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Der Staub auf dem Kamin
Maria schaute auf den Staub, der auf den Bildern eine filigrane Struktur bildete, sich wie eine feine Schicht über den ganzen Kamin verteilte und ohne Spuren, wie frisch gefallener Schnee, bewies, dass die Welt sich weiterdrehte, die Zeit nicht stehen blieb.
Sie lehnte den Krückstock an das Gitter des Kamins, in dem das letzte Feuer bereits vor vielen Jahren verloschen war, wie das Leben in diesem Haus. Die Wärme des Feuers konnte ersetzt werden, die Wärme der Menschen, die das Haus einst mit Leben erfüllten, war unersetzlich.
Maria setzte sich behutsam in den Sessel, ihre Hüfte schmerzte, aber dieser Schmerz ließ sich aushalten, im Gegensatz zu dem Schmerz des Verlustes. Sie lehnte sich zurück und seufzte schwer, nein, sie wollte sich nicht beklagen, es war ein gutes Leben, das Erik und sie geführt hatten. Der Schmerz in ihrer Hüfte ließ nach, sie schloss die Augen und sah die Gesichter ihrer vier Kinder vor sich. Es war still im Haus geworden, nachdem auch der jüngste Sohn ausgezogen war, um eine eigene Familie zu gründen, dafür umso lauter, wenn die Festtage kamen, und zwei Generationen versuchten, die Meute der dritten im Zaum zu halten. Der Trubel, das Gelächter, die kleinen Streitigkeiten und das Band der Familie wärmten das Haus für viele Monate, bis der nächste Festtag kam und das stille, gemächliche Leben eines alten Ehepaares abermals aufwühlte.
Das sporadisch pulsierende Leben konnte nicht die Zeiten ersetzen, als die Wärme noch täglich wie die Hitze des Kaminfeuers durch das Haus zog, die Tage noch ihre Ordnung hatten, das Essen immer pünktlich auf dem Tisch mit den sechs Stühlen stand, und es nie leise war, es sei denn das Haus schlief.
Maria hätte das Erwachsenwerden so gerne verhindert, oder hinausgeschoben, egal wie, denn es hinterließ eine Lücke, die Erik und sie nur schwer schließen konnten.
Die Kreuzfahrt, die vielen Tage auf dem Ozean, auf einem Traum von einem Schiff, die Lücke blieb. Exotische Städte, fremde Kulturen, das Heimweh war immer da, stärker als jede Faszination, und das Gefühl blieb noch lange nach der Heimkehr.
Die Reisen hörten auf, als Erik krank wurde. Trotz des Schocks und der Ängste war sie froh, zu Hause bleiben zu können, sich um Erik zu kümmern und die häufigen Besucher zu empfangen, die sich alle um ihren Vater und Großvater sorgten. Ein trauriger Anlass, der die Familie zusammenbrachte, aber zu der Zeit lag noch kein Staub auf dem Kamin.
Nachdem ihr Mann sie in diesem Haus für immer alleine ließ, wurde die Einsamkeit in dem großen Haus zu einer Qual, die Feiertage fanden nicht mehr in ihrer gewohnten Umgebung statt, Maria wurde abgeholt, verköstigt und nach Hause gebracht, zurück in die Stille.
Die Wärme in den Häusern ihrer Kinder war eine angenehme Wärme, aber es war nicht ihre, sie war fremd, sie gehörte einer anderen Familie, in der sie liebevoll aufgenommen wurde, jedoch immer nur für kurze Zeit.
Um dann wieder in die Kälte ihres beheizten Hauses zurück zu kehren.
Nach drei Weihnachten ohne ihren Mann kam der Sturz, nach dem Sturz die neue Hüfte, und damit kam der Staub. Sie konnte nicht mehr abgeholt werden, die Fahrt war zu schmerzhaft, zu anstrengend, die Besuche wurden weniger und kürzer, die Feiertage vergangen ohne gemeinsame Mahlzeiten.
Der Staub breitete sich aus, man bezahlte ein Putzfrau, die das Nötigste erledigte.
Nicht den Kamin, bat Maria, um den kann ich mich noch selbst kümmern.
Die Staubschicht wuchs, eine vierte Generation brachte vorübergehende Wärme in das Haus, die durch das Babygeschrei noch viele Tage anhielt; Maria wickelte sich darin ein wie in eine Decke.
Sie öffnete die Augen und betrachtete das Bild mit der dünnsten Staubschicht. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, sie spürte noch einen Hauch dieser schwindenden Wärme, es würde lange Zeit keine neue mehr kommen.
Sie wurde müde, sie hatte alle Sehnsüchte aufgegeben, nur eine ist geblieben.
Am folgenden Tag wurde der Kamin entstaubt.