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Der Tod ist ein kleines, grünes Insekt
Wir begreifen uns als Herren der Welt. Doch es gibt eine Macht, mit der wir nicht mehr gemein haben, als denselben Raum zu nutzen: Insekten. Sie können sich wie keine anderen Lebewesen verändern, neue Spezies hervorbringen. Langsam richtet sich ihr kollektives Bewusstsein auf uns als Feind.
Es sind kleine Wunden, die wir uns nicht erklären können und für harmlos halten.
*
Ich liege am Fuß dieses Baumes und denke über meine Misere nach. Vorsichtig schaue ich zur Seite. Etwas, das wie ein Grashüpfer aussieht, sitzt auf einem Halm, der durch eine schwache Brise hin- und herschwankt. Das Insekt ist gut getarnt und einige Meter entfernt. Es wundert mich, dass mein Augenmerk sofort darauf gefallen ist. Wahrscheinlich will ich mich nur von dieser blöden Situation ablenken.
Obwohl sich die Hitze an diesem Tag in Grenzen hält, es ist schließlich Frühling und noch kein Sommer, bildet sich Schweiß auf meiner Stirn und dem ganzen Körper. Weht der Wind über meine Haut, dann schmerzt es leicht.
Ich bin einundzwanzig Jahre alt und eigentlich kein Kind mehr. Trotzdem fand ich es spaßig, auf diesen vermaledeiten Baum zu klettern. Was wollte ich da oben?
Ich sah Susannes Gesicht und konnte mich nicht mehr halten. Sie hockte auf einer Astgabel. Es ist unmöglich. Ein lange verzögerter Schock?
Ein Blick zur Seite offenbart mir, dass der Hüpfer näher gekommen ist. Von Sprüngen kann keine Rede sein. Er krabbelt eher unbeholfen durch Gestrüpp und Gräser, wobei das Tier erhöhte Aussichtspunkte ansteuert. Wozu? Um mich im Auge zu behalten, weil es mich fürchtet? Aber… es kommt auf mich zu. Mit zwei Fingern könnte ich es zerquetschen. Jedes Kind könnte das. Nur im Moment kann ich es nicht.
Mir gelingt es, meine Augen auf etwas anderes zu richten: der erste Ast. Wieso konnte ich mich nicht halten? Es ist lächerlich, aber ich fühle mich taub. Mir kommt das undenkbare in den Sinn: Bin ich querschnittsgelähmt? Wegen einem winzigen, ganz und gar unbedeutenden Leichtsinn?
Das kleine, grüne Insekt zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es schaut mich an. Kann ein Insekt neugierig sein?
Oh Gott! Es ist wie ein Speer, der sich durch meinen Körper bohrt. Ein Kloß hat sich in meinem Hals gebildet und das Atmen fällt mir schwer. Die Hitze verbrennt mich von Innen heraus. Das ist das Ende.
*
Ich sehe sie: Susanne. Ihren Blick zu Boden gerichtet steht sie da. Ich kann ihren Umriss nicht klar erkennen. Sie strahlt Wärme aus, die mich einhüllt. Als sie aufblickt und ein schüchternes Lächeln zeigt, überkommt mich ein mächtiges Gefühl. Ich liebe sie! Nur mühsam kann ich mich von ihr abwenden. Eine so graue Maus will ich nicht. Ich kann viel bessere bekommen.
Es ärgert mich gewaltig, dass sie solche Gefühle in mir weckt. Ich will das nicht! Also ärgere ich sie, hänsle sie, quäle sie.
Ich bin verwirrt: Das ist vier Jahre her. Dennoch sehe ich sie vor mir. Ich fühle mich ihr nahe und möchte sie berühren. Es ist unmöglich. Mukoviszidose hat sie vor einige Wochen in das kalte Reich der Toten gezerrt.
*
Nur mühsam kann ich meine Augen öffnen. Das kleine, grüne Insekt läuft über meine Finger. Ich will es vertreiben. Meine Hand, sie will sich nicht bewegen, aber ich kann meinen Ringfinger krümmen. Es lässt von mir ab; widerwillig wie mir scheint.
Ich konnte meinen Finger bewegen. Das bedeutet: Ich bin nicht gelähmt!
Unter stechenden Schmerzen und großen Anstrengungen versuche ich so viele Muskeln anzuspannen wie es geht. Es ist mir möglich, meinen Fuß etwas zu drehen. Ich bin ausgelaugt.
Ein Stich! Mir ist schwummerig, doch ich erkenne, wie sich dieses grüne Vieh an meinem Unterarm zuschaffen macht. Dort ist schon eine rote Stelle entstanden, die schmerzt. Aus Reflex will ich das Tier abschütteln und bereue es sofort. Wie glühender Draht, der durch meinen Arm bis in den Brustkorb gestochen wird, fühlt es sich an. Muskeln verkrampfen sich und ich bekomme kaum Luft. Instinktiv versuche ich meine Lage zu verändern und die Schmerzen beginnen sich durch meinen Körper zu bewegen. Wellenartig. Es ist, als ob sich Strudel bilden, die mich in der Mitte durchdringen und zerreißen. Sie lösen sich auf und bilden sich erneut in meinem Kopf oder in den Beinen. Als befände ich mich in einer Badewanne während die Erde bebt, nur ertrinke ich in Schmerz statt im Wasser.
Ich versuche ganz still zu liegen, solange das Gewitter in meinem Inneren gnadenlos weitertobt. Mein Gefühl gaukelt mir vor, dass ich die Lage verändern muss, damit es mir besser geht. Ich bleibe standhaft. Es ist schwierig das Stöhnen zu unterdrücken, das den Kloß in meinem Hals weiter verhärtet.
Den Tränen lasse ich freien Lauf. Warum auch nicht? Niemand sieht es.
Die Bewegungslosigkeit, in der ich seit geraumer Zeit verharre, zeigt Wirkung. Die Schmerzen wüten nicht mehr so stark. Gedanken an meine Rettung erheben sich gegen meinen Willen. Was passiert, wenn mich übereifrige Helfer hochheben wollen? Ich kann nicht reden. Aber kann ich sterben, wenn die Schmerzen unerträglich werden? Das mit Hilfe meiner geistigen Kräfte herbeiführen? Sie sind das Letzte, was mir noch geblieben ist.
Etwas bewegt sich an meiner Wange. Ein leichter Geruch erreicht meine Nase und Schrecken durchfährt meine Glieder, lässt die Muskeln verkrampfen. Der Schmerz sendet wieder seine Spitzen gegen mich. Doch ich bekomme mich in den Griff und die neuerlichen Attacken beginnen abzuklingen. Das Insekt hat sich ruhig verhalten und abgewartet. Es wird zu einer bitteren Erkenntnis, dass meine Tränen das Tier anlocken. Es krabbelt auf mein Auge zu.
Ein Stich im Augenwinkel lässt meine Gesichtshälfte zusammenzucken. Es ist wie eine heiße Nadel, die sich immer tiefer bohrt. Mein Auge brennt und tränt zugleich. Auch zähere Flüssigkeit bewegt sich die Wange hinunter. Für das Insekt ist sie kostbar. Ich spüre, wie es sie mit den Kauwerkzeugen aufsammelt.
Ich begreife, dass ein lahmes, kleines Insekt mein Auge auffrisst, während ich bei vollem Bewusstsein daliege. Ich will, nein, ich muss schreien, mit Armen und Beinen um mich schlagen und treten. Aber da ist das kleine Männchen in mir, das sagt: „Beweg dich ruhig. Das wird lustig! Und wenn dir das Insektchen das Auge ausfressen will… zum Brüllen.“
Das einzige, was ich tue, ist schwer zu schlucken. Die Reaktion des Feindes in meinem Inneren ist die Vergrößerung des Kloßes in meinem Hals. Aber auch das überstehe ich. Das Brennen im Auge weicht der Taubheit. Stoisch halte ich meine Position.
Es beginnt kälter um mich herum zu werden. Mein Blick ist getrübt, aber meine Ohren sind in Ordnung. Ich höre Wispern – ein wenig wie der Wind. Meine Retter nahen. Unversehens stehen sie um mich herum. Sie flüstern miteinander, versuchen aber nicht, mich zu berühren oder gar hochzuheben. Einer entfernt das Insekt mit einem Handstreich. Es ist mir peinlich, dass ich diese einfache Aktion trotzt größter Anstrengung nicht zustande gebracht habe.
Mit einem Wimpernschlag sind die Leute verschwunden. Sicher holen sie Hilfe.
Aber… Susanne, sie ist da! Herunter gekommen vom Baum. Irgendwas stimmt nicht. Sie befindet sich knapp außerhalb meiner Sichtweite, da bin ich mir sicher. Ich kann ihre Liebe spüren. Ich kann das Rascheln hören.
Das Insekt an meinem Gesicht regt sich wieder. Ich verstehe das nicht.
Die Blockade in meinem Hals ist schwächer geworden. Ganz vorsichtig drehe ich meinen Kopf. Ich sehe nicht Susanne, meinem Glück, sondern unzähligen kleinen, grünen Insekten in die Augen.