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- 12.09.2007
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Der Streuner
Als sie ihn zum ersten Mal sah, wohnte sie gerade mal zwei Wochen in der neuen Wohnung. Er streunte zwei Tage lang drei Häuser weiter unten am Gehweg herum. Mattes Fell und ziemlich abgemagert sah er aus. Zu gern hätte sie ihm etwas zu Fressen gegeben, doch ihr Geldbeutel sprach dagegen. Es reichte im Monat gerademal für sie selbst zum ernähren.
Sie beobachtete den Hund morgens beim Kaffee trinken und abends beim Essen. Dann war er verschwunden. Sie dachte daran, im Tierheim nachzufragen, getraute sich aber dann doch nicht, da sie befürchtete, den Hund dann nehmen und für ihn eine Kaution zahlen zu müssen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder voll und ganz auf ihre Arbeit. Drei Tage später sah sie einen Leichenwagen vor dem besagten Haus, bei dem zuvor der Hund herum gesträunt hatte. Vielleicht hatte der Besitzer des Hundes gespürt, dass er sterben würde und ihn deshalb weg gegeben? Sie wusste es nicht. Da es sie trotzdem brennend interessierte, ging sie kurz entschlossen zu diesem Haus und klingelte bei einer Mieterin. Auf die Frage, ob hier denn eine Person gewohnt hatte, die kürzlich verstorben ist und einen Hund besaß, bekam sie eine verneinende Antwort. Die Mieterin versicherte ihr, dass in diesem Haus noch nie eine Person einen Hund besessen hatte, da es im Mietvertrag ausdrücklich verboten wurde, Haustiere zu halten. Sie bedankte sich bei der Frau und ging zurück in ihre neue Wohnung.
Tage und Wochen vergingen und es passierte nichts Aufregendes. Den Hund hatte sie schon völlig vergessen. Ihre Arbeit gefiel ihr und sie hatte vielversprechende Aussichten auf eine Beförderung. Als sie eines Abends auf ihrer Terasse saß, sah sie ihm wieder. Diesesmal streunte er auf dem Parkplatz beim Haus genau gegenüber herum. Teilweise saß er einfach nur da und starrte wie hypnotisiert auf eines der unteren Fenster. Sie dachte sich, dass er vielleicht von eben dieser Wohnung immer etwas zum Fressen durch das Fenster geworfen bekam. Er sah immer noch matt und abgemagert aus. Es vergingen wieder zwei Tage, dann war er verschwunden. Zum wiederholten Male kam der Leichenwagen und fuhr wieder. Jetzt wurde sie stutzig. Konnte da ein Zusammenhang bestehen? Sie verneinte und ermahnte sich selbst.
Doch als sie am nächsten Morgen aus ihrem Fenster in die stechend schwarzen Augen des Hundes sah, wusste sie, der Zusammenhang war unübersehbar und sie spürte, wie der Hund mit seinem bloßem Blick das Leben aus ihr heraus saugte.