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Der Stern
Regentropfen trommeln gegen mein Fenster. Ich blicke hinaus in die trübe Nacht. Draußen in der Ferne sehe ich den See, der sanft im Licht des Mondes schimmert. Ich schaue hinauf in den Himmel. Wolken ziehen vorüber und der Mond ist der einzige, der es schafft, ab und an die Wolkendecke zu durchbrechen. Der Regen wird stärker und es kommt ein leichter Wind auf. Die Bäume, die am Rand des Sees stehen, wiegen sich in ihm. Wo bist du? Mein Blick sucht tastend den Himmel ab, aber die Wolken lassen dir keine Chance.
In klaren Nächten kann ich dich sehen. Du bist der schönste und hellste von allen. Ich habe schon nächtelang am Fenster gesessen und dich beobachtet. Ich habe gesehen, wie du abends das erste Mal vorsichtig deinen Kopf aus der Himmelsdecke steckst, wie du nach und nach an Selbstbewusstsein gewinnst, bis du mitten in der Nacht in vollem Glanz erstrahlst, und wie du gegen morgen müde wirst und dich schlafen legst. In diesen Nächten fühle ich mich geborgen. Du bist in meiner Nähe. Wenn ich dich sehe weiß ich, dass du für mich da bist. Ich fühle mich sicher, denn du passt auf mich auf. Wenn ich zu dir hinauf schaue, habe ich das Gefühl, dass du mich anlächelst. Wenn du sprechen könntest, würdest du mir sicher sagen, dass ich keine Angst zu haben brauche, da du immer für mich da bist. Das Rascheln in den Bäumen hat mich schon manche Nacht denken lassen, dass du wirklich mit mir sprichst. Aber auch wenn es nur der Wind in den Bäumen ist, weiß ich, dass du mich hörst, wenn ich nach dir rufe, und dass du mir Antwort gibst.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich in deinem Bett liegen. Mit letzter Kraft flüsterst du mir zu, dass du auf mich aufpasst und mich nicht alleine lässt. Wenn ich traurig bin, soll ich in den Himmel schauen und mir den hellsten Stern aussuchen. Das seiest du. Du lächeltest mich an und dann bist du friedlich eingeschlafen, ohne dass dein Lächeln aus deinem Gesicht gewichen ist. Das Ganze ist nun schon über ein Jahr her. An deine Worte kann ich mich noch genau erinnern. Deine Stimme, sanft und dennoch stark und beschützend, ist immer noch in meinem Kopf gefangen und ich werde sie auch nie wieder freigeben. Immer wenn ich in den Himmel schaue, zu dir aufblicke, hallen deine Worte in meinem Kopf. Sie geben mir Stärke und Kraft, um das Leben zu meistern. Ich brauche dich immer noch. Auch wenn du nicht mehr hier bist, weiß ich, dass es dich noch gibt, hoch oben am Himmel.
Anfangs habe ich jeden Tag zu dir hinaufgeschaut, mal lächelnd, mal mit Tränen in den Augen. Heute sind meine nächtlichen Beobachtungen seltener geworden. Aber immer, wenn es mir schlecht geht oder ich eine wichtige Entscheidung treffen muss, frage ich dich um Rat. Auch wenn du mir keine Antwort geben kannst, hast du mir immer geholfen, das Richtige zu tun. Ob es an der Ruhe und Friedlichkeit der Nacht liegt, an der langen Zeit, die ich über das Problem in deiner Gegenwart nachdenke oder an dem Gefühl, dass du mich auffängst, wenn ich doch einen Fehler mache, wird wohl für immer dein Geheimnis bleiben. Hauptsache ist, dass du dein Versprechen gehalten hast und für mich da bist. Das war immer so. Nur heute Nacht ist es anders. Heute Nacht lässt du mich alleine, gerade jetzt, wo ich dich so sehr brauche. Warum lässt du es zu, dass sich die dunklen Wolken vor dich drängen und wir uns nicht sehen können? Warum brichst du dein Versprechen? Ich kann es nicht verstehen. Tränen treten in meine Augen. Ich habe heute Nacht das Gefühl, dich nach deinem Tod ein zweites Mal zu verlieren und diesmal tut es noch mehr weh. Keiner ist da, der mir verspricht, mich nicht alleine zu lassen. Niemand ist weit und breit zu sehen, außer der Mond, der mich auszulachen scheint. Ich werde wütend auf dich und bin ängstlich zugleich. Wie um alles in der Welt soll ich den morgigen Tag meistern, ohne deine Hilfe?
Während ich anfange zu verzweifeln, klopft es an meiner Tür. Er öffnet sie langsam und fragt, ob alles in Ordnung sei. „Ja.“, antworte ich und sehe, dass er lächelt. „Wenn was ist, weißt du, wo du mich finden kannst. Kopf hoch! Du schaffst das schon.“ Mit diesen Worten verlässt er mein Zimmer. Ein Gefühl der Ruhe kehrt in mir ein und plötzlich wird mir klar, dass ich gar nicht alleine bin. Die Angst vor dem morgigen Tag weicht und ich weiß, dass ich es schaffen werde, auch ohne deine Hilfe. Ich blicke noch einmal aus dem Fenster. Der Wind hat die Wolken und den Regen fortgetragen und du leuchtest in voller Pracht am Himmel. Lächelnd blicke ich dich an und plötzlich weiß ich, dass du gar nicht so mächtig bist, wie ich immer dachte. Sogar die Wolken hatten dich besiegt. Du bist einfach nur mein Vater, der von da oben auf seine kleine Tochter aufpassen will und es doch nicht immer schafft. Heute habe ich gelernt, dass es auch ohne dich geht, auch wenn ich ab und zu gerne auf deine Hilfe zurückkomme.