Der Stolz der alten Dame
Sie saß in ihrem mahagonifarbenen Lehnstuhl, der sie allzeit durch ihr Leben begleitet hatte und ihr nun, gebrechlich und alt wie sie selbst, die letzten Tage vergoldete. Stets wenn die Mittagsgeräusche verebbten und die erste Hälfte des Tages vorüberzog, nahm sie Platz in seinem vertrauten Schoß und schaute mit trüben Augen aus dem Fenster, in eine Welt, die sie schon lange nicht mehr interessierte und doch gleichzeitig die einzige Ablenkung war, die ihr zurückgezogenes Dasein noch kannte. Sie fühlte sich geborgen in den großen Lehnen, die ihren kleinen schmächtigen Körper beinahe verschluckten, sie liebte es, sich wie ein bedürftiges Kind in ihm zurückzuziehen und sie wußte, dass sie vollkommen sicher war, dass der greisenhafte Lehnstuhl noch stark genug war, sie zu halten und zu beschützen, vor der Panik des Alltags dort draußen, vor dem orchestralen Lärm der zuckelnden Straßenbahn direkt vor ihrem Fenster.
Es waren die stillen Momente des Glücks, wenn sie so dasaß wie jetzt, entspannt und völlig regungslos, und ein warmer Wind ihr das Gesicht streichelte, während am Horizont die Sonne Abschied nahm. Manchmal wenn sie so dasaß, drängten sich Gedanken des Abschieds in den Sinn, dann legte sie den Kopf zurück und träumte von einem sanften Tod in den Armen ihres Stuhles. Nichts war ihr zwar unheimlicher als der Tod, nichts war schrecklicher als der Gedanke, diesen letzten Weg alleine zu gehen, aber in den Armen des Lehnstuhles verlor sich jede Angst. Es war das Holz, das gute alte Holz, das immer noch roch und an die Behaglichkeit des großväterlichen Schreibzimmers erinnerte, dort wo nie ein lautes Wort fiel, jeder Blick einen gütigen Ursprung hatte und eine helfende Hand stets Halt gewährte, wenn eine suchende nach ihr griff.
Es war ihr Lehnstuhl, das wußte sie und niemand konnte ihn ihr nehmen. Mit Schrecken dachte sie an die Zeit zurück, als man sie noch fortbringen wollte und fremde Hände an ihrem Lehnstuhl rüttelten in der unglaublichen Absicht, ihn kleinzuhacken und zu entsorgen. Damals bäumte sich alles in ihr auf, sie schrie wie ein verwundetes Reh und sofort befanden sich erschrockene Gesichter über ihr, die sie versuchten zu beruhigen, zu bremsen von ihrem gewaltigen Irrlauf, wie es der damals tätige Arzt ausdrückte. Viel jünger als sie war er gewesen, aber er besaß Autorität und als sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte, setzte er sich neben sie, nahm ihre Hände und empfahl ihr, den Lehnstuhl zu vergessen und endlich zu begreifen, dass ihr Leben sich fortan nicht nur ändern, sondern sogar besser werden würde. Blitzartig fühlte sie die alte Wut wieder aufsteigen, doch sie besann sich, besann sich ihres unbändigen Stolzes, der sie durch das ganze Leben getragen hatte, und nahm sich zusammen. Der Atem aller stand still in dem Moment, als ihr Körper mit einem Male Spannung annahm, sie das schüttere Haar glattstrich und mit der Würde einer großen alten Dame sich jede Annäherung verbat und auf ihr Hausrecht pochte. Damit hatte niemand gerechnet, immerhin galt sie als senil, verwirrt und vergeßlich und in den Augen des Doktors flackerte Bewunderung auf. Als sie gingen, war sie beschenkt und dennoch fühlte sie Leid.
Wenn sie auf ihr Leben zurückblickte – und das tat sie immer, wenn sie in ihrem Lehnstuhl saß – fühlte sie eine tiefe Leere, die ihr das Herz schwer machte. All die Jahre hatte sie, so schien es ihr, hinter sich gebracht, ohne wirklich am Strohhalm des Lebens gesaugt zu haben. Die verworrene Kindheit, ein Puzzle, das sie bis heute nicht begriff, bestimmt von der ungewöhnlich harten Hand des Vaters und der stillen Blässe ihrer Mutter, die nur selten einen Hort der Zuflucht bot. Die Jugendjahre, geprägt von dem Versuch eine Identität zu finden, Werte aufzubauen und sich durchzusetzen um jeden Preis, in einer Art Abrechnung gegenüber den trostlosen Verhältnissen ihrer Zeit. Es waren die Jahre, in denen sich die Weichen stellten und sich eine Eigenschaft in ihrem Wesen auszubreiten begann, die fortan ihr Leben, ihre Entscheidungen und ihre Taten ganz und gar bestimmen sollte: der Stolz, der unbändige Stolz, der sie bisweilen durch das Leben taumeln ließ und ihr jede Vernunft restlos entzog. Doch war es auch gerade dieser Stolz, der einst behaarte Hände von ihrem Lehnstuhl vertrieb und ihr das erhielt, was für sie an ihrem Lebensabend gottgegebene Existenz war. Segen und Fluch, das war der Stolz der alten Dame.
Es gab Momente des Zorns in ihrem Leben, in denen sie verkrampfte und sich mit der ganzen Kraft ihres ausgemergelten Körpers gegen das Stuhlholz stemmte. Nie war sie vergrämt oder vergrätzt gewesen, nie hatte sie geklagt, obwohl sie so viele Täler durchschritten und fast nie die Berge gesehen hatte, doch zum Ende ihrer Tage fühlte sie sich verloren, vom Unrecht des Schicksals geschlagen und ihre Seele bäumte sich auf. Die bebende Wut, die sie empfand, war schweigend, kein Laut war zu hören, nur der Lehnstuhl ächzte unter der ungewohnten Last und das Knarren des Holzes war Ausdruck genug für den Schmerz, der sich ihrer in solchen Augenblicken bemächtigte. Es dauerte nur Minuten, dann fiel sie zurück, erschöpft und ausgebrannt, und begriff nicht, welches Leid sie sich und dem Stuhl hatte zugefügt, nur dass es Zeit war zu ruhen, zu träumen von den singenden Engeln und den Bergspitzen des Paradieses. Doch die Spuren blieben nicht aus, ihr Körper holte sich zurück, was man ihm nahm und die nahe Kirchturmuhr schlug dreimal zur vollen Stunde, bis sie wieder erwachte.
Es fiel ihr schwer, den Lehnstuhl zu verlassen, jedenfalls am heutigen Tage, und so griff sie mit beiden Händen schwer in die Armstützen, um sich hinauszuheben in den ausklingenden Tag, den sie so zu Ende bringen wollte, wie es ihrer Gewohnheit entsprach. Noch hatte sie einiges vor, sie wollte lesen, blättern in den Alben ihrer Jugend und vor allem lüften, jetzt wo die Straße vor ihrem Haus zur Ruhe gekommen war und der Tagesstaub sich verzogen hatte. Es überraschte sie, dass das Fenster bereits geöffnet war, keinesfalls hatte sie es getan, brauchte sie dazu doch den kleinen Schemel, der unberührt in der Ecke ihres Wohnzimmers stand. Seltsam, dachte sie, und ihre Überraschung nahm zu, als ihr Blick nach draußen fiel und das vertraute Panorama, die allabendlich wartenden Fahrgäste der letzten Straßenbahn, nicht erschien und alles dunkel statt düster war. Was war geschehen, überlegte sie mit aufkeimender Unruhe und jeden weitergehenden Gedanken wollte sie in den Armen ihres Lehnstuhls tätigen, als sie auf halber Strecke plötzlich innehielt. Etwas bemächtigte sich ihrer, sie kannte es nur allzu gut, sie sah den leeren Lehnstuhl, sich in der Mitte des Raums, keine stützenden Armlehnen, eine aufrechte Frau auf ihrem Weg…….
„Großvater!“, rief sie.