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Der Tausch
Der Tausch
Kai Wiesner war schon immer ein Mann gewesen, der sich durchsetzen konnte. Fressen oder gefressen werden, dieses darwinistische Prinzip bestimmte Wiesners Leben und obwohl er mit dem Namen Darwin so gar nichts anfangen konnte, verstand er es doch fast immer, der zu sein, der fraß.
Als er mit leicht abgespreizten Armen, den Bauch eingezogen um seine riesigen Brustmuskeln zur Geltung zu bringen in das grelle Licht der heißen Nachmittagssonne heraus trat, ließ er seinen Blick über den Gefängnishof schweifen.
Neben den fast 50 stark schwitzenden Insassen befanden sich noch mindestens fünf noch stärker schwitzende Wärter in grünen Uniformen auf dem Hof - die Beamten zogen es vor, bei großer Hitze im Inneren zu bleiben; sie mochten keine Hitze.
Strategisch günstig waren überall graue Kameras installiert, die leise surrend jede Bewegung der Gefangenen einfingen und in den in der Mitte des Hofes thronenden Turm schickten, wo die Oberaufseher gemütlich eisgekühltes Bier tranken und sich über die Klimaanlage freuten.
Wiesner blickte zu dem umzäunten Kraftbereich hinüber in dem einige tätowierte, muskelbepackte Männer unter schmerzerfülltem Grunzen riesige Hanteln und Gewichte stemmten, während bei den meisten die Färbung des Gesichts schon lila wurde.
Mit langsamen Schritten ging er am Trainingsbereich vorbei, wobei er jeden Insassen an dem er vorbeikam fixierte und spöttisch in sich hineinlächelte, wenn dieser den Blick sofort senkte.
Wiesner war das größte Tier im Knast, zumindest in seinem Zellentrakt, und er hatte noch nie davor zurückgeschreckt, das auch bei jeder Gelegenheit zu beweisen. Und da er gerade nicht anderes zu tun hatte, war mal wieder so eine Gelegenheit gekommen.
Schon sein Vater hatte ihm beigebracht, dass es wichtig für einen Mann ist, Stärke zu zeigen. Und das ging am besten immer, wenn man sich den Schwächsten herauspickte und ihn vor allen anderen fertigmachte. Und was in der Schule funktioniert hatte - nicht dass Wiesner lange in einer gewesen war - verfehlte hier im Knast, wo Dominanz die wichtigste Eigenschaft war, auch nie seine Wirkung.
Nicht weit vor ihm kniete, den Kopf gesenkt, die Ratte im Schatten des riesigen Wachturms und zeichnete gebannt auf einen vor ihm im Dreck liegenden Fetzen schmutzigen Papiers.
Wiesner fletschte die Zähne, was als Lächeln gemeint war und ging langsam auf die Ratte zu - ein Raubtier, das sich seiner Beute sicher war.
Das Knurren und Grunzen aus Richtung der Gewichte erstarb und Wiesner musste sich nicht umsehen um zu wissen, dass sich alle Blicke auf ihn und die Ratte, die noch nichts von ihrem Pech bemerkt hatte, richteten.
Pah, die Ratte. Sogar so ein widerliches Tier durfte eigentlich nicht mit dieser schmallippigen, hässlichen Schwuchtel verglichen werden; ein etwa zwanzigjähriger Mann, eher noch ein Junge, schmächtig und klein, dessen große, gelbe Schneidezähne im seinen Namen verliehen hatten. Und das mit Schwuchtel war sicher keine Beleidigung gewesen.
Vor drei Tagen im Knast angekommen, hatte sich das Bürschchen gleich Feinde durch seinen tuntigen Gang und seine schwarzen, in das Gesicht gegelten Haare gemacht. Und Wiesner hatte irgendwas in dem Gesicht der Ratte gesehen, irgendetwas, was ihn abstieß. Dafür würde der Junge zahlen.
Wie aus einem tiefen Schlaf gerissen, hob die Ratte plötzlich den Kopf und ihre grauumschleierten Augen wurden groß, als sie sah was auf sie zukam. Der schlaksige junge Mann griff nach dem Papier vor ihm, steckte es blitzschnell in sein Tasche und wollte sich erheben.
Doch Wiesner war schneller und schubste die sich aufrichtende Ratte um, die nach hinten mit einem Keuchen in den trocken Dreck fiel.
Wiesner bellte ein Lachen heraus. „Gleichgewicht verloren, was Bürschchen? Warte ich helf' dir hoch!“
Er trat auf den Jungen zu und packte ihn am Arm. Mit mit brutaler Kraft riss er ihn hoch und hielt ihn vor sich fest.
„Lass mich los! Oder ich schreie ganz laut nach den Wachen!“, wimmerte die Schwuchtel mit quietschender und sich überschlagender Stimme.
Ganz schön mutig, das Bürschchen, dachte Wiesner sarkastisch, aber das treib ich ihm auch noch aus. Er lächelte fröhlich in das angstverzerrte Gesicht des zitternden Jungens und drückte seinen Arm mit voller Kraft. Die Schwuchtel jaulte auf und versuchte sich loszureißen, doch Wiesner packte auch noch ihren anderen Arm und drückte mit seinem Daumen auf das Schlüsselbein, bis es knackte.
„Halt. Dein. Maul.“ Mit jedem Wort spannte Wiesner seine Finger nur noch mehr an.
Das Bürschchen verstummte und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Wiesner rammte sein Knie mit voller Wucht in den Oberschenkel des Jungen, dessen rechtes Bein sofort unter ihm nachgab. Wiesner hielt ihn aber ohne Mühe fest.
Währenddessen bildete sich eine Traube von Männern um sie und schirmten beide von den Blicken der Wärter ab, die gelangweilt in Grüppchen zusammenstanden und schwatzten. Nur eine Kamera fokussierte sich summend auf die stumme Menge der Insassen, bewegte sich dann aber, als die Wächter im Turm erkannt hatten, wer in der Mitte stand, langsam wieder weg.
„Hab dich schon ein paar Tage beobachtet, Bürschchen, sitzt immer ganz allein herum und malst, wie 'n kleines Mädchen. Wohl Pferdebilder, oder was du verdammte Göre!“ Wiesner rammte sein Knie wieder auf den gleichen Punkt wie vorher, schoss gleichzeitig mit seinem Kopf nach vorne und traf mit seiner Stirn die Nase des Jungens, der laut aufschluchzte, während helles Blut aus den Nasenlöchern auf seinen grauen Pullover spritze.
Die Umstehenden grölten und lachten leise – ein Rudel Hyänen, sich sadistisch erfreuend am Anblick von Dominanz und wahrer Männlichkeit. Und er war der unangefochtene Rudelführer. Wiesner grinste. So gehört es sich.
„Wa- Wa- Was hab' i- i-ch gema- ma- macht gemacht? Ni -nich- ni- nicht Du -u -u!“ Der Ratte liefen Tränen am Gesicht hinab, die sich mit dem Blut zu einer glänzenden Flüssigkeit vermischten.
„Bi- bi- bitte!“ Die Schwuchtel kreischte fast.
Wiesner verzog sein Gesicht, öffnete den Mund und spuckte dem Bürschchen ins Gesicht.
„Was du gemacht hast? Ha! Ich hasse Leute, die Rotz im Gesicht haben!“
Einige der anderen lachten zustimmend auf, während die Wärter langsam nervöse Blicke in Richtung der versammelten Gefangenen warfen.
Wiesner wusste, das er nicht mehr lang Zeit hatte, aber eines musste noch sein. Mit der rechten Hand griff er in die Hosentasche der Ratte und wühlte den zerknitterten Fetzen heraus.
Der Junge schrie laut auf und Wiesner boxte ihm blitzschnell drei mal hintereinander ins Gesicht, wobei er ihm ein paar Zähne ausschlug. Er ließ das Bürschchen los, woraufhin es bewusstlos zu Boden stürzte und den Dreck mit Blut verklebte.
Wiesner schmatzte verächtlich, drehte sich um und ging langsam in Richtung Kraftbereich, wo er gigantische Hanteln aufnahm und zu trainieren begann.
Die Menge löste sich auf und machte den Wärtern Platz, die den bewusstlosen Jungen hochhoben und unter Ächzen vom Hof schleppten.
„Verdammte Scheiße, ich kanns nicht glauben!“ Wiesner starrte mit ungläubigen Blick auf die Zeichnung und die Zahlen auf dem schmutzigen Blatt Papier, das er der Schwuchtel abgenommen hatte.
„Verdammte Scheiße, ich kanns nicht glauben!“ Er wiederholte den Satz stupide immer und immer wieder und umklammerte den Fetzen, der der sprichwörtliche Sechser im Lotto mit Zusatzzahl für ihn war. „Verdammte. Scheiße.“ Er betonte jede Silbe, schloss die Augen und sank auf das Bett zurück, auf dem er saß.
Blitze von Gedankenströmen rasten durch sein Gehirn und seine innere Stimme überschlug sich fast, als er diesen Glücksfall überdachte. Ein Datum mit einem zweistündigen Zeitfenster, schon morgen Nacht. Ein Plan des gesamten Gefängnisses und im Besonderen der Verbindung zwischen Keller und Kanalisation. Und die Codes für jede einzelne, verdammte Tür dorthin.
Ein Ausbruchsplan! Ausbruch aus einer noch mindestens fünfzehnjährigen Strafe, dem stupiden Gefängnisalltag und irgendwann einem Gegner, der ihm gewachsen wäre. Ausbruch aus dem langweiligstem Ort, den er kannte, den ekelhaften Duschszenen, der Isolation. Endlich wieder richtige Frauen, richtiger Schnaps und richtiges Koks. Andere Gesichter als die verhassten Mitinsassen, die wie blökende Schafe zu ihm aufschauten, ihm aber sofort den Rücken zukehrten, würde er auch nur einmal einen Kampf verlieren. Freiheit! Das Wort verging ihm auf der Zunge. Für Freiheit würde er alles geben, alles tauschen!
Wiesner stand auf und trat zum Fenster, das auf den Hof hinausführte. Draußen schwirrte die Hitze
und er konnte noch leicht den eingetrockneten Blutfleck am Fuße des Turms erkennen, wo er den Jungen ausgehebelt hatte. Woher hatte das Bürschchen den Plan nur? Vielleicht so eine Computertusse, die man immer im Fernsehen sah. So eine, die früher verprügelt wurde und sich dann weinend hinter ihrem Computer versteckte.
Wiesner schnaubte verächtlich. Eigentlich scheißegal woher die Schwuchtel den Plan hatte, nun hatte Wiesner ihn und er gedachte ihn einzusetzen. Das einzige Problem war nur, dass der Sissyboy vielleicht Rache wollte und ihn verraten würde. Aber das war ein lösbares Problem.
Auch das hatte er von seinem Vater gelernt: Erledige ein waidwundes Tier, die können am gefährlichsten sein, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben.
Wiesner schloss lächelnd die Augen und träumte von Freiheit.
Es war ihm sofort klar gewesen, was das Zeitfenster bedeutete. Im Zuge der Gefängnisreformen wurden die Computer auf den neusten Stand gebracht und in dieser Zeit, diesem zweistündigen Zeitfenster, funktionierte das Kameraüberwachungssystem nicht.
Wiesner konnte sich also abgesehen von den leicht ausschaltbaren Wärtern unbeobachtet im Gefängnis bewegen und durch die Kanalisation entkommen. Danach ab zu Jenny, dort ein paar Tage abwarten und dann würde er weitersehen.
Ein Traum von einem Plan, narrensicher und Wiesner war alles, nur kein Narr. Das Entkommen selbst würde maximal eineinhalb Stunden benötigen, den Rest der Zeit hatte Wiesner schon eingeteilt: Zur Zelle der Ratte, ihr ein paar Manieren beibringen, sie erledigen und ab in den Keller.
Mit letztmaligem Wetzen über den Fußboden schliff Wiesner seine aus einer Zahnbürste gemachten Klinge zu Ende. Er sah auf die Uhr. Es war Zeit aufzubrechen.
Er trat zu dem Knopf neben der Tür und drückte ihn in langen Intervallen. Vor seiner Einzelzellentür würde eine rote Lampe signalisieren, er müsse dringend mit einem Wärter sprechen und er konnte schon fast den feisten Fred langsam auf seine Tür zuwatscheln sehen, der dicke Bauch über der viel zu engen Hose hin und herschwabbelnd. Wiesner lachte auf, den feisten Fred hatte er nie gemocht.
Ein Knacken in der Gegensprechanlage kündete von dessen Ankunft.
„Was los, Wiesner?“ quietschte die helle Stimme aus dem Lautsprecher.
„Mein Klo ist verstopft, ich brauch was, muss dringend scheißen!“ Wiesner musste fast lachen, beherrschte sich aber. „Schnell, ich will hier nicht auf den Boden kacken müssen!“
„Ach, verdammt noch mal! Warte ich hol was. Was für 'ne scheiß Nacht!“ Wieder ein Knacken und der feiste Fred war weg.
Wiesner prüfte die Schärfe der Klinge indem er sich in den Finger schnitt. Wie durch warme Butter. Würde reichen.
Keine fünf Minuten später knackte die Anlage erneut: „Hör zu Wiesner, tritt in die hinterste Ecke deiner Zelle und sei verdammt noch mal ruhig. Ich hab heute keine Lust auf Probleme!“
Wiesner tat wie ihm geheißen und die Tür ging, nachdem etliche Schlösser entriegelt wurden, quietschend auf. Herein traten der feiste Fred und sein Kollege, ein viel zu groß geratener Oberlehrerhaft wirkender Typ, den alle die Krötenfresse nannten. Der feiste Fred hatte einen Pümpel in der Hand mit dem er herumfuchtelte und er gab, verschwitzt und ärgerlich wie er war, eine so komische Figur ab, dass Wiesner laut auflachte.
„Was soll das?!“ fragte der feiste Fred und versuchte einschüchternd zu klingen, was ihm aber im Angesicht des riesigen Wiesners misslang. Wahrscheinlich weil er sich der Hilfe seines Kollegen sicher und vermutlich wirklich sauer war, trat er trotzdem drohend auf den bulligen Gefangenen zu und schüttelte die Saugglocke, was Wiesner noch mehr zu lachen brachte.
„Jetzt reicht's!“ sagte der feiste Fred und holte aus. Doch für einen wie Wiesner war er zu langsam, viel zu langsam. Mühelos duckte sich Wiesner unter dem wuchtigen Schlag weg und rammte blitzschnell die in seiner Hand versteckte Klinge bis zum Ansatz in das trübe Auge Freds. Ein Ploppen wie von einem Sektkorken war zu hören, als er das Messer wieder zurückriss.
Wiesner schubste den feisten Fred mit aller Kraft von sich, sprang über den fallenden Fettsack hinweg und auf Krötenfresse zu, der unter lautem Kreischen versuchte, aus der Zelle zu laufen.
Doch auch für ihn war Wiesner zu schnell. Mit brutaler Kraft riss er Krötenfresse an den Haaren nach hinten und schob ihm das Zahnbürstenmesser in das rechte Nasenloch. Krötenfresse schrie dröhnend auf als Wiesner die Klinge immer tiefer schob und zuletzt mit einem Schlag bis zum Ansatz in die Nase des bereits Bewusstlosen trieb.
Zur Sicherheit schlug er Krötenfresse noch einmal auf den Hals, was aber unnötig war, nahm dessen Plastikknüppel und Schlüssel und verließ leise und glücklich vor sich hinsummend die Zelle.
Ein Kinderspiel! Alles. Wirklich alles. Die Codes zu den Verbindungstüren hatten alle gepasst, Wachen waren sonst keine unterwegs – dank Gefängnisreform, wie Wiesner amüsiert dachte, die wenigen die da waren, würden schlafend in ihren Stuben sitzen und schnarchen oder aber Fußball und Pornos gucken. Wiesner kannte seine Pappenheimer.
Nun stand er vor der Zelle der Ratte, die letzte Tür, die er durchschreiten musste bevor er sich auf seinen endgültigen Weg in die süße Freiheit machen würde. Wiesner streichelte den Knüppel, zückte den Schlüssel und begann die Tür aufzuschließen. Mann, was würde die Ratte für Augen machen. Wiesner musste nur sicherstellen, dass sie bis jetzt noch nichts gesagt hatte, dann würde er dafür sorgen, dass sie es auch nicht mehr konnte. Schön blutig würde es werden, doch allzuviel Zeit hatte er auch nicht. Zehn Minuten vielleicht ein bisschen mehr. Aber das war genug.
Wiesner schloss das letzte Schloss auf und schob die Tür nach innen. Das Licht war aus, was ihm recht war. Mit einem Hechtsprung warf er sich in die Zelle und traf im Fliegen was Weiches, das mit einem Stöhnen zu Boden fiel. Wiesner warf sich herum und schlug zweimal auf den dunklen Fleck, der das Gesicht der Ratte sein musste, dann erhob er sich, trat zum Lichtschalter und machte es an. Die plötzliche Helligkeit blendete ihn doch bald sah er die regungslos daliegende Gestalt wieder scharf und lachte laut auf als er sah, dass er die Ratte mit den Knüppelschlägen auf die bandagierte Nase getroffen hatte, das Blut spritzte nur so aus den verkrusteten Nasenlöchern an die gegenüberliegende Wand, was Wiesner an die Rohrschachtests erinnerte, die er gemacht hatte, als sie ihn zum ersten mal schnappten.
„Nun denn, an die Arbeit.“ sagte Wiesner und lehnte die Tür an.
Die Zellen waren zwar fast schalldicht, aber Wiesner wollte kein Risiko eingehen, daher verpasste er der Ratte einen Knebel aus einem Fetzen Stoff und einem Gürtel und kniete sich neben sie.
Einfach hässlich. Und nicht nur wegen der Verfärbungen und Schwellungen, des blutverschmierten zahnlückigen Mundes oder der verquollenen Augen. Das Gesicht strahlte etwas aus, das Wiesner bekannt vorkam, ihn aber mit Wut und Zorn erfüllte. Er wollte einfach nur immer und immer wieder in diese Visage reintreten, es mit aller Kraft zermanschen.
Die Ratte stöhnte und begann scheinbar aufzuwachen. Wiesner hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Jungen zu fesseln; das war unnötig. Als die Schwuchtel einen Arm hob, holte Wiesner mit dem Knüppel aus und ließ ihn voller Wucht auf den Ellenbogen des Bürschchens niedersaußen.
Ein erstickter Schmerzenslaut kam hinter dem blutverschmierten Knebel hervor und Wiesner schlug nochmal zu.
„Schau mich an, Bürschchen, schau mich ganz genau an und halt dein Maul.“ Wiesners Stimme war zu einem bösen Zischen gesenkt, voll von Wut und Zorn.
„Ich hab hier einen Knüppel und mindestens zehn Minuten Zeit.“ Wiesner zwinkerte als die Ratte ihn mit großen Augen anstarrte. Sie versuchte wieder einen Arm zu heben und schüttelte heftig den Kopf. Wiesner hob die Augenbrauen und schlug der Ratte erneut auf den Ellenbogen. Diesmal knackte irgendetwas vernehmlich, die Ratte stöhnte auf und verdrehte die Augen.
Der bullige Mann ohrfeigte den schmächtigen Jungen mehrmals.
„Bleib wach, Bürschchen, oder es wird noch schlimmer!“ Die Augen der Ratte flackerten, sie schüttelte wieder den Kopf und versuchte irgendetwas durch den Knebel hindurch zu rufen. Aber wenigstens hielt sie jetzt ihre Arme still. Wiesner war fast zufrieden.
„Maul, hab ich gesagt.“ Das unterdrückte Schreien verstummte, als Wiesner mit der Knüppelspitze in Richtung der blutenden Nase zielte.
„Also, Sissyboy, ich hab eine einfache Frage für dich, eine einfache Frage auf die du nickst oder den Kopf schüttelst.“ Er unterstrich das Gesagte durch leichten Druck mit der Faust in die Leistengegend.
„Wenn ich merke das du lügst, verbringst du dein weiteres Leben als richtige Lady, nich' nur als Ladyboy!“ Wiesner lachte dreckig, er mochte seinen Humor.
„Aber wenn du die Wahrheit sagst, Bursche“, Wiesner drückte zu, die Ratte kreischte hinter dem Knebel, „dann kannst du weiter ne Schwuchtel bleiben.“
Das verhasste Gesicht der Ratte verzog sich voller Schmerz und sie drohte wieder ohnmächtig zu werden. Wiesner ohrfeigte sie wieder.
Er schüttelte den Kopf. „Du bist vielleicht 'ne Memme. Also, zur Frage: Ich hab hier diesen wunderbaren Plan. Und da dachte ich mir, zum Schluss hockt die Ratte gerade in ihrer Zelle und freut sich, dass sie eine richtige Ratte ist; dass sie womöglich irgendeinem der grünen Wichser hier erzählt hat, ich wäre auf dem Sprung. Aus so niederträchtigen Gefühlen wie Rache vielleicht. Und das ist die Frage, du Weichei, hast du irgendjemandem von dem Plan erzählt?“
Die Ratte begann wieder erstickt zu rufen und wollte beide Arme heben. Doch Wiesner holte aus und traf die Ratte mit dem Knüppel auf dem rechten Auge, das zerplatzte und weiße Flüssigkeit unter das herausfließende Blut mischte. Wiesner spuckte fast als er die Ratte anschrie:
„Halts Maul, halts Maul! Nur ein Nicken oder ein Schütteln deines kleinen Frettchenkopfes oder dein anderes Auge kommt auch noch dran!“
Die Ratte beruhigte sich wieder und starrte Wiesner aus ihrem verbliebenen, verweinten Auge traurig an.
„Also, hast du was erzählt? Denk an deine Eier!“ Wiesner wurde ungeduldig, die Zeit verging zu schnell.
Die Ratte schaute ihn nur traurig an, doch dann hob sie leise wimmernd ihren Kopf und schüttelte ihn sacht. Wiesner war zufrieden. Er glaubte nicht, dass die Schwuchtel ihn anlog, er war ein Menschenkenner. Also würde ihm auf seinen weiteren Weg nichts behindern; er würde einfach rausspazieren und im Dunkel der Nacht verschwinden.
Ein Glücksgefühl durchzuckte ihn. Endlich, nach so langer Zeit in diesem langweiligen Drecksloch, bekam er nochmal eine Chance, auf den Putz zu hauen. Und die Chance würde nutzen. Exzessiv.
Wiesner fletschte die Zähne und sah auf die zerschlagene, blutende Ratte hinab, ein Funkeln in seinen Augen. Zwar störte ihn diese Bekanntheit, diese Vertrautheit mit den Gesichtszügen der Schwuchtel immer noch, doch gleich würde es sowieso egal sein. Gleich würde nichts mehr übrig sein von dieser Nagetierfresse.
Nur noch wenig Zeit. Wiesner hob den Knüppel und fing an.
Drei Minuten später war ein notdürftig gesäuberter Wiesner aus der Tür getreten und in Richtung der Verbindungstüren zum Ausgang des Zellentrakts verschwunden.
Er hatte keine anderen Wärter mehr getroffen, was gut für sie war, war vor jeder Tür stehengeblieben, hatte auf den Zettel gesehen und den zugehörigen Code eingegeben. Und so war er erst in den Keller und dann, dem gezeichneten Plan folgend, durch einen alten Feuernotausgang in den danebenliegenden stillgelegten Kanalisationsabschnitt gelangt. Das erste was er roch, als die Gefängnistür hinter ihm ins Schloss fiel, war alte Scheiße.
Laut Plan gab es nur einen Ausgang aus den alten Tunneln und dort würde jemand warten. Zwar nicht auf Wiesner, aber das war ihm egal. Er hatte seine Überzeugungsmethoden, der Jemand würde schon akzeptieren, dass nicht die Schwuchtel sondern er gekommen war. Und wenn nicht? Na ,dann eben nicht.
Nun stand Wiesner an der Leiter die zur Freiheit führte. Er schaute auf die Uhr. Noch lag er gut in der Zeit, er hatte sogar noch eine Viertelstunde Zeit sich so weit wie möglich vom Knast zu entfernen, bevor das Kamerasystem wieder aktiviert und die Abwesenheit zweier Wärter entdeckt würde. Wiesner freute sich schon auf die Presse in den nächsten Tagen, die er sich im Bett liegend und Champagner schlürfend von Jenny bringen lassen würde. Jenny war zwar eine Schlampe, aber vor 20 Jahren, als er wegen Doppelmordes in den Knast ging, hatte sie ihm ewige Liebe geschworen und ihm gesagt, er könne immer zu ihr zurückkehren. Auch bei ihren zahlreichen Besuchen hatte sie das immer wieder gesagt. Wiesner verließ sich drauf.
Er stieg die Leiter empor und drückte von unten gegen den Kanaldeckel. Als erstes wollte er nicht nachgeben, doch dann, als Wiesner all seine Kraft einsetzte, bewegte er sich langsam nach oben und Wiesner konnte ihn zur Seite schieben.
Helles Mondlicht ergoss sich in den dunklen Schacht und Wiesner roch zum ersten Mal die sanfte Sommernachtsluft, was ihm eine Gänsehaut verursachte. Er schob sich aus dem Loch heraus und sah sich vorsichtig um.
Ein blauer Kleinwagen war neben dem Kanaldeckel geparkt und eine kleine Gestalt lehnte daran, doch als sie Wiesner bemerkte, stieß sie einen leisen Schrei aus.
„Kaiii! Mein Gott, Kai!“
Jenny stürzte sich in Wiesners Arme, drückte ihren Kopf an seine riesigen Brustmuskeln und schluchzte laut. „Mein Gott, oh mein Gott! Zwanzig Jahre. Oh, Kai, ich hab' dich so vermisst!“
Wiesner war perplex, was er nicht oft war. Irgendetwas rumorte in seinem Hinterkopf, ein Gedanke, gerade noch in einer blutigen Geburt, doch schon seltsam klar, aber noch zu verschwommen um ihn richtig scharf wahrzunehmen.
„Jenny?“ fragte Wiesner ungläubig. „Was zum Teufel machst du hier?“
Jenny hob den Kopf und lächelte Wiesner von unten herauf an. Sie war alt geworden, und dick. Wiesner ekelte sich.
„Oh Kai, mein geliebter Kai!“ Sie lachte laut auf, ein glockenhelles Mädchenkichern, dann nahm sie seine beiden Hände zwischen die ihren, sah wieder zu ihm hoch und dann zu dem in der Straße gähnenden Loch.
„Wo bleibt denn Jens?“ fragte sie und blickte Wiesner in die Augen.
Wiesner war benommen. Er verstand die gesamte Szene immer weniger und er ahnte, dass er sie nicht verstehen wollte. Irgendetwas hier lief falsch.
„Oh, was er alles für dich getan hat! Der gute Junge!“ Jenny strahlte zu ihm hoch, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
In Wiesner schwang etwas an, etwas ungutes.
„Weißt du was er getan hat? Hat er es dir erzählt?“ Sie drückte seine Hände, während sich ihr Blick voll Stolz verklärte. Sie warf beide Arme um ihn und zog ihn zu sich herab.
„Oh Kai, er hat sogar einen Menschen für dich getötet. Nur für dich. Damit er in die selbe Anstalt kommt wie du!“ Sie flüsterte ihm heiser ins Ohr. „Und sein Plan, oh Kai, der Junge kann so gut mit Computern!“
Wiesner wurde schlecht. Er wollte etwas sagen, wollte Jenny zum Schweigen bringen, ihr Einhalt gebieten, das verhindern was jetzt kommen würde. Doch er wusste, es würde ihm nicht gelingen. Das Unheil war schon eingetroffen. Der Zug hatte ihn bereits überfahren, nur sein Gehirn wusste noch nichts davon.
„Ich hab dir nie was erzählt von ihm! Zwanzig Jahre lang, doch er wollte dich unbedingt befreien aus dem Knast!“
Jenny küsste Wiesner auf den Mund.
„Er ist so klug wie du, zwar nicht so groß und stark, aber genauso klug! Wie der Vater so der -“
Das letzte Wort blieb ihr im Mund stecken, als Wiesner sie von sich wegstieß. Er riss den Schlagstock aus seiner hinteren Hosentasche, holte aus und schlug ihn mit aller Gewalt auf den Jennys Schädel.
Sie ging auf die Knie, Wiesner holte wieder aus und drosch ihr den Knüppel erneut auf den Kopf. Der mit Blut und Hautfetzen verdreckte Gummistab brach den Knochen unter sich. Doch Wiesner hatte noch nicht genug. Ein Schlag, noch einer, immer wieder sauste der Knüppel auf und ab, traf Jenny so oft im Gesicht, dass nichts mehr von ihrer alternden Schönheit übrig blieb, bis sie ihrem Sohn glich, den Wiesner genau so zugerichtet hatte. Ihren Sohn.
Wiesner wischte sich Blut und Schweiß von der Stirn, griff der toten Jenny in die Tasche, nahm die Autoschlüssel heraus und setzte sich in den blauen Kleinwagen.
Er startete den Motor, schaltete den Radio ein und fuhr leise zur Popmusik summend in den heraufdämmernden Morgen.