Der Stuhlgang
Er öffnet die Augen. Schwaches Licht trifft auf seine Netzhaut und er reibt sich, wie jeden Morgen, in den Augen, um wach zu werden. Wie jeden morgen steht er gemächlich auf um sein allmorgendliches Geschäft zu verrichten. Er wäscht sich und macht sich für den Tag bereit. Es ist kein normaler Tag. Lange Zeit hat er sich darauf vorbereitet, was heute passieren wird und seine Gedanken drehen sich seit geraumer Zeit nur um den heutigen Tag.
Die Tür wird vor ihm geöffnet und er schreitet hindurch. Gemächlich und schlaftrunken setzt er langsam einen Fuss vor den Anderen. Doch der Schein trügt. Seine Gedanken rasen, er denkt, was er schon tausendmal gedacht hat, und doch ist es heute irgendwie anders als sonst.
Er spürt das harte Linoleum unter seinen Füssen. Seine zwei uniformierten Begleiter halten sich stets einen halben Schritt hinter ihm. Einer zu seiner Rechten, der andere auf der linken Seite. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen. Kein Wort wird gesprochen.
Endlich kommt er an seiner Destination an, seine Gedanken durchlaufen noch einmal, was sie schon tausendmal zuvor durchlaufen haben. Ein weiterer Uniformierter hält ihm die Türe auf und er tritt ein.
Wie es sich gehört, wenn man im Mittelpunkt steht, kommt er als letztes. Alle anderen sind schon anwesend und haben ihre Plätze bereits eingenommen. Er setzt seinen Gang ohne Unterbrechung fort und nimmt auf seinem Stuhl Platz, ohne etwas zu den Anwesend zu sagen. Und wieder denkt er an das, woran er schon tausendmal gedacht hat und seine Gedanken wandeln einem eindeutigen und doch unverständlichen und unklaren Ziel entgegen. Er atmet tief ein und sein Blick schweift durch den Raum, passiert alle Anwesenden. Sie alle haben ihre Augenpaare auf ihn gerichtet, denn auch sie haben sich auf diesen Tag vorbereitet. Wahrscheinlich denken sie auch dieselben Gedanken, die sie schon tausendmal gedacht haben, wenn auch diese Gedanken trotz allem anders sind als seine eigenen.
Er atmet noch einmal tief ein, während seine Gedanken sich erneut dem verworrenen Ziel nähern und er schliesst die Augen. Die Welt wird schwarz und doch sind seine Gedanken klarer und dennoch unklarer als jemals zuvor.
Er weiss, dass ein Uniformierter an der Wand steht und sein Blick auf ihn gerichtet hat. Er weiss, dass dieser Uniformierte gleich den Schalter umlegen wird.
Ein kurzes Aufblitzen vor seinem inneren Auge bestätigt ihm, was er sowieso schon gewusst hat und seine Gedanken durchlaufen in einem Bruchteil einer Sekunde noch einmal, was sie schon tausendmal durchlaufen haben mit dem Unterschied, dass sie nun ihr Ziel finden, immer noch unklar, dafür absolut.
Stille herrscht im Raum, als der Uniformierte an der Wand den Schalter wieder zurückstellt und still ist es auch auf dem Stuhl, auf den alle Augen gerichtet sind. Das Urteil ist vollzogen, die Frage nach der Schuld überflüssig geworden.
Die Anwesenden verlassen den Raum und kehren zu ihrem Leben zurück. Nur auf dem Stuhl im Mittelpunkt herrscht kein Leben mehr und der Mann wird nie mehr erfahren können, wohin ihn seine tausendmal gedachten Gedanken geführt haben.