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Der Sprung

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04.10.2008
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Der Sprung

Die Frau war jetzt schon zehn Minuten oben und der Guide redete ihr gut zu. Rudi war oft genug selbst oben gestanden um zu wissen was da diskutiert wurde, wie der Guide beschwichtigte und versuchen würde, die Frau zu überzeugen. Doch wenn sie nicht springen wollte – wollte sie eben nicht. Die dämliche Kuh einfach runter schupsen: Leider nicht legal. Das war das Erste, was die Guides lernen mussten. Die Kunden hatten zwar dafür gezahlt, doch man darf sie nicht zum Sprung zwingen. Ein guter Guide erkennt am Händedruck ob jemand zögern - und am Ausdruck in den Augen, ob jemand überhaupt springen würde. Die Frau machte gerade ihren Junggesellinnen-Abschied. Ihre Freundinnen standen unten und gestikulierten wild, sie möge doch springen, es sei doch nicht so hoch!

Etwas über 50 Meter sind es bei ihr. Rudi hatte lange gebraucht um einen Kranführer zu finden, der sich darauf einließ. Das war Anfang der 80er Jahre. Mit einem fünfzig Meter Kran über einem Tümpel hatten sie begonnen. Die ersten Sprünge hatte er alle selbst gemacht - und erst beim vierten Versuch hatten sie die Bungee-Seile so lang gelassen, dass er das Wasser berührte: ein Touchdown.

Rudi saß auf der Tribüne und aß das Brötchen mit Ei und Remoulade, das er vom Bahnhof mitgebracht hatte. Sein strenger Diätplan, der etwas ganz anderes vorsah und den er seiner Frau zu verdanken hatte, war ihm heute egal - auch wenn etwas Soße fast seinen Wanst erwischt hätte. Das Wetter war mies, bewölkt und kalt: typisch für München. Kaum Kunden an so einem Tag. Und wenn sie kommen, dann nur, wenn sie müssen – wie ein Junggesellenabschied eben. Wie oft hatte er selbst diese überaus beschissenen Tage durchgestanden? Er hätte es nicht zählen wollen. Später, als es dann lief, hatte immer die Sonne geschienen– zumindest kam es ihm jetzt so vor. Er war auf Rollschuhen und mit nacktem Oberkörper angerauscht gekommen, hatte seinen Walkman abgeschnallt und es bildete sich eine Menschen-Traube um ihn. Er war eine Attraktion.

Der letzte Rest vom Brötchen fiel fast auseinander also riss er den Mund weit auf, legte den Kopf schief und schob das Brötchen samt tropfender Soße ganz rein. Dann stand er auf und ging, noch immer kauend, zum Anmeldezelt rüber.

„Hey hallo“, ging ihn der Guide hinter der Kasse an. "Ich habe mich schon gefragt, ob Sie sich noch trauen." Der Typ hatte eine unnütze Art an sich mit seiner reisigen Rastafari-Wollmütze und dem zerzausten Vollbart - allein für das schiefe Grinsen mochte Rudi ihm schon eine drüberziehen. Rudi begriff erstmal nicht.
„Ach so“, meinte er dann doch noch und winkte mit der Hand ab. „Nein, ich bin nicht hier zum springen“, begann er zu erklären doch wurde er gleich unterbrochen:
„Ja klar Mann! Du bist der Boss! Du bist Rudi!“ Er kam hinter der Theke vor und es fehlte nicht viel und er hätte Rudi umarmt.
„Ich bin Günther“, sagte er und streckte Rudi die Hand entgegen um sie kräftig zu schütteln. „Das ist ja geil, dass du hier mal persönlich vorbeischaust. Wahnsinn!“
„Ja, ich bin auf Durchreise und schaue bei solchen Gelegenheiten gerne mal vorbei.“ Er fragte sich wie so ein Kerl nur Günther heißen konnte? Das wäre, als ob der große Freiheitskämpfer Che Guevara nicht Ernesto mit Vornamen, sondern Helmut oder Friedhelm – oder eben Günther Che Guevara geheißen hätte.

„Und? Hast mal wieder Bock, oder?“ Er deutete auf den Kran rüber und grinste so breit, dass seine Zähne gelblich glänzten. Aber wieso begriff der Kerl es nicht?
„Nein, nein, ich bin nicht hier zum Springen - wirklich. Ich überprüfe nur von Zeit zu Zeit persönlich die Anlagen.“ Rudi redetet ebenso sachlich wie vorher aber auch bemüht, nicht zu streng zu wirken.
Der Typ wirkte jedoch ohnehin nicht besonders beeindruckt, setzte sich wieder hinter die Kasse und sagte nur: „Na dann, viel Spaß!“

Die Frau taumelte immer noch oben umher. Die Gesellschaft unten rieb sich vom Hochschauen den Nacken und verlor allmählich das Interesse. Doch da breitete die Braut die Arme aus, den Kopf gen Himmel gerichtet und fiel wie ein Stein. Ihr Schrei war sanft und aus dem Schrecken geboren – nicht dieses angeberische „Juhuuu-Uhhhh“, das Rudi inzwischen so hasste.

Rudi sah sich ein wenig im Zelt um. Günther ging zur immer noch jubelnden Frau um sie loszuschnallen, sobald der Kran sie wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht haben würde. Dieses Zelt war für die Dauer eines Sommers eingerichtet, ein Piss-Sommer, der einfach nicht in die Gänge kam. Schlechtes Wetter bedeutet schlechte Einnahmen. Vielleicht sollten sie die Idee mit dem Börsengang des Unternehmens doch noch einmal aufgreifen? Oder dem Zukauf dieses russischen Reiseanbieters – jetzt wo gerade mal genügend Geld da war?
Rudi war müde. Wenn das Seil bis zum Äußersten gespannt ist und dann wieder zurückschnellt – das ist der Rebound. Rudi hatte die Rebounds satt. Er wollte nicht mehr kämpfen. Er nahm eine Kaffeetasse in die Hand und betrachtete das Logo. Er hatte es selbst in Auftrag gegeben. Ein Neues müsste eigentlich her.

Günther kam mit der Braut zurück, damit sie ihre Urkunde erhielt. Der andere Guide von der Gondel machte sich am Kran zu schaffen. Günther strahlte die Frau an: „Sie haben heute die 50 Meter gemacht. Das heißt, dass sie beim nächsten Mal die 75 Meter springen können!“ Der Frau war das in dem Moment ziemlich schnurz – sie schwebte noch immer in einer freudigen Trance. Nach der Abfertigung setzte sich Günther wieder auf den Stuhl hinter die Kasse und glotzte vor sich hin. Die Braut-Gruppe nahm die Braut zwischen sich und trottete davon.

„Waren Sie nicht auch letztes Jahr schon hier?“, fragte Günther Rudi plötzlich, als sei ihm etwas eingefallen.
„Das kann schon sein.“ Rudi starrte in den Laptop mit dem Berechnungsprogramm für die Seillänge.
„Ja klar. Ich hab sogar ein Foto davon.“ Er kramte in einer der Schubladen herum, bis er endlich ein Polaroid-Bild auf den Tisch knallte. „Da is es“, triumphierte er, stolz in dem Chaos überhaupt noch etwas zu finden. Rudi kam herüber und sah sich das Bild an. Es zeigte ihn in jungen Jahren Arm in Arm mit einer längst vergessenen Crew; Studenten, die ihm ans Herz gewachsen waren und die nun richtige Jobs hatten. Da stand er mit nacktem Oberkörper, rot wie ein Hummer von der Sonne, grinsend.
Und da war auch sie: Juli. Das mit den Geschäftsreisen nach München war nie eine Ausrede gewesen, schließlich gab es wirklich genug zu erledigen hier – so wie jetzt auch.

„Das war ganz bestimmt nicht letztes Jahr.“, sagte Rudi kopfschüttelnd.
Günther sah sich Rudi nochmal an: „Oh ja stimmt.“ Rudi schluckte aber Günther fuhr unbeirrt fort: "Und Juli schaut auf diesem Bild auch noch etwas jünger aus – aber sie hat sich doch gut gehalten oder? Sie arbeitet ab und zu auch noch hier, wussten sie das?“, er tippte mit dem Finger auf das Foto.
„Tatsächlich“ –
„Ja, morgen ist sie zum Beispiel wieder hier – ich richte ihr einen schönen Gruß von Ihnen aus, wenn sie möchten. Sie müssen wissen, ich habe Juli hier vor drei Jahren kennen gelernt.“ Günther grinste als würde er damit irgendwas andeuten wollen. Doch es gab nichts. Rudi hatte nie etwas mit ihr gehabt. Er war damals schon viel zu alt für sie – wie alt mochte dagegen Juli damals gewesen sein? Einundzwanzig vielleicht? Was hätte sie mit ihm nur anfangen sollen? Und jetzt war er schwabbelige 55. Ein Glück eigentlich, dass er sie hier nicht antraf. Doch vielleicht war das Grinsen auch einfach nur Günthers Normalzustand und er wollte gar nichts andeuten.

„Hm ja, richten sie ihr doch einen schönen Gruß aus. Ich habe damals auch immer gut mit ihr zusammengearbeitet.“
„Ja, ich weiß, ich weiß. Sie hat mir oft davon erzählt. Mensch, wenn ich nachher nach Hause komme, wird sie sich riesig freuen, wenn ich ihr von ihnen erzähle! Ich werde ihr einen dicken Schmatz geben und ihr davon erzählen. Und danach mach ich noch was ganz anderes mit ihr!“ Er lachte laut auf und fügte auch noch eine entsprechende Handbewegung hinzu.

Rudi sah angestrengt auf den Laptop und imitierte ein beifälliges Grinsen: Hähä. Er hatte einen Adrenalinschub zu verkraften. Ein Kribbeln ähnlich, wie wenn man von einem Polizisten angerufen wird, der sagt: "Es tut mir leid, ihre Frau hatte einen schweren Unfall". Um etwas zu tun tippte er ein wenig auf dem Laptop rum und gab seine Daten ein. Das Programm berechnete die Seilstärke für einen Sprung mit Touchdown. Eine komplizierte mathematische Formel, die über etwas ganz einfaches entschied: Leben oder Tod.
Aus den Augenwinkeln sah er wie Günther ihn abermals angrinste. „Was ist?“, entfuhr es Rudi, wütender als er das eigentlich gewollt hatte. Anderen Mitarbeitern gegenüber war er schließlich auch nicht so unfreundlich. Er mußte sich besser beherrschen.

„Warum sind sie wirklich hier, Rudi?“ Günther schaukelte auf seinem Stuhl hin und her und hörte nicht auf zu grinsen. Das Schwein, er bezahlte ihn, was nahm er sich eigentlich heraus? Doch das Problem war: Er wusste selbst nicht, was er hier tat. Er hätte jetzt längst schon zu Hause sein können. Er hätte hier überhaupt nicht herfahren müssen. Diese Überprüfungen hatten noch nie irgendwas ergeben. Vielleicht hatte er wirklich gehofft hier etwas anderes zu finden – oder jemanden. Und beinahe wäre es auch so gewesen. Wäre er nur einen Tag später gekommen, hätte er Juli hier angetroffen. Ein weiterer Schrecken durchfuhr ihn: Es müsste ihm zwar egal sein, aber was würde der Mistkerl Juli später erzählen? Der Boss war da und hat rumgeschnüffelt? Er sah fürchterlich alt und verbraucht aus – und außerdem ist er ein ausgemachter Feigling?

„Sie haben Recht“, sagte Rudi, einer irren Eingebung folgend. Vielleicht war es die Müdigkeit oder das Gefühl, allen Sinn vorhin mit dem Brötchen runtergeschluckt zu haben: „Ich bin eigentlich nicht hier um alles zu kontrollieren, das braucht es ja gar nicht. Ich wollte wohl einfach mal wieder selbst springen!“ Damit hatte Günther sicher nicht gerechnet! Rudi schlug zurück, Rudi war wieder da. Mutiger und wilder als je zuvor. Ein Freudentaumel übermannte ihn fast, doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen – es sollte ganz normal wirken.

Günther war sofort aufgesprungen und zum Laptop gegangen. „Die Daten haben sie ja schon eingetragen, wie ich sehe. Ich bereite alles vor.“ Rudis Freude kühlte ein wenig ab bei der plötzlichen Geschäftigkeit, die Günther an den Tag legte. Sein Blick war konzentriert und ernst, seine Bewegungen gezielt. Er legte Rudi ein Formular zum unterschreiben hin, bereitete die Haltegurte vor und zog die Seile heran. Rudi stand nahezu reglos daneben und fühlte sich wie bei seinem allerersten Sprung. Günther rief zum anderen Guide rüber: „Der hier springt alleine, er ist von uns. Kannst Pause machen!“

Schwer beladene Wolken zogen über den Kran hinweg. Die menschenleere Betontribüne gegenüber der Anlage sah in dem fahlen Licht kalt und nass aus. Einige Pfützen waren vom letzten Regen noch übrig. Sie spiegelten den grauen Himmel. Am Kran angekommen schnallte Günther Rudi an.

„So, es kann losgehen“, sagte er etwas außer Atem. Rudi sah Günther an, wollte in seinem Gesicht nach etwas suchen, prüfen, ob alles stimmte, alles in Ordnung war. Doch was sollte schon sein?

Rudi stellte sich auf die Gondel des Krans. Sie würde ihn gleich auf 75 Meter Höhe bringen – mehr war auf dieser Anlage nicht möglich. Günther bediente den Kran per Fernbedienung. Nachdem die Gondel schon einige Meter in der Luft hing, schien sich die Anspannung bei Günther zu lösen und er begann wieder zu grinsen. „Das wird ein astreiner Touchdown!“, rief er zu Rudi hoch, für den bereits der Wald hinter der Betontribüne in Sicht kam. Günther war nur noch so groß wie ein Lego-Männchen – doch das Grinsen meinte Rudi immer noch zu sehen. Nach einem weiteren Stück drehte ein heftiger Wind die Gondel. Rudi sah den Olympiaturm dessen Spitze in einem fernen Regenschauer versank.

Rudi spürte ein inneres Beben aufkommen. Vielleicht lag es am lauten Surren des Krans. Oder es war das Rütteln der Gondel, das Rudis Eingeweide wie rohe Eier auf einem Silbertablett tanzen ließ. Doch er wusste, dass es das nicht war: Es war das Vorbeben zu einer Frage, die kurz vor dem Ausbruch stand. Am Kran hatte man Höhenmarken angebracht. Er konnte ablesen, dass er die 50 Meter überschritten hatte. Da brach die Frage unvermeidlich in ihm hervor: Wie viel zum Teufel wog er eigentlich?

Mit einem plötzlichen Ruck hielt der Kran an: 75 Meter. Der Wind drehte die Gondel wieder in die richtige Position. Seine Hände krallten sich am Gitter der Gondel fest. Rudi blickte über den Rand der Gondel nach unten. Zu seiner Übelkeit gesellte sich nun akuter Schwindel. „Was mache ich denn da“, hörte er sich mit zittriger Stimme sagen.
Er hatte so viele Sprünge gemacht, von so vielen Türmen, Brücken und Flugzeugen. Früher hätte er niemals Angst vor einem Sprung gehabt, nur lebenserhaltenden Respekt – die Sorte, die einem die Berufserfahrung lehrt. Und sollte ihm nun sein Wanst zum Verhängnis werden? Er hatte sich seit Jahrzehnten nicht mehr gewogen, die Daten, die er unten eingegeben hatte, waren wahrscheinlich die, als er noch mit Juli hier gesprungen war.

Er krallte sich noch fester an das Gitter der Gondel, seine Augen aufgerissen, der Rücken gekrümmt. Sein ganzer Körper war gespannt wie die Gurte des Klettergeschirrs, gegen die sein unseliger Wanst sich drückte. Er musste ein komisches Bild abgeben dort oben! Es fehlte nur noch, dass eine Taube oder eine Möwe auf seinem Kopf landete. Er hätte nun überlegen müssen, was zu tun sei.

Stattdessen hatte er Juli wieder vor Augen. In dieser Höhe würden ihre Haare unbändig im Wind umherwirbeln. Wenn sie zu zweit sprangen und all die anderen unten standen und zusahen, galt ihr Lächeln nur ihm. Hier oben, wo sie niemand hörte, niemand wusste, wie sie sich ansahen – um dann gemeinsam, als Paar in die Tiefe zu stürzen.
Günther, kam es ihm in den Sinn, und sein Magen krümmte sich vor Zorn. Wie konnte dieser Mistkerl nur mit Juli zusammen sein – doch er unterbrach sich selbst, sein Verstand meldete sich und erwähnte nochmals die Situation in der er sich befand und die Probleme, mit denen er sich eigentlich befassen müsste.

Und dennoch: Juli. In der Ecke der Gondel war sie gestanden. Über was hatten sie sich unterhalten? Es war ihr erster Kunst-Sprung mit Partner. Sie wollte den Sprung sehr entschieden nur mit ihm machen. Die anderen hatten verdutzt gekuckt. Schweigend und etwas betreten stiegen sie beide in die Gondel. Doch je höher sie kamen, je weiter weg von den anderen sie waren, desto leichter wurde es ihnen ums Herz. Sie sagte: „Danke, dass du das für mich machst!“ Und dann hatte sie ihn mit strahlenden Augen angelächelt – ihn den alten verbrauchten Chef. Dieses Lächeln galt ihm, Rudi, als Menschen. Sie war ihm dankbar – obwohl sie wissen musste, dass es für ihn überhaupt keinen Umstand bedeutete. Vielleicht liebte er nur die Art, wie sie ihn in diesem Moment sah, als jemand besonderen in ihrem Leben, der ihr half, ihr zur Seite stand in einem kurzen Augenblick des Schreckens, auch wenn es ja nur ein erster Sprung war. Er erinnerte sich an ihr Haar im Wind, ihre blauen Augen, ihren Duft - und ihren festen Willen, diesen Sprung zu machen. Er musste lächeln. Gerne hätte er ihr jetzt gesagt, wie sehr er sie liebte.

Er hörte seinen Atem; er war lauter als der Wind, der um die Gondel pfiff. Rudi begriff, dass, was immer jetzt passierte, dieser Moment mit Juli ihnen beiden gehörte. Der Sprung, der vor ihm lag, war jedoch ein einsamer.

Der Wind rüttelte weiter an der Gondel. Günther musste sich unten schon fragen, ob Rudi auf dem Weg nach oben wohl falsch abgebogen sei. Rudi sah auf seine Hände, wie sie sich an das Gitter klammerten. Diese Hände, die gekämpft hatten, die sich nahmen, was ihnen zustand. Die noch so jung wirkten, muskulös. Langsam öffneten sich die Hände, ließen ab von dem Gitter. Auch Juli verschwand aus seinen Gedanken.

Rudi richtete sich aus der gekrümmten Haltung auf, stellte sich an den Rand der Gondel und breitete die Arme seitlich aus, wie es die Frau vor ihm getan hatte. Dann legte er den Kopf in den Nacken und kippte einfach vornüber. An seinen Fußsohlen spürte er die Kante der Gondel abrollen – und dann flog er. Der Horizont verschwand und er sah nur noch das schwarze Wasser auf ihn zufliegen. Er hörte sich einen befreienden gutturalen Laut schreien, als wäre es nicht er selbst der da quäkte, sondern ein betrunkener Bär, der neben ihm her flog. Dann sah er nur noch das Wasser kommen. Es war dunkler als alles, was er zuvor an Dunkelheit erlebt hatte. Es kam zunächst schnell näher, doch plötzlich immer langsamer. Rudi tauchte nicht nur bis zur Hüfte, sondern fast bis zu den Knien ein – das war das zusätzliche Gewicht. Dann schnellte er wieder hoch – der Rebound.

 

Hallo MLasar,

Ich habe Deine Geschichte nicht ohne Spannung gelesen, auch wenn ich finde, dass sie weiter verdichtet werden könnte und somit an Spannung gewinnen würde, immer mal wieder Einblendungen, die vom Geschehen abschweifen, ablenken.

Rudi und Juli kommen für mich sehr authentisch rüber, Günther dagegen bleibt eine wabbelige Masse, der es vor allem zum Unsympat schafft, weil Rudi es ihm ständig unterstellt.

Immer wieder tauchen sprachlich sehr schöne Sätze auf, aber auch immer wieder die Erwähnung der Namen: Rudi macht jenes und Günther sagt dieses, dass ist nicht immer nötig. Auch Wortwiederholungen und Konjuktivformulierungen fallen ins Auge.

Was ist ein "mathematischer Mechanismus"? Gibt es so etwas? Ich bin mathematisch kein Profi, nicht mal ein Kenner der Szene, aber dass klingt irgendwie nicht gesund :).

Und noch einmal gestolpert bin ich, darüber, dass es einem Profi erst kurz vor dem Absprung einfällt, dass er ein falsches Gewicht eingegeben hat.
Das ist irgendwie doch reichlich unprofessionell. Okay, er hat da unten im Büro auch nicht wirklich an den Sprung gedacht, irgendwie dann aber doch, er will ja die Zeitreise in die Juli- Vergangenheit. Dafür ist er gekommen.

In sich ist Deine Geschichte aber stimmig, finde ich zu mindestens. Nur der letzte Satz will sich mir so gar nicht erschließen. Ich denke er hasst diesen Ausruf? Das der Rbound ihn erlöst, er sich befreit fühlt, dass ist schon klar, aber warum drückt er es in ihn verhassten Worten aus :confused:

So viel von mir,
weiterhin viel Freude an Deiner Geschichte.

Beste Grüße Fliege

 

Hallo MLasar,

ich habe Deine Geschichte mit viel Interesse gelesen, sie hat eine gewisse Spannung, die Du auch gut bis zum Ende halten konntest.

Rudi versucht mit allen Mitteln, die Zeit mit Juli zurückzuholen, gedanklich, mental und durch den Sprung beinahe körperlich.

Ich bin kein Typ für Bungee-Sprünge, aber Deine Geschichte hat mir das Gefühl eines solchen Sprungs richtig nahe gebracht. Außerdem hast Du ein paar gute Sätze in Deiner Geschichte.

Gerne gelesen.
LG
Giraffe.

 

Hallo Fliege, hallo Giraffe,

herzlichen Dank für die Kommentare! Freut mich, dass es Euch insgesamt gut gefallen hat. An der Geschichte werde ich noch einiges feilen und die angesprochenen Punkte in jedem Fall überarbeiten. Insbesondere auch Günther und Rudis "Vergesslichkeit" sind in der Tat Punkte...

Vielen lieben Dank und viele Grüße!

MLasar

 

Hallo MLasar,

Das ist eine wirklich gut erzählte Geschichte. Man meint, mit Rudi zu springen. Auch die lakonische Sprache gefällt mir gut.

Nur an ein paar Kleinigkeiten habe ich mich ein wenig gestoßen:

runter schuppsen

Ist das die neue Rechtschreibung? Ich habe „schubsen“ in Erinnerung.

Sie hatte ein Diadem auf dem Kopf

Das hätte ihr der Guide doch sicher schon vor dem Hochfahren abgenommen.

Rudi verstand nicht weshalb er, ohne mit dem Typen überhaupt je gesprochen zu haben, schon so einen Groll gegen ihn hegte.

Das versteht man als Leser auch nicht so recht.

Ich hab mich schon gefragt, ob sie sich noch trauen
...ob Sie sich noch trauen

Das heißt, dass sie beim nächsten Mal die 75 Meter springen können!
Etwas später:
Sie würde ihn gleich auf 70 Meter Höhe bringen – mehr war auf dieser Anlage nicht möglich.

Ansonsten, wie gesagt, finde ich die Geschichte gut erzählt und flüssig zu lesen, und dank der Wampe, über deren zusätzlichen Beitrag zu seinem Körpergewicht der Protagonist sich im Unklaren ist, kommt auch Spannung auf.

Viele Grüße
Engelhard

 

Hallo Engelhard,

vielen Dank fürs Lesen und die Anmerkungen! Das werde ich gerne übernehmen.
Übrigens: ich glaube, die persönliche Ansprache "Sie" schreibt man in einem Brief oder E-Mail groß, bleibt aber im Kontext einer Kurzgeschichte (auch im Zitat) doch klein. (Habe ich hier auf Kurgeschichten.de erfahren :))

Vielen Dank!

Martin

 

Hallo nochmal Engelhard,

zum Thema "Sie" groß oder klein habe ich (von freundlicher Seite) soeben nochmal eine andere Meinung gehört: laut Duden schreibt man die Höflichkeitsanrede "Sie" (und das possesivpronomen "Ihr", "Ihre", etc. groß. "du" und die abgeleiteten Formen "dein" usw. können im BRIEF auch groß geschrieben werden - sonst eben klein.

D.h.: "Sie" groß. Zu "Sie" in Zitaten in KGs oder Romanen sagt mein Duden aber leider nix. Hat dazu vielleicht jemand noch eine Meinung? Würde mich wirklich mal interessieren....

Viele Grüße und nochmals Danke,

MLasar

 

Hallo MLasar,
schöne Geschichte. Gut, dass er nicht stirbt, denn damit hatte ich letztlich gerechnet.
Du magst Kommas nicht so gern? Mir fehlen einige!
"Das Wetter war mies, bewölkt und kalt: typisch für München."
Das mag Rudis schlechte Laune zeigen, aber es ist einfach nicht korrekt, bei dem milden, sonnigen Klima hier (für Deutschland).
"Er fragte sich wie so ein Kerl nur Günther heißen konnte? Das wäre, als ob der große Freiheitskämpfer Che Guevara nicht Ernesto mit Vornamen, sondern Helmut oder Friedhelm – oder eben Günther Che Guevara geheißen hätte."
Sehr kreative Charakterisierung!
"Ihr Schrei war sanft und aus dem Schrecken geboren –" schön, aber die: "immer noch quiekenden Frau" passt nicht dazu.
"Günther sah sich Rudi nochmal an: „Oh ja stimmt.“ Rudi schluckte. "Und Juli schaut auf diesem Bild auch noch etwas jünger aus – aber sie hat sich doch gut gehalten oder? Sie arbeitet ab und zu auch noch hier, wussten sie das?“,"
Als Rudi schluckte, musste ich aufmerksam mehrmals lesen, um zu wissen, dass nicht er, sondern Günther weiter spricht. Warum nimmt Günther an, das Rudi weiß, wie gut sich Juli gehalten hat? Hat er ein Vergleichsbild? Weiß er, wann Rudi Juli zuletzt gesehen hat?
"das Rudis Eingeweide wie rohe Eier auf einem Silbertablett tanzen ließ." Der Vergleich sagt mir persönlich nicht zu.
Ansonsten - spannend bis zum starken Ende, der Sprung - sehr gut nachvollziehbar beschrieben.
Dennoch gehört Bungeespringen zu den Dingen, welche ich niemals tun werde, es sei denn, ich krieg ganz viel Geld dafür ^^
LG Damaris.

 

Liebe Damaris,

besten Dank für die Anmerkungen - es ist ja doch ein Geben und ...Bekommen!
Vielen Dank!

Zum Thema Bungee: Was tut man nicht alles für Geld... :)

LG MLasar

 

Hallo MLasar,
schöne Szenerie, man fühlt sich augenblicklich am Ort, und ich finde es gut, wie Du dem Leser die etwas bizarre Welt des Bungeespringens nicht nur nahebringst, sondern sie auch mit einer sehr menschlichen Geschichte verknüpfst. Hier und da empfinde ich Deine Sprache als etwas holprig, ein paar Beispiele:
• Der Typ hatte eine unnütze Art an sich mit seiner reisigen Rastafari-Wollmütze und dem zerzausten Vollbart - allein für das schiefe Grinsen mochte Rudi ihm schon eine drüberziehen. Eine unnütze Art an sich? Kann ich mir nichts drunter vorstellen...
• „Nein, nein, ich bin nicht hier zum Springen - wirklich. Ich überprüfe nur von Zeit zu Zeit persönlich die Anlagen.“ Rudi redetet ebenso sachlich wie vorher aber auch bemüht, nicht zu streng zu wirken. Die wörtliche Rede wirkt wenig authentisch und die Erklärung danach auch etwas gekünstelt.
• Günther kam mit der Braut zurück, damit sie ihre Urkunde erhielt. „Braut“ wirkt hier etwas gewollt.
• Ein kribbeln ähnlich, wie wenn man von einem Polizisten angerufen wird, der sagt: "Es tut mir leid, ihre Frau hatte einen schweren Unfall". Kribbeln bitte großschreiben. Die Idee mit dem Polizisten...na ja, hat Rudi das erlebt oder woher weiß er, wie sich das anfühlt?

Ich würde vielleicht auch nochmal mit der Frage über den Text gehen: Benötigt der Leser die Informationen? Z.B. braucht Rudi wirklich einen Diätplan von seiner Frau? Ist das nicht nebensächlich? Vielleicht würde ich mir auch einen etwas originelleren Titel einfallen lassen. Dankbar bin auch ich, dass Rudi nicht stirbt, wie man fast vermutet...

Gruß
TeBeEm

 

Hallo TeBeEm,

herzlichen Dank für das Feedback! Das sind ein paar sehr gute Punkte, die ich einarbeiten werde. Allerdings: Mal sehen, ob ich das auch wirklich schaffe oder ob es eher ein "Verschlimmbessern" wird...Für das Feedback auf jeden Fall vielen Dank!

Grüße

MLasar

 

Hallo MLasar,
hab gerade Deine Antworten und die Kritik von TeBeEm gelesen.
Der einzige Punkt, in welchem ich meinen "Nachfolger" Recht gebe ist, das man "Kribbeln" groß schreibt.
Natürlich ist auch Schreiben immer Geschmackssache, aber für mich würde es Deine Geschichte verderben, wenn Du den Rest der Kritik berücksichtigst. Ich kann sie absolut nicht nachvollziehen.
LG Damaris.

 

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