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Der Stau
Mein Onkel ist schon sehr alt. Die Fahrt zu ihm ist mühselig, erst Autobahn, dann eine schlechte Landstraße. Mir fällt ein, wie sehr ich mich freute, als er mir vor vielen Jahren einen Indianer-Bogen schnitzte. Nun gut - heute werde ich zu ihm fahren.
Die Autobahnfahrt ist überraschend angenehm, der Hauptverkehr fließt in der Gegenrichtung. Während ich in eine lang gezogene Kurve fahre, sehe ich den Anfang eines Staus auf der entgegenkommenden Fahrbahn. Auto an Auto steht dort, es scheint kein Ende zu nehmen. Inzwischen bin ich auf gleicher Höhe mit dem Stauende. Jetzt haben die Fahrer wieder freie Fahrt. Aber nur scheinbar. Sie beschleunigen, rasen, überholen - doch einige Kilometer weiter werden die Menschen alle im Stau stehen.
Wäre es meine Pflicht sie zu warnen, wenn ich es könnte? „Halt - riskiert nicht euer Leben bei einem gewagten Überholvorgang, auf alle Fälle steht fest, dass die wenigen gewonnenen Meter vergeblich sind!“ Würde man meine Mahnungen überhaupt hören? Nicht, trotz des Bewusstseins des unnötigen Tun, den kleinsten persönlichen Vorteil wahrnehmen wollen?
Ich stelle mir einen Stau vor, der unaufhörlich wächst, immer mehr Fahrzeuge aufnimmt, während die ersten Automobile (der Name, ein Hohn!) schon anfangen zu rosten, die ‚Fahrer’ sind schon gestorben, die ersten Pflanzen erobern einen Kofferraum, eine Birke krallt sich mit ihren Wurzeln in den durchnässten Rücksitz. Das offene Schiebedach (eine Sonderanfertigung - die hat nicht jeder!), ist ein Fenster zum Himmel, Vögel sitzen spöttisch neben der Öffnung und kleckern.
Mittlerweile sind alle Raser über den Stau informiert. Klar - es ist ganz logisch: Es gibt eine definierte Autobahnfläche, die Zuwachsrate der ankommenden Autos entspricht wahrscheinlich einer e-Funktion, Abwanderungsmobilität Null, dann entsteht halt Stau, dahinter ist Schluss. Alles andere ist Illusion. „Mal sehen, wie weit wir kommen, da vorne, vom Hügel aus, soll man eine tolle Aussicht haben, Würstchen gibt's sicher auch!“ Ist dieses Begehren und vieles andere Planen nicht Illusion? Eine Anmaßung? Wer weiß schon, ob der nächste Hügel erreicht wird? Ist man gewissermaßen gezwungen, im Bewusstsein des ‚totalen Staus’ zu rasen, um noch ein wenig Fahrspaß zu erleben? Auf welche Weise wird die Erkenntnis, dass es kein ‚nach dem Stau’ gibt, die Verkehrsteilnehmer verändern? Werden sie bessere Menschen?
Während manche Leute zwischen den stehenden Blechgeräten Bekanntschaften schließen, sich sogar lieben, in ihrer kleinen, scheinbar privaten Ledersitzwelt, gibt es des weiteren solche, die nicht mehr nach links oder rechts schauen. Sie haben nur noch den Drang, möglichst schnell im Stau zu vergehen. Rücksichtslos jagen sie vorwärts, überzeugt davon, über das Verhängnis hinaus zu kommen, wenn sie Stur ihrer Bahn folgen.
Irgendwann verschmelzen Blech, Birke und Menschen zu einem riesigen, unvorstellbar seltsamen, für uns unfassbaren Etwas ... –
Seit dem Besuch bei meinem Onkel sind bereits vier Tage vergangen. Heute erhielt ich die Nachricht, dass er friedlich verstorben ist.
Ich bin froh, ihm ‚Auf Wiedersehen’ gesagt zu haben.