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Der Tag, an dem mein bester Freund vergaß, mich zu verstehen
Endlich sitze ich im Auto, neun Stunden Arbeit, ich halte für einen Moment die Luft an bis die Zentralverriegelung meine Tür geöffnet hatte. Neun Stunden, und dann noch Arbeit. Ich lasse mich auf den Fahrersitz meines Autos fallen und hieve meine Beine in den Fußraum. Erschöpft lehne ich mich zurück, atmete tief ein. Endlich frei, ich schalte das Radio ein. „Born to be wild“, „Break on trough“ oder irgendwas anderes mit Freiheit hätte kommen müssen, irgendetwas aufbauendes, rebellisches, stattdessen „Paranoid“ - ein Rockklassiker von Black Sabbath, 1970. „Naja oft gehört, aber noch lange nicht ausgelutscht“, denke ich mir und starte den Motor meines alten Weggefährten.
Die Kolben quälen sich den engen Gang der Zylinder hinauf. Ich weine. Warum eigentlich? Ich greife nach dem Bild. „Ich denk an dich“, denke ich. Die Reifen finden Haftung und meine Karosse bewegt sich langsam über den geschotterten Parkplatz. Als ich die letzte Schranke passiere lege ich das Bild von mir und meiner Freundin auf den Beifahrersitz. „Wie soll das alles weitergehen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Ja gottverdammt, ich weiß es nicht“, muss ich mir eingestehen. Ich blicke auf mein Handy. Nichts. „Was hast du erwartet?“ fragt mich mein Kopf „Man, hör auf, nimm ihm nicht den Mut“, antwortet mein Herz.
Can you help me
Occupy my brain?
Denke ich mir, greife nach dem Mobiltelefon, das ich bereits wieder auf dem Beifahrersitz gelegt hatte.
I need someone to show me the things in life that I can’t find.
Somebody, einfach irgendwen, ich blättere durch mein digitales Telefonbuch.
Anabelle
André
Andrea
Anja
Anton
Astrid
…
Nein, niemand mit dem ich reden will, niemand der mich verstehen würde.
Ich wende meinen Blick kurz von dem grünleuchtenden Display ab, riskiere einen Blick auf die Straße. Nichts nennenswerte, ich schalte einen Gang höher.
Help, I need somebody,
Help, not just anybody,
Schrie Lennon in meinem Kopf gegen Ozzys Stimme aus meinen Lautsprechern, „Sabbath bloody Sabbath“, an. „1973, geiles Album“.
Mick! Eilig suche ich seinen Namen in der lange Liste von Menschen, von denen man denkt es wären Freunde. Mick war kein guter Freund, aber Mick war jemand, auf den Verlass war. Immer wieder in den letzten Jahren hatte er das unter Beweis gestellt.
„Ja?“
„Ich kann nicht mehr.“
„Was?“
„Ich halte das alles nicht mehr aus.“
„Arnold? Bist du das?“
„Ja.“
„Was ist denn los?“
Ja was war eigentlich los? Hatte ich Mick noch nichts erzählt. War er einer von den Menschen, vor dem ich mein Gesicht bis jetzt noch hatte wahren können?
„Arnold, was ist los? Ich bin grad mit dem Auto unterwegs.“
Na und? Das bin ich auch.
„Sorry Arni, ich hab jetzt grad echt keine Zeit – Ich meld mich später.“
„Bis dann.“
Ich weine.
Jetzt bleibt mir nur noch einer. Jules, mein bester Freund. Warum hatte ich ihn bis jetzt noch nicht angerufen? Warum war er nicht meine erste Wahl?
„Weil der doch selbst genug Stress hat, er würde dir nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken, können“, sagt da wieder das pochende Organ in meiner Brust.
Ja, wahrscheinlich hatte es Recht.
Aber Jules und ich hatten uns bis jetzt schon immer wieder rausgeholt, egal wie tief das Loch war in dem wir steckten.
Damals als es mit ihm und seiner Freundin schief ging, Jules hatte damals mitten in der Nacht angerufen, nur um zu reden. Ich konnte mich Anfangs nicht so ganz in ihn hineinversetzen, aber ich spendete immer soviel Trost ich nur konnte.
Eine richtig reife, feste und lange Beziehung war das damals zwischen den beiden gewesen, dementsprechend war der Schmerz den Jules damals durchlebte, härter als alles was er bis dahin erlebt hatte.
Immer hatte ich mir die Frage gestellt, ob er sich genauso wohlfühlte wenn er mit mir in solchen Situationen redete wie ich mich, als kurze Zeit darauf meine Freundin mich verließ. Aber die Tatsache, dass er sich vor Kurzem meldete als sein Dad widererwartend wieder zur Flasche griff, bewies mir, dass ich, und die Gespräche mit mir, ihm etwas wert waren. Wir hatten immer Zeit für einander, immer ein offenes Ohr für den anderen. Niemals hätten wir uns verletzten können. Zuviel hatten wir miteinander erlebt.
Einmal hatte Jules zu mir gesagt: „Du bist der Bruder den ich nie wollte.“ Und ich konnte nichts dagegen sagen, mir war bewusst, dass wir immer mehr waren als normale Freunde, wir mussten uns gegenseitig für nichts schämen. Keine Träne, keine Story über eine misslungene Bettgeschichte, hätte unsere Freundschaft auf die Probe stellen können.
Ja, Jules würde mir helfen können, so wie vor einigen Jahren als es meinem Vater schlecht ging. Er war da. Er war immer da. Ich war immer da. Die ganzen sieben Jahre die wir uns jetzt kannten.
Ja, wir hatten alles miteinander erlebt. Alles miteinander geteilt. Träume, Wünsche, Schmerzen, Flaschen.
Mein Telefon klingelt, ein eiliger Blick verrät mir, dass meine Schwester mich erreichen will. Der zweite Mensch, dem ich alles anvertrauen kann.
„Hi Stefanie, na wie geht es dir?“
„Gut, aber eigentlich sollte ich die Frage stellen.“
„Mir geht’s beschissen, aber was war anderes zu erwarten, du weißt doch am Besten, dass ich mit solchen Situationen nicht umgehen kann.“
„Ach Brüderle.“
So nannte sie immer wenn sie mich aufmuntern wollte, aber jetzt hilft das nichts, das weiß sie mindestens so gut wie ich.
„Was treibst du heute Abend noch?“
„Nichts, ich hoffe, dass ich einschlafen kann ohne viele Gedanken im Kopf zu haben“
„Trink bitte nicht so viel.“
„Verdammt ich kann diese Worte nicht mehr hören.“
„Ich mach mir doch bloß Sorgen.“
„Nein, ich trinke heute Abend nicht, keine Angst. Bin jetzt schon hundemüde.“
„Ich weiß nicht ob mich das ruhiger schlafen lässt.“
„Ich hoffe, sorry aber ich ruf dich später noch mal an, fahr jetzt auf die Autobahn.“
Ich lege das Telefon in den Aschenbecher, fahre auf den Beschleunigungsstreifen auf, blicke in den Rückspiegel. Nichts. Na dann los. Meine Tachonadel pendelt irgendwo bei 120km/h ein und ich lehne mich entspannt zurück.
Wine is fine but whiskey’s quicker
Suicide is slow with liquor
Take a bottle and drown your sorrows
Then it floods away tomorrows
Ozzy hatte das Duell wohl gewonnen und durfte nun mal was aus seiner Solozeit singen. Diesmal musste ein anderer Beatle mit „Yesterday“ das Feld als Verlierer verlassen, Paul McCartney.
Wie sollte auch der kleine Lautsprecher aus meinem Handy, das gerade darauf aufmerksam macht, dass Jules mich anrufen will, gegen die 200 Watt meiner Audioanlage ankommen. Ich gehe ans Telefon, verstehe aber kein Wort. Jules brüllt mir ins Ohr.
Such a shame who’s to blame and you’re wondering why
„Wie geht’s dir?“
Ich stelle dir das Tapedeck leiser.
„Wie soll es mir gehen, hab jede Menge Wut im Bauch.“
„Dann lass sie raus!“ sagt er, so wie - mach bitte den Herd aus wenn du fertig bist – als ob es nichts Leichteres gäbe.
„Wie, frage ich dich.“
„Laute Musik, Alkohol, so wie immer halt, warum fragst du?“
„Ich kann so nicht weitermachen, das nimmt mich alles viel zu sehr mit.“
„Ich weiß doch, was soll ich sagen?“ Ich weiß nicht was er sagen soll, das weiß ich nie, aber irgendwie ist das, was er sagt immer das Richtige.
„Ich hab da was das dich interessieren wird. Weißt du noch, hab dir doch von der Tapeaktion erzählt.“ Ich erinnere mich dunkel, irgendwann zwischen einer Flasche Wodka und einer weiteren hatte er einmal davon erzählt.
„Das Tape das du an die Natascha geschickt hast?“
„Woher weißt du, dass es an Natascha… hab dir nie erzählt an wen...“
„Alter, wie blind muss man denn sein?“ unterbreche ich ihn.
Natascha war ein Mädel das wir vor Jahren kennengelernt hatten, sie ging bei uns in die Schule, zur Glanzzeit unseres Lebens. Sie war, beziehungsweise ist sie wahrscheinlich noch, dunkelhaarig, schlank und hatte rehbraune große Augen. Jules war damals noch mit seiner großen Liebe Kirstin zusammen, aber konnte die Augen nie von Natascha lassen. Wie viele Jahre mochte das jetzt her sein, drei? Oder vier?
„Für das, dass ich sie seit über 5 Jahren nicht gesehen habe, war die Resonanz erstaunlich positiv.“
„Hab ich mir doch gedacht, hab aber eher gedacht des war noch länger her.“
„Naja und gestern haben wir uns getroffen.“
„Nur getroffen, das glaubst du doch selbst nicht.“ Stelle ich ihn auf die Probe.
„Naja, klar lief mehr aber du weißt ja, ein Gentleman genießt und schweigt.“
„Du bist kein Gentleman, das weißt du, das weiß ich.“
A gentleman will walk but never run
Gehen mir Stings Worte aus „Englishman in New York“ durch den Kopf, und Jules rennt immer. Ich versuchte dem immer aus dem Weg zu gehen.
„Was soll ich sagen, ich hatte seit langen mal wieder ne geile Nacht.“
„Danke, mehr wollte und will ich gar nicht wissen.“ Entgegne ich ihm bevor er anfangen kann auszuschweifen.
„Arni, du glaubst nicht wie glücklich ich bin“, sagt er
„Jules, du glaubst nicht wie scheiße es mir geht,“ erwidere ich.
„Arnold, ich muss jetzt leider weiter, treffe mich gleich wieder mit ihr, fuck geht’s mir gut. Aber meld dich heute Abend noch mal. Ich kann nur sagen, vergiss sie. Du kannst eh nichts machen. Lass ihr Zeit….“ Weitere Floskeln folgen, ich lege auf, werfe mein Handy mit aller Wut auf den Beifahrersitz. Drehe den Verstärker auf, gebe Gas. Warum kann mir nicht einmal mehr er helfen?
Where can you run to
What more can you do
No more tomorrow
Life is killing you
Danke Schwesterchen, dass du immer für mich da bist.
Dreams turn to nightmares
Heaven turns to hell
Burned out confusion
Nothing more to tell
Das war er: Der Tag, an dem mein bester Freund, vergaß mich zu verstehen, aber ich bin ihm nicht böse.