Der Tag, an dem A. die Zeit entführte
Als A. die Zeit entführte
Eine kurzes Märchen
Es ist einfach unfair. Erwartungshaltung, enttäuschte Gesichter, gut gemeinte, aber eigentlich nervtötende Ratschläge. Tag für Tag, Woche für Woche. A. ist es leid, sich immer die scheinbar gut gemeinten Tipps von „Freunden“ anzuhören, die ihm erklären wollen wie er doch sein Leben zu leben habe. Dabei wollen sie sich nur selbst auf eine höhere Position erheben und genießen es, ihn unter sich zu sehen.
A. ist 25 Jahre alt und hat keine Ausbildung. Aber er hat einen Schulabschluss, einen guten sogar. Man könnte wagen zu behaupten, dass eine gewisse Intelligenz in diesem jungen Mann innewohnt. Doch anstatt sich der Norm zu unterwerfen und direkt eine Ausbildung zu suchen verzichtete A. auf diesen standardisierten Plan und blieb lieber in seiner Wohnung. Dort gefällt es ihm, dort fühlt er sich wohl, sagt A. immer. Warum macht jeder ihm Vorwürfe? Sein Leben lebt doch nur er, wer hat das Recht, sich neunmalklug einzumischen?
A. ist kein fauler Mensch. Er geht nebenher arbeiten, ein schlecht bezahlter Job in einem mittelmäßigen Kleinstadtsupermarkt. Genug zum Überleben, genug für Internet, Fernsehen und ein paar Bier am Wochenende.
Tief in ihm knurrt die Bestie.
A. darf sich von seiner gesamten Umgebung die Kommentare über sein Leben anhören. Stoisch nimmt er sie hin, nickt und ignoriert sie. Man wirft ihm vor dass er sie ignoriert. Auch das ignoriert er. Kaum hat jemand eine Ausbildung und scheint auf einem „rechten Weg“ zu sein wird aus diesem Menschen scheinbar der Archetypus eines gesellschaftsfähigen Individuums. Manchmal wünscht sich A., einfach in die Welt hinaus zu gehen und allen zu sagen, dass er nicht freiwillig auf die Welt gekommen ist, also nun zumindest das Recht hat die Wege so zu beschreiten wie er es für richtig hält. Aber das hält er für zu kindisch, den Spruch für zu klischeebeladen. Also sitzt er in seiner kleinen Wohnung, spielt online mit anderen zusammen und hört sich dafür Kritik an. Er, der Opfer wird von den abschätzigen Blicken der Leute, sie hinnimmt und seiner Wege geht.
„A., es ist wichtig, dass du eine gute Ausbildung erhältst! Du bist schon 25, du findest keinen Job mehr.“ spricht zu ihm seine Mutter, die sich vom Vater aushalten ließ und nie einen Finger rührte.
„A., du musst öfter aus deinen 4 Wänden raus und mit anderen mehr Kontakt haben, das tut dir gut. Geh mal wieder mit mir durch die Kneipen!“ sagte ein loser Bekannter, der 3 Jahre später der Vergewaltigung bezichtigt werden sollte.
„A., dein Leben ist erbärmlich und das weißt du. Mach was aus dir, das was du derzeit machst ist kein lebenswertes Leben.“ riet ihm ein Arbeitskollege und Student, der mit 36 arbeitslos werden wird, dem Alkohol verfällt und betrunken bei einem Autounfall stirbt.
Eigentlich, denkt A. sich, wollen diese Leute doch gar nicht, dass er sich ändert. Denn so wie er ist konnten andere auf ihn herabblicken. Das erbärmliche Leben der anderen erscheint ihrer Meinung nach in einem neuen Glanz wenn sie es mit dem Leben des A. vergleichen. Heuchler, allesamt.
Die Bestie grollt.
Jedes Glas läuft irgendwann über, wenn man es nur stetig füllt. A. muss sich tagein tagaus anhören, dass er was ändern muss, dass er keine Zeit mehr habe, dass eine Ausbildung seine Bürgerpflicht ist, dass er später sonst dem Staat auf der Tasche hängt. Kritik über Kritik. Wertloses Leben.
Da wird es A. zu bunt. Also denkt er nach, lange und gründlich. Nicht über sein Leben. Nicht über die Kritik der Anderen. A. überlegt, wer Schuld daran ist, dass alle Leute so auf ihn einreden. Er will wissen, warum dieser Druck, diese Erwartungshaltung so sehr auf ihm lastet, dass es diesen friedlichen jungen Mann zu zerbrechen droht.
Ein Schuldiger ist schnell gefunden: Die Gesellschaft. Nur sie kann es sein, die Leistungsdruck und normative Werte auf die Menschen loslässt. Die Moral und Anstand festlegt, und jedes Aus-der-Reihe tanzen als Straftat gegen die Menschlichkeit auslegt. Also überlegt sich A., wie er die Gesellschaft davon überzeugen kann, dass auch er richtig handelt. Dass auch er seinen Wert hat.
A. verlässt seine Wohnung mit raschem Schritt, auf der Suche nach der Gesellschaft, um sie direkt zu konfrontieren. Nur ein paar Schritte weiter findet er die Gesellschaft, stehend vor einem Supermarkt. A. spricht sie an.
„He Gesellschaft! Ich will mit dir reden.“
„Oh, Hallo A. Ja, ich höre dir zu, was gibt es denn?“
„Du bist Schuld daran, dass ich leide. Dass die Menschen mich mit ihren Erwartungen belasten.“
„Bin ich das? Wieso glaubst du das?“
„Weil du diese Erwartungen festlegst! Du legst fest, was gemeinhin als richtig, und was als falsch gilt. Warum kann meine Meinung nicht auch gelten? Das ist ungerecht.“
„Das nennst du ungerecht, A.? Dabei ist die Gerechtigkeit selbst ein Mitarbeiter unter meiner führenden Hand. Gerechtigkeit wird durch einen Konsens der Moral innerhalb von mir, der Gesellschaft, erschaffen. Was bedeutet, dass, wenn Leute dich anprangern, es gerecht ist, weil es die Meinung, dem Konsens, der Mehrheit entspricht.“
„Ich verstehe das nicht. Also zählt die Meinung, der Wunsch, das Leben des Einzelnen nichts?“
„Oh, doch natürlich. Solange der Einzelne funktionierender Teil des Ganzen ist. Du funktionierst aber noch nicht.“
„Also kannst du nichts für mich tun?“
„Du tust doch auch nichts für mich.“
A. wird wütend aufgrund dieser geballten Ignoranz die ihm entgegenschlägt. Die Gesellschaft blickt ihn mit kaltem Gesichtsausdruck an. A. muss sich Mühe geben, nicht laut aufzuschreien. Doch als A. gerade seine Wut an der Gesellschaft auslassen will, erwähnt sie noch etwas:
„Weißt du, A...ich existiere aufgrund verschiedener Notwendigkeiten im Leben. Sei es der einfache Wunsch nach Nahrung, nach Fortpflanzung, nach Sicherheit. Um all das abzusichern, gibt es mich. Ohne mich würde Chaos herrschen, Tod und Zerstörung. Und das ist keine Übertreibung. Ich sichere den Schwächsten und den Stärksten. Ich bin vielleicht nicht immer gerecht, so wie du Gerechtigkeit siehst, aber in den meisten Fällen erfülle ich meine Aufgabe sehr gut. Und glaube mir, ich erfahre auch viel Kritik und Wut an meiner Arbeit. Und das von den Leuten meist, denen ich helfe überhaupt weiter zu existieren. Aber wenn du immer noch einen Schuldigen suchst, der all deine Probleme lösen kann, habe ich einen Vorschlag.“
A. lauscht hoffnungsvoll den Worten der Gesellschaft.
„Der wahre Feind ist die Zeit!“
Verwirrt blickt A. tief in die Augen der Gesellschaft.
„Denk nach, A. An was es immer fehlt, ist Zeit. Sie verrinnt unaufhörlich. Als du 20 warst hat kaum jemand sich über dein Leben beschwert. Nun bist du 5 Jahre älter, und die Welt hackt auf dir herum. Erkennst du es nicht? Mit 76 Jahren stirbst du, mit 50 Jahren gibt es einen Herzinfarkt. Nach 3 Tagen ohne Wasser wirst du sterben. Nach 7 Tagen ohne Nahrung ebenfalls. Du kommst aus der Universität mit 32 Jahren heraus, und findest mit Mühe eine Arbeit. Es ist doch eindeutig, lieber A. Die Zeit ist der Feind deines Lebens. Gäbe es keine Zeit, gäbe es keinen Grund dein Leben zu kritisieren. Du wärst dann bestimmt nicht mehr unzufrieden, weil du endlich tun kannst was du magst.“
A. fällt es wie Schuppen von den Augen. Alles war klar verständlich, alles war logisch. Alleine wäre er da niemals drauf gekommen. Natürlich! Die Zeit!
A. bedankt sich rasch und geht wieder nach Hause. Ein Plan musste her. Die Zeit wird sich ebenso wenig mit Argumenten überzeugen lassen wie die Gesellschaft. Also entscheidet sich A. für die einzige Möglichkeit, die ihm effektiv und logisch vorkommt.
Er muss die Zeit entführen.
A. stellt sich direkt vor seine Wohnungstür und wartet. Er weiß, dass die Zeit auch hier bei ihm vorbeikommen wird. Das tat sie schon immer. Er hatte sie nur nie beachtet. Als sie geradewegs an ihm vorbei schlendert packt A. beherzt zu und zieht die sich heftig wehrende Zeit in seine Wohnung. Die Zeit strampelt mit Händen und Füßen, aber der beherzten Entschlossenheit des A. hat sie nur sehr wenig entgegenzusetzen. A. sperrt die Zeit in seinen alten, längst nicht mehr verwendeten Kleiderschrank und schließt ihn mit einem dicken Eisenschloss zu.
Am 12. April 2010 um 12:58 verschwindet die Zeit.
A. ist überglücklich, er hat die Welt gerettet vom finstersten Tyrannen aller Zeiten, der ungesehen über alle herrschte. Von nun an gibt es nur noch eine Ewigkeit, keine Kritik mehr, keine Verpflichtungen mehr. Er, und alle Menschen sind frei.
Eine Ewigkeit, oder vielleicht sogar zwei oder drei, beschäftigt sich A. mit seiner Welt online. Und während dieser Ewigkeiten hört er nicht ein Wort der Kritik, niemand beleidigt ihn. Alle Leben ihre Ewigkeit.
Die Bestie schreit.
Nachdem die Ewigkeit ihm langweilig wird, nutzt er die Ewigkeit um mit ein paar Freunden zu feiern, zu lachen und zu trinken.
Ewiges Lachen und ewiges Feiern erscheint banal.
Die Bestie weint.
A. ist deprimiert. Er ist unglücklich. Das, was er bereits eine Ewigkeit macht, gefällt ihm nicht. Warum nicht? A. versteht das alles nicht. Er versinkt, tief und tiefer in einer dunklen Trauer, in einer apathischen Existenz. A. geht durch die Stadt. Leute kauern in der Ecke. Manch einer liegt tot am Boden, das Gesicht trotz Todesqualen zu einem Lächeln verzogen. Weil sie erlöst worden sind? Von der Ewigkeit? Welch Irrsinn. Keine Zeit hier, die Wunden heilen wird. Keine Verpflichtungen. Nichts, was es zu erreichen gilt. A. braucht Antworten, also sucht er nach der Gesellschaft. Aber sie ist nicht mehr da. Wo ist sie hin? Nach langem Suchen findet er sie, als Schatten ihrer selbst. Eine verkümmerte Gesellschaft.
„Gesellschaft! Gesellschaft! Bitte, sag mir, warum so viele unglücklich sind. Habe ich die Welt nicht von den Zwängen befreit?“
„Oh A., du Narr, du hast diese Welt verdammt zu ewiger Freiheit und Glückseligkeit.“
„Ich verstehe das nicht! Wieso ist Glückseligkeit etwas Schlechtes?“
„Weil es ewige Glückseligkeit nicht geben kann. In der Welt, die du geschaffen hast, kann jeder Mensch die Zeit verbringen wie er es möchte. Aber weißt du, was das Falsche hierbei ist?“
„Was? Sag es mir, Gesellschaft!“
„Das Schöne entfaltet nur seinen Wert wenn es das Hässliche gibt.“
A. fällt es wie Schuppen von den Augen. Er hat die Welt verdammt, sie ihrer Zeit beraubt. Sie ihrer Menschen beraubt. Dahinlebende Wesen ohne Ziele und Hoffnungen, ohne Träume und Sinn. Er hat eine Hölle geschaffen für alle Menschen, eine Hölle, in der er vorher bereits lebte.
A. rennt in seine Wohnung und öffnet hastig das Schloss von seinem alten Schrank. Doch die Zeit weigert sich hinauszukommen.
„Bitte liebe Zeit, verzeih mir!“
„Warum soll ich wiederkommen? Du wolltest doch diese Welt ohne Pflichten ohne Erwartungen, einfach leben wie du willst. Warum soll ich wiederkommen?“
„Weil...weil...die Menschen sollen wieder werden wie vorher!“
„Und du, A.?“
„Wie, ich?“
„Ist es dir nicht aufgefallen? Du hast dich in der Welt ohne Zeit nicht verändert. Du warst wie vorher.“
„Ich habe mich verändert, ich wurde unzufrieden mit meinem Dasein, mit meinem ganzen Leben!“
„Ach? 'Wurdest' du das? Nein, A., das warst du schon vorher. Du warst immer unzufrieden. Die ständige Kritik tat dir weh, nicht wahr?“
„Ja, weil niemand verstanden hat, dass ich glücklich bin so!“
„Du belügst dich selbst. Ich bin enttäuscht, dass du es immer noch nicht verstanden hast. Was dir so weh getan hat, dich so verletzt hat, bist du selber. Du warst mit deinem Leben niemals wirklich zufrieden. Nicht wirklich glücklich. Du denkst, du warst zufrieden, aber das ist eine geschickte Illusion, die du dir selbst aufgebürdet hast. Und jede Kritik, jedes Wort über dein Leben rüttelte an dieser Illusion. Du wolltest dich eigentlich ändern, du willst dich ändern. Du hast nur die Kraft noch nicht gefunden. Die Bestie in dir schreit, sie weint. Kennst du diese Bestie?“
A. schüttelt leicht den Kopf.
„Dreh dich nach links, A.“
A. dreht sich um und blickt in einen Spiegel. Er sieht sich selbst. Und er versteht.
Die Zeit lächelt und verlässt ihr Gefängnis.
„Ich hoffe du hast was daraus gelernt, A.. Die Bestie, die tief in dir dich unzufrieden machte, warst immer nur du selbst. Andere mögen nicht perfekt sein, ebenso wenig wie du, aber das macht ihre Worte nicht falsch. Überlege genau, was DU wirklich willst. Was die Bestie in dir will. Und du wirst nicht mehr unzufrieden sein.“
12. April 12:59
Die Zeit schreitet weiter voran, und mit ihr A., der mit einem sicheren Schritt seine Wohnung verlässt.
Die Bestie lächelt.