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Der Stau

Seniors
Beitritt
18.04.2002
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Der Stau

Mein Onkel ist schon sehr alt. Die Fahrt zu ihm ist mühselig, erst Autobahn, dann eine schlechte Landstraße. Mir fällt ein, wie sehr ich mich freute, als er mir vor vielen Jahren einen Indianer-Bogen schnitzte. Nun gut - heute werde ich zu ihm fahren.
Die Autobahnfahrt ist überraschend angenehm, der Hauptverkehr fließt in der Gegenrichtung. Während ich in eine lang gezogene Kurve fahre, sehe ich den Anfang eines Staus auf der entgegenkommenden Fahrbahn. Auto an Auto steht dort, es scheint kein Ende zu nehmen. Inzwischen bin ich auf gleicher Höhe mit dem Stauende. Jetzt haben die Fahrer wieder freie Fahrt. Aber nur scheinbar. Sie beschleunigen, rasen, überholen - doch einige Kilometer weiter werden die Menschen alle im Stau stehen.
Wäre es meine Pflicht sie zu warnen, wenn ich es könnte? „Halt - riskiert nicht euer Leben bei einem gewagten Überholvorgang, auf alle Fälle steht fest, dass die wenigen gewonnenen Meter vergeblich sind!“ Würde man meine Mahnungen überhaupt hören? Nicht, trotz des Bewusstseins des unnötigen Tun, den kleinsten persönlichen Vorteil wahrnehmen wollen?
Ich stelle mir einen Stau vor, der unaufhörlich wächst, immer mehr Fahrzeuge aufnimmt, während die ersten Automobile (der Name, ein Hohn!) schon anfangen zu rosten, die ‚Fahrer’ sind schon gestorben, die ersten Pflanzen erobern einen Kofferraum, eine Birke krallt sich mit ihren Wurzeln in den durchnässten Rücksitz. Das offene Schiebedach (eine Sonderanfertigung - die hat nicht jeder!), ist ein Fenster zum Himmel, Vögel sitzen spöttisch neben der Öffnung und kleckern.
Mittlerweile sind alle Raser über den Stau informiert. Klar - es ist ganz logisch: Es gibt eine definierte Autobahnfläche, die Zuwachsrate der ankommenden Autos entspricht wahrscheinlich einer e-Funktion, Abwanderungsmobilität Null, dann entsteht halt Stau, dahinter ist Schluss. Alles andere ist Illusion. „Mal sehen, wie weit wir kommen, da vorne, vom Hügel aus, soll man eine tolle Aussicht haben, Würstchen gibt's sicher auch!“ Ist dieses Begehren und vieles andere Planen nicht Illusion? Eine Anmaßung? Wer weiß schon, ob der nächste Hügel erreicht wird? Ist man gewissermaßen gezwungen, im Bewusstsein des ‚totalen Staus’ zu rasen, um noch ein wenig Fahrspaß zu erleben? Auf welche Weise wird die Erkenntnis, dass es kein ‚nach dem Stau’ gibt, die Verkehrsteilnehmer verändern? Werden sie bessere Menschen?
Während manche Leute zwischen den stehenden Blechgeräten Bekanntschaften schließen, sich sogar lieben, in ihrer kleinen, scheinbar privaten Ledersitzwelt, gibt es des weiteren solche, die nicht mehr nach links oder rechts schauen. Sie haben nur noch den Drang, möglichst schnell im Stau zu vergehen. Rücksichtslos jagen sie vorwärts, überzeugt davon, über das Verhängnis hinaus zu kommen, wenn sie Stur ihrer Bahn folgen.
Irgendwann verschmelzen Blech, Birke und Menschen zu einem riesigen, unvorstellbar seltsamen, für uns unfassbaren Etwas ... –
Seit dem Besuch bei meinem Onkel sind bereits vier Tage vergangen. Heute erhielt ich die Nachricht, dass er friedlich verstorben ist.
Ich bin froh, ihm ‚Auf Wiedersehen’ gesagt zu haben.

 

Servus Woltochinon!

Es scheint fast, als hättest du erst vor Kurzem Stauerfahrungen sammeln können und sie mit viel Phantasie nutzbar für diese Geschichte gemacht?

Jener Absatz, wo sich der Himmel über dem geöffneten Dach eröffnet und die Natur sich das Blech einverleibt, die Birken sich Raum schaffen, hat mir besonders gut gefallen.

Dein amüsantes Geschichtenende wirft die ernste Frage auf, ob so ein Autostau eine derart wichtige Begegnung zwischen Menschen tatsächlich schon oft verhindert hat. Andererseits zu Fuß hätte er es auch nicht mehr geschafft.

Gut geschrieben hält sich Verkehrshorror und die Möglichkeit des Vorankommens die Waage, ebenso wie die Chance daran zu verzweifeln oder all dem mit einem Augenzwinkern zu begegnen.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo schnee.eule,

toll, so eine schnelle Antwort von Dir, der lange Vermißten.
Tatsächlich ist die Geschichte auf der Autobahn entstanden, ich hatte freie Fahrt und konnte das Geschehen gut beobachten. An der nächsten Raststätte habe ich alles aufgeschrieben. Doch das war nur der Auslöser für die Form der Geschichte, den Inhalt habe ich schon lange in mir getragen, er hat nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu manifestieren.
Es freut mich, wenn Dir die Ironie gefallen hat.


Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 
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Hallo, Wolto!

Ein Ziel erreichen wollen. Auf welche Weise? Beschleunigen, rasen, überholen - das wäre eine Möglichkeit. Eine andere ergibt sich aus dem Drang, gemütlich und bewußt genießend, beharrlich dem Weg zu folgen. Die Gewißheit, irgendwo nicht mehr weiter zu kommen, also im Stau zu stecken, könnte das Verhalten der Menschen positiv verändern. Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. So sagt man.
Auch der Lebensweg ist manchmal mühselig und steckt voller Hindernisse, die zu bewältigen sind.
Auf die eine oder andere Art.

Bevor ich mich weiter verrenne, erst mal Gedankenpause.


Liebe Grüße
Antonia


P. S.: Ab sofort bin ich berechtigt, in Gaststätten einen Senioren-Teller zu bestellen.

 

Hallo Antonia,

vielen Dank, dass Du den Faden, der hinter die Kulisse führt, aufgenommen hast.
Mit dem `Lebensweg´ hast Du Dich nicht verrannt, Einsicht als erster Schritt zu einer Verhaltensänderung ist ein treffendes Stichwort, ja, der Kreis schließt sich, die Einsicht schlägt noch einmal zu.
Du und Seniorenteller? Doch wohl eher das `Brainstorm-Menü´!

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo, Wolto!

Nachdem ich Deinen Text noch einmal gelesen hatte, fiel mir ein Satz auf, dessen Aussage ich noch nicht völlig klären konnte.

Irgendwann verschmelzen Blech, Birke und Menschen zu einem riesigen, unvorstellbar seltsamen, für uns unfaßbaren Etwas...-
Dem "Sein"? Bitte um Erleuchtung!
Ich bin froh, ihm `Auf Wiedersehen´ gesagt zu haben.
Trotz mühseligem Weg ist es gut, bestimmte Dinge zu erledigen, weil es sich hinterher als richtig erweist.


Liebe Grüße
Antonia

 

Hallo Antonia,

ja, Natur, Technik, die Menschen mit all ihrem Streben – alles verschmilzt zu einem unerfassbaren Komplex, die Abhängigkeitsbeziehungen der einzelnen Bereiche verwischen (die Unbestimmtheit gilt nicht nur in der Quantenwelt, sondern auch bei den Seins- Fragen).
Aus zwei Gründen ist der Erzähler froh, bei seinem Onkel gewesen zu sein: Einmal wegen rein zwischenmenschlicher Gefühle, zum anderen weil er auf dem Reiseweg Erkenntnisse über den Lebensweg gewonnen hat.
Nett, dass Du noch einmal vorbeigeschaut hast,

liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hi Woltochinon!
Deine Geschichte hat so etwas Märchenhaftes an sich, ich kann es nicht erklären. Die Bilder, die Du mir zeigst, gefallen mir sehr gut, eigentlich die ganze Geschichte, den Lebensweg.

Der Text sagt für mich auch aus, dass man eben nicht rasen soll, die anderen nicht berücksichtigen, sondern den Moment geniessen und froh darüber sein, wenn man etwas erledigen konnte, etwas durchstehen.

Wundervoll!

Liebe Grüsse,
Marana

 

Hallo Marana,

ich hätte nicht erwartet, dass jemand etwas märchenhaftes in meiner Geschichte sieht. Der Gedanke hat mir aber gefallen und beim nochmaligen Lesen ist mir (so hoffe ich) aufgefallen, was Du meinst. Ein (realistisches) Märchen, trotz der Erwähnung einer e- Funktion - eine schöne Sichtweise. Die Leute rasen, orientieren sich an Nebensächlichkeiten (z.B. Würstchen), versäumen dabei die Rücksicht auf ihre Mitmenschen und die Gesamtschau der Dinge. Es freut mich, wenn Dir der Text etwas sagen konnte. Vielen Dank für Deine Anmerkung.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hei Wolto, ich sehe den Stau als Metapher für den Lebensweg der Menschen, bin mir aber nicht so sicher. Seit wann schreibst du auch klar? Muss ich denn immer so viel nachdenken bei dir...hmh? Wenn ich so ein wenig Recht habe, dann hast du mal wieder eines deiner klassischen Themen zum Ausdruck gebracht. Gut.

Liebe grüsse stefan

 

Hallo Archetyp,

toll, endlich wieder einmal etwas von Dir zu hören! Hat mich echt gefreut, und Du hast ausgerechnet eine meiner Lieblingsgeschichten ausgegraben.
Wie Du schon richtig sagst: Der Weg hin zum Stau (Stillstand= Tod) ist der Lebensweg, auch der Weg einer Gesellschaft. Die einzelnen Aussagen, die über den Stau und den Weg dorthingemacht werden, sind Analogien zum allgemeinen Verhalten der Menschen im (verdrängtem?) Bewußtsein des Todes.

Wann gibt es eine Geschichte von Dir, Stefan?

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hi Woltochinon!

Du hast schon kompliziertere Philo-Storys geschrieben, aber gut erzählt ist sie, der Rahmen wertet sie noch auf. Die Bedeutung des Verhaltens der einzelnen Leute muss man etwas entschlüsseln. Besonders top fand ich dieses sinnlose, rasende Überholen. Selbst wenn sie vom Stau wissen, handeln sie nicht anders. Dieser Bezug Tod des Onkels/Tod im Allgemeinen ist gut gelungen.
Gute Frage: Wie beeinflusst die Kenntnis des ‚totalen Staus’ unser Verhalten? Heidegger gelesen?

Das mit dem Automobil (während die ersten Automobile (der Name, ein Hohn!)) kommt mir ein wenig überraschend spöttig, na gut. Schau mal, es gibt , glaub Alltag, auch noch eine Mutterliebe - das hattest du doch auch mal als Titel?

- Pol

 

Hallo Polaris,

da gibt es noch andere, außer Heidegger ...

Das Schlimme ist, dass man den Eindruck gewinnt, sehr viele Dinge sind sind so verfahren, die Menschen reagieren ohne Einsicht.
Ein wenig Spott muss wohl sein, als `Pfeifen im Walde´, oder um durch den humoristischen Anteil besser mit den Dingen zurecht zu kommen.

Danke für deinen Beitrag!

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

ich finde du benutzt ein interessantes Bild um (mindestens) zwei Fregne deutlich zu machen, die sich sicher jeder schon einmal gestellt hat:
1. Bin ich verpflichtet, andere zu warnen, wenn ich sehe, dass sie in ihr Unglück rennen, auch wenn sie das nicht hören wollen und ich mich vielleicht "lächerlich" mache?
2. Wie geht man mit der Tatsache um, dass das Leben unweigerlich im Stau = Tod endet?

Liebe Grüße

Pullover

 

Hej Woltochinon,

ich habe die Geschichte schon vor einiger Zeit gelesen, befand mich aber wohl gerade im Stau.

Ich verstehe sie als ein passendes Gleichnis, nicht so sehr für den Tod, auf den wir alle unweigerlich zurasen, eher für die Zeit, die uns bis dahin gegeben ist, unseren Umgang damit.

In Erinnerung bleiben wird mir das Bild von Blech, Birke und Mensch, dieser merkwürdigen Kombination, zu Beginn des Staus scheinbar unabhängig voneinander existierend und im Laufe der Zeit mehr oder weniger unfreiwillig miteinander verschmolzen.

Viele Grüße
Ane

 

Hallo Pullover,

danke, das du diese zwei Fragen herauskristallisiert hast!

Ich finde, es ist eine Frage der Moral, wie man sich verhält, als Beobachter (der, wenn nicht Gott, auch auf 'seinen' Stau zurast) , aber auch als Raser - der "den kleinsten persönlichen Vorteil wahrnehmen" will, oder sich auf Wichtigeres besinnt.

Mit dem "Stau" gehen die Leute verschieden um, habe da ja verschiedene Strategien angedeutet, es ist eine, wenn nicht die schwierigste Frage ...

Vielen Dank für's genaue Hinsehen.

L G,

Woltochinon

 

Hallo Ane,

„Ich verstehe sie als ein passendes Gleichnis, nicht so sehr für den Tod, auf den wir alle unweigerlich zurasen, eher für die Zeit, die uns bis dahin gegeben ist, unseren Umgang damit.“

- Ja, ist eine Wechselwirkung. Vielleicht ist es eine Gabe, das Bewusstsein vom Tod zu verdrängen, ein erster Anfang, Glück zu erhaschen …


„In Erinnerung bleiben wird mir das Bild von Blech, Birke und Mensch, dieser merkwürdigen Kombination“


- Das freut mich besonders, soll doch das Unfassbare, dieser Strudel des chaotischen, in dem die Natur über Technik und Mensch (-heit) obsiegt, dargestellt werden.


Danke für deinen Kommentar!

L G,

Woltochinon

 

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