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Der Tag an dem ich starb
Der Tag an dem ich starb
Es war ein heißer, sehr schwüler Julitag. Der Himmel wirkte mit seiner bleigrauen Farbe drohend und die schwarzen, schweren Wolken standen wie eine Mahnung am Horizont. Die Luft war förmlich statisch aufgeladen. Es würde bestimmt bald ein heftiges Gewitter geben.
Ich ging durch den Park am Rande der Stadt um der flimmernden Hitze zu entkommen. Doch auch hier draußen brach mir schnell der Schweiß aus allen Poren. Das Hemd klebte an meinem Körper und nasse, dunkle Schweißflecken bildeten sich bald an Rücken, Brust sowie unter den Armen. Ich fühlte mich widerlich. Bei jedem Schritt fühlte ich mein Herz aufgebracht klopfen, als ob es gegen mich, die unerträgliche Hitze oder gegen die gesamte Welt protestieren wollte. Die Plastiktüten mit fast meiner gesamten Habe schnitten sich in meine zerschundenen Hände. Vereinzelt kamen mir Spaziergänger entgegen, die sich aber schnell bemühten, mir irgendwie aus dem Weg zu gehen. Jetzt lebte ich schon 15 Jahre auf der Straße und bisher empfand ich die Winter immer schlimmer als die Sommer. Aber dieser Tag übertraf einfach alles, was ich bis dahin an Wetter erlebt hatte. „Dann doch lieber im Winter auf dem relativ warmen Abluftschacht des großen Kaufhauses verbringen“ dachte ich bei mir. Endlich kam eine Bank in Sicht und ich konnte mich setzen. Erst einmal fischte ich die noch halb volle Flasche mit dem billigen Rotwein aus einer der Tüten, nahm einen tiefen Schluck und dachte verbittert an bessere Zeiten in der Vergangenheit zurück. Während ich grübelte, kam ein etwa 4 jähriger Junge auf mich zu. Das erste Lächeln welches mir seit langem geschenkt wurde. Ich lächelte zurück. Einen kurzen Augenblick des Glücks, der jäh unterbrochen wurde, als sein Mutter ihn schnell an die Hand nahm und von mir wegzog. Wie immer: Die Menschen konnten mit so etwas wie mir nicht umgehen. Ich konnte es den Leuten nicht mal verübeln. Hatte ich früher nicht genauso über den „Pennern“ gestanden? Und jetzt stand ich schon seit vielen Jahren selber auf der anderen Seite des Lebens und würde sie auch nicht mehr wechseln können. Dazu war es jetzt mit meinen 61 Jahren zu spät und die Schmerzen in meinem Körper erinnerten mich daran, dass dieses Leben auf der Straße dem Menschen mehr als abträglich war. Diese Schmerzen! Sie wurden von Tag zu Tag schlimmer und veranlassten mich auch jetzt dazu, meine viel zu kleinen Schuhe auszuziehen, die Hosenbeine hoch zu krempeln und die offenen, teilweise vereiterten Wunden an meinen Beinen zu betrachten. Betrachten und etwas Luft daran lassen, das war so ziemlich alles, was ich für meinen geschundenen Körper tun konnte. Heute kamen jedoch noch die Schmerzen der Schläge hinzu, die mir am Morgen zugefügt wurden, als ich versehentlich in das Revier von zwei anderen Berbern geraten war. Das Gesetz der Straße war einfach und brutal. Schmerzen hatte ich dazu gewonnen, dafür aber meinen Schlafsack und den Mantel eingebüßt. Na Ja… bis zum Winter verging ja noch einige Zeit und ich konnte mir bestimmt irgendwo in einem Kleidercontainer oder beim Roten Kreuz Ersatz beschaffen.
Allmählich leerte sich meine Rotweinflasche. Ich würde heute wohl doch noch in die Fußgängerzone müssen, um ein paar Münzen zu bekommen. Das Betteln war eine Sache, die ich abgrundtief hasste, die mich aber all die Jahre am Leben gehalten hatte. Es war schon merkwürdig, auf welche Weise sich die Ansicht des Lebens verändern konnte. Früher waren die Familie, die Arbeit, Freunde, das Auto und der Restaurantbesuch wichtig, heute nur der Gedanke an Schmerzen, die nächste Mahlzeit und das Geld für eine billige Flasche aus dem Supermarkt. Seit Jahren, tagein, tagaus die gleiche Jagd zum Erhalt dieses jämmerlichen Daseins. Und doch würde ich noch manches Jahr diese Ochsentour durchziehen, da war ich mir sicher.
Inzwischen hatte sich der Himmel völlig verdunkelt und es begann zu donnern. Notgedrungen zog ich diese Schuhe mit dem aufgerissenen Leder und der gebrochenen Sohle wieder über meine wunden, verschorften Füße. Ich würde mich sputen müssen, wenn ich noch vor dem Regen in die Stadt kommen wollte. Ich hatte einfach zu lange hier gesessen. Wenn es erst regnete, war das Betteln fast aussichtslos, da die Menschen dann nur griesgrämig und mit schnellen Schritten vorüber gehen würden. Ich verließ den Park, als es anfing zu schütten. Die reinste Sintflut ergoss sich vom Himmel. So schnell es meine schmerzenden Knochen zuließen, strebte ich der Stadt mit seinen trockenen Ecken entgegen. Der Regen wurde immer dichter und die Sicht verschlechterte sich in jedem Augenblick. Mit vom Regen verschleierten Augen trat ich auf die Straße, als ich die Lichter des Lastwagens sah, der auf mich zukam. Außer dem Rauschen des Regens hörte ich nichts und spürte auch nicht, wie der schwere Wagen mich erfasste. Ich wirbelte durch die Luft und sah meine Umgebung wie in Zeitlupe, bis ich auf den Asphalt aufschlug. Alles, was ich mein Eigentum nannte und welches mir mein Überleben sicherte, hatte sich weit um mich verstreut. Nur die kleine, zerschlissene Stoffschildkröte, die ich all die Jahre als Erinnerung an meine Familie und mein früheres Leben behalten hatte, lag in Griffweite. Schwarzes Blut, verdünnt durch den Regen, begann die kleine Schildkröte zu verfärben. Ich stellte erstaunt fest: Keine Schmerzen, das erste Mal seit langer Zeit. Meine Hand ergriff das kleine Plüschtier. Ein letzter Blitz, den ich wahrnahm, zuckte wie ein Fanal vom Himmel. Dann war nur noch Dunkelheit und Stille.