Was ist neu

Der Tod und das Mädchen

Mitglied
Beitritt
24.03.2005
Beiträge
6
Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Der Tod und das Mädchen

Die Schwerelosigkeit umfaßte sie vollends, und ein langer, dunkler Tunnel tat sich vor ihr auf, den sie unwillkürlich durchschwebte. Es ließ sich nicht einschätzen, wie lange sie bereits der Ungewißheit entgegensteuerte; sie versuchte zu bremsen, aber jegliches Körpergefühl war von ihr gewichen. Verängstigt wollte sie schreien, aber eine Stimme hatte sie nicht mehr. "Du bist nicht mehr auf dieser Welt!" durchfuhr es sie. Es war nicht ihr eigener Gedanke. "Wo bin ich? Wer bist du?" fragte sie. "Du bist hier im Jenseits, und ich bin das Nichts." Die fremde Stimme ließ sie erschaudern. "Ich bin doch nicht etwa ... tot?" Aber warum ich? Warum ich? Ich bin doch erst fünfzehn Jahre alt!" schrie es tonlos aus ihr heraus. Das Nichts wartete einen unendlichen Augenblick. "Bitte gib mir eine Antwort! Ich muß es wissen!" Endlich durchbrach das Nichts ihre starken Angstgefühle. "Sieh her: Es sind immer die Guten, die wir zuerst zu uns holen; ich meine damit die Menschen, die ihren Mitmenschen zeitlebens geholfen haben. Du bist brav in die Schule gegangen, hast deinen Mitschülern bei den Aufgaben geholfen, du hast den Haushalt für deine berufstätige Mutter geführt und dein sterbenskrankes Brüderchen bis zu seinem Ableben - und zu seiner Ankunft bei uns - rührend gepflegt. Immer hast du dich für andere eingesetzt, ohne selbst etwas davon gehabt zu haben. Betrachte dir beispielsweise deine Großeltern: Deine Großmutter hat ihr kleines Kind, also deine Tante, die du nie kennenlernen durftest, im Säuglingsalter mit einem Kissen erstickt, weil sie ihr Geschrei nicht ertragen konnte. Dieser Mord wurde nie aufgeklärt. Dein Großvater war übrigens in seiner Vergangenheit Ortsgruppenleiter bei der NSDAP. Auf seinen Befehl sind einige tausend Menschen aus eurer Stadt in die Konzentrationslager abtransportiert worden. Beide haben sich schwer an der Menschheit vergangen. Deshalb werden wir sie in ihrem Altenheim am Leben belassen, so lange es ihre körperliche Verfassung noch zuläßt." Allmählich verwandelte sich ihre Furcht in Nachdenklichkeit. "Es ... war ... vorherbestimmt? Ich sollte zu euch kommen?" "In der Tat", sagte das Nichts, und es hinterließ einen väterlichen Eindruck. "Aber wo sind die anderen? Mein kleiner Bruder, meine Tante, mein Hund?" Plötzlich ging in der Ferne ein helles Licht auf, das sich auf sie hinbewegte. "Du bist nun eine von uns. Sie sind alle hier, sie erwarten dich, und sie freuen sich auf dich."

 

Der Autor schrieb folgenden Kommentar zu seinem Beitrag:

Oft wird uns gesagt, wir hätten nur dieses eine Leben. Was danach kommt, möge man entweder der Religion oder der Phantasie überlassen. Die folgende Kurzgeschichte stammt aus dem Jahre 1992.

 

Naiv...

Hey StevieRed!

OK, erst die negativen Dinge (die in meinen Augen leider überwiegen bei dieser Geschichte):
- Eigentlich ist hier nur ein Gedanke (nämlich dass die Guten als erstes gehen müssen) ausgemalt/erzählt/beschrieben, wie auch immer
- Außerdem ist das Ganze ein bisschen kitschig, auch wenn es vielleicht tatsächlich passiert. Aber ein bisschen mehr Differenziertheit gehört wohl in die Rubrik "Philosophisches" doch rein, meinst Du nicht?
- Beide Kritikpunkte zusammen genommen erscheint mir die Geschichte naiv.
- Die Todeserfahrung - im speziellen das aufgehende helle Licht - erscheint mir doch sehr klischeehaft, ist aber Geschmacksache.

Positiv sind mir trotzdem einige Dinge aufgefallen:
- Die Geschichte ist zwar einfach, aber sauber formuliert.
- Außerdem ist der Gedanke nicht ganz reizlos, dass der Tod evtl. so etwas wie eine Belohnung sein könnte (und das ist irgendwie eine Folgerung, die man aus der Geschichte ziehen könnte)

Ja, jetzt weißt Du meine Meinung und vielleicht kommen ja noch mehr hinzu...

Viele Grüße!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom