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Der Tote
Der kleine Junge hielt zitternd die Hand seiner sterbenden Schwester. „Ich werde ihn finden, und ich werde Dich rächen, Alkmaina, das schwöre ich Dir!“ Die geschändete junge Frau nickte, aber ihr tränenloser Blick war müde und teilnahmslos. Eine Weile noch starrte sie in die Dunkelheit. Dann brachen ihre Augen.
Der kleine Junge weinte.
...........
Missmutig schlürfte Orn sein schales Bier. „Verdammte Pferdepisse“, grunzte er angewidert. Diese Taverne war wirklich die letzte Spelunke, sogar an seinem eigenen Standard gemessen. Es stank nach Schweiß, Urin und altem Fleisch, das in ranzigem Fett gebraten wurde. Der Ruß der unablässig brennenden Fackeln hatte die Decke schon vor Jahren geschwärzt, und das Stroh auf dem Fußboden schimmelte in den Ecken.
Die wenigen Trinker, die sich hier versammelt hatten, wirkten ebenso so heruntergekommen und dreckig wie die Schenke. Sie soffen das widerliche Bier, grölten Soldatenlieder und spielten Würfelspiele mit verklebten, wahrscheinlich gezinkten Würfeln. Hin und wieder warf jemand den Schankmädchen, die überraschend wenig Kleidung am Leib trugen, ein paar Kupfermünzen zu. Dann verschwanden sie entweder mit einer von ihnen in dem miefigen Hinterzimmer, oder sie forderten sie zu einem barbusigem Tanz auf den klapprigen Tischen auf.
So hatte wenigstens jeder etwas davon.
Orn hatte schon zu viele solcher Schenken gesehen. "Na, wenn ich die Wahl hätte...", dachte er grimmig. Hatte er aber nicht. Er war ein Dieb, ein Frauenschänder und ein Mörder. Hier war er unter seinesgleichen und hatte von der „Staatsgewalt“ nichts zu befürchten. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine dünnen Lippen. „Die Staatsgewalt! Die königliche Wache ist doch zu bescheuert, ihren eigenen Arsch zu finden, und wenn er sie beißen würde“.
Erneut wollte er den Humpen an die Lippen heben, aber der war inzwischen an den schmierigen Fettresten auf dem Tisch festgeklebt. Kräftig riss er ihn hoch. Der Humpen schoss, plötzlich frei, an seinem Gesicht vorbei und entleerte seinen Inhalt auf Orns Hintermann. Der sprang auf wie vom Teufel gebissen, fuhr herum und brüllte Orn an. „Ja, wer hat dir denn ins Hirn gefurzt, du Armleuchter! Ist das deine Vorstellung von einem Späßchen oder was?“
Ungläubig hob Orn sein Gesicht. Da war wohl jemand auf Ärger aus? Doch als er durch die rauchige Luft in das Gesicht des Empörten sah, feixte er nur und entblößte dabei seine schwarzen Zähne. Ein junges Bürschchen, keine zwanzig Jahre alt. Magierrobe. Nein, doch nicht: noch kein Magier, ein Lehrling.
Es machte keinen Unterschied, Orn verachtete die Magie so und so. Magie war Illusion. Hinterhältige Illusion. „Blödes Pack“, dachte er und antwortete dem jungen Mann herablassend: „Setz dich und halt dein Maul, sonst bist du deine Gedärme schneller los, als du bis drei zählst“. Orn wandte sich wieder ab, diese Drohung sollte bei einem Grünschnabel wie diesem genügen.
Statt dessen spürte er eine Hand auf seiner Schulter: „ Jetzt pass mal gut auf, du Ausgeburt einer Wildsau, du hast meinen Gildenmantel ruiniert! Wenn du das nicht zahlst, dann ...“ „Jetzt ist’s aber genug!“, zischte Orn. „Raus mit dir, sonst ...“ Zur Bekräftigung seiner Worte ließ er seinen langen Dolch aufblitzen. Doch der Magierlehrling hatte noch immer nicht genug. Er zog jetzt seinerseits einen Dolch und wedelte damit theatralisch vor Orns narbigem Gesicht hin und her. „Also gut, das kann er haben.“ dachte Orn.
Es war kein Kunststück, den Jungen zu töten. Der erste Stoß saß, kam von unten und riss sich seinen Weg durch den Bauch bis hoch zum Magen. Tödlich getroffen sank der Zauberlehrling zu Boden.
„Wahrscheinlich hat er versucht, sich an einen Abwehrspruch zu erinnern“ feixte Orn die anderen Gäste an, die nur mit den Schultern zuckten. Dann schüttete er den Rest seines Biers hinunter, zog sich seine Kapuze in die Stirn und verabschiedete sich. Der Wirt würde die Leiche schon irgendwie ohne allzu großes Aufsehen zu erregen loswerden. Darin hatte er ja schon Erfahrung. Gehobener Stimmung machte Orn sich auf den Heimweg, nicht, ohne dabei die Strassenmädchen aufzusuchen. Heute gefiel ihm keine, außerdem war er schon zu betrunken, um sie wirklich genießen zu können.
Zu Hause warf der den schwarzen Umhang ab und stolperte im Dunkeln in Richtung Schlafkammer. Gerade wollte er sich auf seine Strohmatratze werfen, als er im fahlen Mondlicht, das durch das kleine Fenster auf seine Bettstatt fiel, etwas wahrnahm. Ruckartig blieb er stehen. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
Da lag jemand auf seinem Bett! Den langen Dolch ziehend schlich er sich näher heran, bereit, beim kleinsten Mucks zu zustechen.
Dann lachte er laut und lerleichtert auf: Der Wirt hatte sich einen Scherz erlaubt, und ihm die Leiche des Zauberlehrlings ins Bett gelegt! Was für ein Kerl, dieser Wirt! Kopfschüttelnd zerrte er die Leiche am Bein aus dem Bett, so dass der Kopf des jungen Mannes mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden aufschlug. Orn fasste keuchend Atem. „Bin eben auch nicht mehr der Jüngste,“ brummte er und schleifte die Leiche vor die Tür. "werd' langsam weibisch." Und jetzt? In den Fluss damit, entschied er. Der war nah und würde den Toten schnell davon spülen.
Nachdem Orn sein Opfer beseitigt hatte, machte er sich pfeifend wieder auf den Heimweg. Normalerweise pfiff er nie, aber heute Nacht wollte er sich selbst ein wenig Mut machen. "Was für ein Kerl, der Wirt, einen schönen Schreck hat der mir eingejagt!"
Zum zweiten Mal in dieser Nacht betrat er seine Kammer. Noch immer grinsend über den gelungenen Scherz des Wirts wandte er sich seinem mondbeschienenem Bett zu.
Und schrie.
Da war sie, die Leiche, die er gerade dem Fluss übergeben hatte! Lag da, fahl und kalt, der Unterkiefer bis auf die Brust gesunken, die Augen starr geöffnet und der Leib klaffend und blutig! Orn standen die Haare zu Berge. Schwer atmend versuchte er sich zu fassen.
Voller Grauen trat er endlich näher an sein Bett heran: Vielleicht war es ja gar nicht die gleiche Leiche? Doch es gab keinen Zweifel: Die Leiche war die Selbe. Einen Augenblick lang wallte die Hoffnung Orn auf, es könnte sich um einen zweiten Scherz handeln. Aber nein, niemand konnte den Toten so schnell aus dem Wasser gefischt und ihn hier her gebracht haben. Das Wasser aus dem Haar der Leiche tropfte klopfend auf den Holzboden.
„Reiß dich zusammen, Orn! Schaff sie hier raus!“ machte er sich selbst Mut. Er war kein Weichei. Bestimmt lag es an seinem Rausch, wahrscheinlich hatte er den Toten noch gar nicht weggeschafft. Wahrscheinlich war er eingeschlafen, in seinem Suff. So musste es sein. Es gab ja keine andere Erklärung. An das Wasser denk ich einfach nicht! Sein rasendes Herz beruhigte sich langsam.
Entschlossen hievte er sich den kalten Leichnam erneut auf die Schultern, und trug sie aus dem Haus. Einmal hatte er das Gefühl, dass die Leiche auf seinen Schultern stöhnte. Er schob das auf den kalten Schreck, der ihm in die Glieder gefahren war. „Du benimmst dich wie ein altes Waschweib, Orn!“ sagte er sich. Keuchend schleppte er die Leiche weiter durch die Mondhelle Nacht.
Kaum stand er aber am Fluss, als er eine Bewegung auf seinem Rücken spürte. Eisenhart und kalt legten sich die Arme des Toten um seinen Hals. Das Grauen, dass Orn überkam, ließ ihn vollends zu Stein erstarren. Jetzt schlangen sich auch die Beine des Toten um seine Hüften. Ein kalter Hauch umspielte rhythmisch seinen Nacken und ließ seine Wirbelsäule gefrieren. Orn konnte nicht einmal schreien.
Dann hörte er leise, krächzend, eine Stimme an seinem Ohr.
„Mörder! Schänder! Dieb! Du hast die Welt zu lange heimgesucht! Du wirst in meinen Armen sterben, Orn, und ich werde deine Seele so fest halten wie ich dich jetzt umfange. Du bist mein!“
Die Kälte umfing Orn wie ein grauenvoller Mantel, der ihn langsam erstickte. Zitternd ging er in die Knie und fiel, Gesicht voraus, in den Flussschlamm. Dort blieb er liegen.
.......
Am nächsten Morgen wurde der Dieb, Frauenschänder und Mörder Orn „der Schlitzer“ von Mitgliedern der Wache am Fluss tot aufgefunden. Verkrampft wie in größter Seelenpein, aber ohne irgendwelchen äußeren Verletzungen, lag er allein im Schlamm. „Sieht aus, als ob er sich zu Tode gefürchtet hätte“ staunte ein junger Wachsoldat. Sein Vorgesetzter klopfte ihm schaudernd die Schulter und antwortetet: „Mein Junge, dieser Mann war so kaltblütig, dass es schlicht nichts gibt, wovor er sich so hätte fürchten können, dass er daran gestorben wäre." Man tippte auf Gift, aber eigentlich war man nur froh, dass die Welt von diesem Ungeheuer befreit worden war.
.....
Ein berühmter Zauberer, der die ganze Nacht den Königshof mit seinen Illusionen unterhalten hatte, verliess im Morgengrauen die Stadt. An seiner Seite ging sein noch sehr junger Lehrling. Der Zauberer kam nicht umhin zu bemerken, dass sein junger Begleiter sehr müde war, trotz der freien Nacht, die er sich gestern erbeten hatte.
Gleichzeitig aber schien eine schwere Last von seinen schmalen Schultern gefallen zu sein. Ja, er wirkte geradezu befreit.
"Woran denkst Du, junger Mann?" fragte er seinen Lehrling schliesslich neugierig.
"An meine Schwester, Meister. Und wie Stolz sie darauf wäre, dass ich schon jetzt recht schwierige Illusionen beherrsche."