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Der Träumende

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30.09.2010
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Der Träumende

PROLOG- 1996


Der Mann raste die schmale Straße entlang. Er wusste weder wie lange er schon fuhr, noch, wie lange er noch fahren würde. Er wusste nur, warum er fuhr.
Er musste der Realität entfliehen.

Wo er war, das wusste der Mann genau so wenig. Doch nichts hatte ihn je so wenig interessiert.
Einen Ort nach dem anderen hatte er hinter sich gelassen. Straße um Straße, Autobahn um Autobahn. Einfach weg.
Er bemerkte, dass die Nacht den Tag verjagt hatte. Seine Sicht wurde immer schlechter. Er schaltete die Scheinwerfer an.

Der Mann hatte nur eine Tasche bei sich. Gefüllt mit Kleidung und allen Papieren und Karten, die er brauchen würde. Und all dem Geld, was auf seinem nun geschlossenen Konto gewesen war.
Wenn er wollte, würde er überleben. Inkognito.
Wenn er wollte.
Bald würde das Benzin ausgehen.
Der nächste Ort war es also, ob nun vorerst oder für immer.


„Gasthaus am Meer“ stand auf dem vergammelten Schild, das einige Meter vor einem kleinen, schäbigen Häuschen aufgestellt worden war. Glaubte er zumindest, einige Buchstaben fehlten.
Wäre das Licht nicht gewesen, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass das Gasthaus noch in Betrieb war.
Der Mann parkte seinen Wagen.
Er stieg aus, holte seine Tasche, schloss den Wagen ab, ging über einige Tonnen Kies, die bis zum Haus aufgestreut worden waren und öffnete schließlich die Tür des Gasthauses.

Der Mann war angekommen. Fernab jeglicher Zivilisation wartete er darauf, dass die Realität ihm entfloh, seinen Körper verließ, damit er weiterleben konnte.
Denn mit der Wahrheit leben, das würde er nicht schaffen...

KAPITEL EINS - 2010


Zehn Jahre später bewohnte der Mann ein kleines Holzhaus, das, wenige Kilometer von jenem Gasthaus entfernt, in den Ausläufern eines kleinen Dorfes direkt an der Nortsee gelegen, das letzte Haus an der dorfeigenen Strandpromenade war, die aber, dort wo sich das Haus des Mannes befand, schon eigentlich nicht mehr Promenade genannt werden durfte. (ich entschuldige mich für den langen Satz)
Das Haus hatte der Mann von einer Frau in den Fünfzigern übernommen, die über die Fünfziger nie hinausgekommen war. Da es kein Testament gegeben hatte, das auf Verwandte hinwies, war das Haus zum Verkauf freigegeben worden. Und der Mann hatte zugegriffen. Schließlich war das die Möglichkeit gewesen, auf die der Mann gewartet hatte. Vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten lebte er von nun an ein einsames Leben. Um zu vergessen.

Zehn Jahre später hatte der Mann sein gesamtes früheres Leben, seine ganze frühere Identität, hinter sich gelassen. Der ehemals verhaltene, höchstens zwei Tage alte Bart war einem stattlichen Vollbart gewichen. Statt kurzen, addrett geschnittenen Haaren hatte auf seinem Kopf nun ein wahres Ungetüm von Langhaar-Frisur seinen zotteligen Platz.
Der Mann lebte allein von Zinsen. Wie eine Stiftung, oder ein Fußballverein wurde auch er allein von den Zinsen der gewaltigen Summe versorgt, die er hierher mitgenommen hatte.
Der Mann war früher ein hohes Tier bei einer großen Versicherungsfirma gewesen. Und wenn so ein hohes Tier sein Konto leerte, dann kam es an ordentlich Geld. Genug um ein neues Leben anzufangen, in dem er überleben konnte, ohne zu arbeiten.
Genug, um jenseits der restlichen Welt leben zu können.

Der Mann besaß kein Telefon, alle seine früheren E-Mail-Konten hatte er geschlossen. Fast niemand kannte seine Addresse. Und die, die sie hatten, kannten seinen richtigen Namen nicht.
Der Mann hatte es perfektioniert, inkognito zu überleben.
Man sagt, in einem Dorf kennt jeder jeden. Doch er war auch hier beinahe unbekannt geblieben.
Seit 10 Jahren hatte er keinen menschlichen Kontakt mehr gehabt, sah man einmal vom wöchentlichen Einkauf ab.
Nach 10 Jahren hatte er es geschafft, zu vergessen. Er hatte die eine Realität vergraben. Und eine neue, angenehme Realität erschaffen.
Er war bereit, neu anzufangen, ohne zu wissen, dass er es tat.
Doch wieder sollte es anders kommen.


KAPITEL ZWEI


Endlich lässt der Mann die letzten Ausläufer jener Stadt hinter sich, die Zeit seines Lebens eng mit eben diesem verknüpft war. Er blickt noch nicht einmal zurück, als das Schild mit dem durchgestrichenen Stadtsnamen kommt und geht. Unbeirrt fährt er weiter.
Es gibt kein Zurück.
Der Mann probiert, einen klaren Gedanken zu fassen, doch es gelingt ihm nicht.
Wieder und wieder tauchen die Bilder auf und der Mann bezweifelt, dass sie jemals gehen werden.
Er fährt schneller, um die Bilder zu vertreiben. Doch sie bleiben. Also lässt er sie gewähren.
Tränen rinnen sein Gesicht herab, während er das Lenkrad enger umfasst.
Der Mann schließt die Augen, wieder beschleunigt er. Und er wartet.
Wartet, bis der Tod ihn endlich hat. Bis er endlich erlöst wird.
Er öffnet seine Augen wieder, er muss büßen. Der Tod, das ist zu einfach.
Also fährt der Mann weiter. Die Augen geöffnet, der Blick starr nach vorn gerichtet.
Der Mann rast die schmale Straße entlang. Er weiß weder, wie lange er schon fährt, noch, wie lange er noch fahren wird. Er weiß nur, warum er fährt. Er muss der Realität entfliehen.


Langsam richtet sich der Mann auf. Schweiß benetzt seine Haut, überzieht seinen ganzen Körper mit einem unsichtbaren Film. Verwirrt nestelt er an seinem Laken.
Er richtet sich auf, steigt aus seinem Bett. Die Tür ist offen.
Schon wieder dieser Traum.
Der Mann geht ins Bad, er wirft kaltes Wasser in sein Gesicht. Im Spiegel will er sein Ebenbild betrachten, doch der Spiegel scheint nicht mehr zu funktionieren. Er sieht das Bad, doch sein Gesicht sieht er nicht. Der Mann nimmt sich vor, einen neuen Spiegel zu kaufen, während er ins Wohnzimmer geht.
Es gibt zwei Tische. Auf dem einen isst der Mann mittags und abends, auf dem anderen steht ein Käfig. In ihm ein Papagei. Kirsten heisst er. Der Mann geht auf den Käfig zu, doch was zum Teufel...
Ein Monster scheint Kirsten verspeist zu haben, um nun seinen Platz im Käfig einzunehmen.
Der Mann ist beleidigt. Er schnappt sich das Küchenmesser und sticht durch die Gitterstäbe auf das Monster ein. Zum Glück ist der Käfig klein. Den Kadaver schmeißt er in den Grünen Punkt.
Vielleicht kann man daraus ja noch was machen, denkt er.
Von dem ganzen Theater hat der Mann Hunger bekommen, also kippt er sich Buchstabensuppe vom gestrigen Tag in einen seiner zahlreichen Suppenteller und schlürft sie.
Plötzlich formieren sich die Buchstaben: IM MEER. steht da.
Interessiert geht der Mann zum Meer hinab, noch bevor seine Suppe aufgeschlürft ist. Es sind nur einige Meter bis zum Strand. Der Mann ist noch barfuss, viele Steine und Muscheln graben sich in seine Füße, die auf einmal zu brennen beginnen. Der Mann rennt schneller aufs Meer zu. Endlich spürt er den salzigen Griff des Wassers, der seine Füße umfasst. Jetzt erst bemerkt der Mann das Licht, was aus dem Meer hinausleúchtet.
Ein plötzlicher Gedanke durchzuckt ihn.
Da sind sie.
Und der Mann beginnt zu rennen, das Wasser hält ihn nicht mehr auf.
Er rennt, bis er nicht mehr stehen kann, dann schwimmt er weiter, bis zum Licht. Nach einigen Zügen ist er da. Der Mann lässt sich sinken. Das Wasser umspült ihn, alle Geräusche sind fort, alles Licht. Bis auf das eine. Langsam zeichnen sie sich ab, sie winken und rufen nach ihm.
Und er folgt ihrem Ruf. Endlich, endlich ist er da.


Langsam richtete sich der Mann auf, Schweiß benetzte seine Stirn, überzog seinen ganzen Körper mit einem unsichtbaren Film. Verwirrt nestelte er an seinem... wo war sein Laken? Wo war er?
Er schaute sich um: vor ihm ein Bett. Sein Bett. Warum lag er nicht darauf?
Warum um alles in der Welt lag er auf dem Boden? Vor seiner Tür.
Der Mann stand auf. Ein Blick auf seinen Wecker signalisierte ihm, dass er durchaus weiterschlafen konnte. 7:06. Doch der Mann öffnete seine Tür und ging ins Wohnzimmer.
Kirsten begrüßte ihn lautstark. Er sprach nicht, der Mann verabscheute sprechende Tiere. Tiere waren Tiere, sie waren nicht dazu bestimmt, die menschliche Sprache zu benutzen.
Doch krächzen konnte Kirsten und das stellte er wieder einmal unter Beweis.
Der Mann bemerkte, dass er Kopfschmerzen hatte. Sein Blick war getrübt, seine Gedanken schwirrten ohne Sinn und Verstand durch sein Gehirn, ohne feste Form anzunehmen.
Er nahm sich ein Glas Wasser, löste sich eine Aspirin.
Oh, wie sein Kopf doch schmerzte. Dumpf, und trotzdem irgendwie stechend. Er fasste sich an den Kopf. Und stöhnte auf. Er schien eine Beule zu haben. Eine schmerzhafte Beule, nicht allzu groß, aber doch...
Der Mann nahm noch eine Tablette. Überlegte und nahm noch eine. Dann zog er sich seinen Lieblingssessel heran und setzte er sich an den Küchentisch.
Was war in der Nacht passiert?

Während das Aspirin ein wenig seiner Wirkung erkennen ließ, sich der Blick des Mannes klärte und er langsam die ersten vernünftigen Gedanken erfassen konnte, begann er nach und nach, sich an den Traum zu erinnern. Es war ein merkwürdiger Traum gewesen, allmählich schwirrte eine Szene nach der anderen durch seinen dröhnenden und zugedröhnten Kopf.


Der Mann, wie er die Straßen entlangfuhr. Wie er eine Stadt verließ, wie hieß sie noch gleich? Dem Mann fiel es nicht ein. Er wusste nur, dass diese Traumsequenz auf irgendeine Art und Weise realer gewirkt hatte, als alles, was er bisher geträumt hatte.
Als wäre sie schon einmal real gewesen.
Die Erkenntnis erschlug den Mann fast. Richtig, das war die Nacht gewesen, in der er hierher gekommen war. In der er geflüchtet war vor seinem alten Leben. Aber warum war er geflüchtet?
Es fiel ihm nicht ein, wie intensiv er auch überlegte.

Dann dieser andere Traum. Merkwürdig war er gewesen, sehr merkwürdig. Der Mann lenkte seinen Blick auf den Käfig, um den mittlerweile verstummten Kirsten zu beobachten. Er lebte. Und er war kein Monster.
Was hatte er im Meer gefunden? Wer waren die Gestalten im Licht gewesen?
So viele Fragen und der Mann beschloß, sie unbeantwortet zu lassen. Sein Kopf schmerzte zu heftig, um sich mit solch unwichtigen Dingen zu beschäftigen.
Und es war ja doch nur ein Traum gewesen. Ein besonders unruhiger zwar, aber das konnte passieren. Auch Kinder stürzten manchmal aus dem Bett.

Der Mann übersah den Zusammenhang. Gerade er hätte es ahnen müssen.
Doch wahrscheinlich wollte er es nicht.

KAPITEL DREI

Der Mann schloss immer ab. Auch wenn nie auch nur eine Person hierher kam. Er schloss ab, Sicherheit war ihm wichtig. Deswegen war er hier.
Zweimal drehte er den Schlüssel im rostigen Schloss herum. Er ruckelte noch einmal an der Tür, sie blieb geschlossen. Es gab keinen richtigen Weg, der von seinem Haus wegführte. Es war eher ein Trampelpfad, der durch Gestein, Gestrüpp und Sand führte. Gestein, Gestrüpp und Sand. Wie an der gesamten Küste.
Den fließenden Übergang zwischen Trampelpfad und Strand bemerkte man eigentlich nur daran, dass sich langsam die Anteile der Küstenelemente verschoben. Mehr Sand, weniger Gestrüpp.
Feinen Sand gab es hier nicht. Einer von vielen Gründen, warum das Dorf kein Ferienparadies geworden war. Deswegen hatte der Mann immer feste Schuhe an, wenn er seinen Nachmittagslauf vollzog. Zwei Kilometer in die eine Richtung, zwei Kilometer zurück. Insgesamt drei Mal.
Die letzten beiden Tage hatte der Mann pausiert, eine leichte Erkältung hatte ihn aufgehalten, nun freute er sich schon wieder auf die Genugtuung, die ein abgeschlossener Lauf mit sich brachte. Er lief ganz dicht am Wasser, wo man am besten laufen konnte, da der Sand glatt war.
Die Aspirin hatten dann doch noch gewirkt. Mit recht freiem Kopf joggte der Mann, der schon auf die Fünfzig zuging, mit einem für sein Alter ordentlichen Tempo durch die Einsamkeit. Das Rauschen des Meeres und die gelegentlichen Tiergeräusche waren die einzigen Geräusche, die die ewige Ruhe hier durchschnitten. Nach einigen Minuten passierte der Mann das Kreuz, das er sich als Punkt auserkoren hatte, an dem er umkehrte.
Das Kreuz, das Totenkreuz.
Es war aus zwei einfachen Holzstücken gemacht. Amateurhaft, beinahe provisorisch. Dennoch war es von recht enormer Größe. Wer hatte es hier aufgestellt? Der Mann stoppte seinen Lauf und ging näher an das Kreuz heran, zum ersten Mal, wie ihm auffiel. Bisher hatte es ihn scheinbar einfach nicht interessiert.
Die beiden Holzstücke waren mit einem Nagel verbunden worden, der mittlerweile rostig war. Wie das Türschloss. Erst jetzt bemerkte er einen dünnen Pfeil, wohl mit einem Edding gezeichnet.
Der Pfeil deutete nach unten. Peter schaute auf den Boden. Da war nichts... nichts außer Gestein, Gestrüpp und Sand. Mit seinem Fuß scharrte er ein wenig Sand weg. Es raschelte. Er scharrte weiter, bis ein Stück Papier zum Vorschein kam. Er bückte sich, befreite das Papier vom restlichen Sand und hob es auf. Es war ein Brief. Der Mann überlegte kurz, dann riss er ihn auf.


† ALTES LEBEN †

20. 11. 1969 - 2. 08. 1996

In Abgeschiedenheit begraben, an eben jenem Ort, an dem ein neues entstand. Voller Sühne, ohne Schuld.
Bitte, lass mich dich vergessen.

Ruhe in Frieden.

Es war seine Schrift, sein Geburtsdatum. Das zweite Datum konnte gut und gerne das seiner Ankunft hier gewesen sein. Was hatte das zu bedeuten. Schuld, Sühne. Vergessen.
Es war sein Kreuz, soviel stand fest.
Verwirrt lief der Mann die zwei Kilometer zu seinem Haus zurück. Er beließ es bei der einen Runde.


Der Mann zog die Decke enger an seinen Körper, aber er fror immer noch. Er hatte die Tür aufgelassen. Doch er wollte nicht wieder aufstehen, um sie zu schließen, also blieb er liegen.

Er hatte den Rest des Tages damit verbracht, den neu gewonnenen Erkenntnissen irgendeins ihrer Geheimnisse zu entlocken. Er hatte gemerkt, dass er nicht mehr wusste, warum er hier war. Warum er so fluchtartig hierher gekommen war.
Von welcher Schuld war in seinem Brief die Rede? Warum sollte er sühnen? Was vergessen?
Doch kaum hatte er sich diese Fragen gestellt, da waren die Kopfschmerzen wieder gekommen.
Früh war der Mann ins Bett gegangen. Vorher hatte er noch einmal zwei Tabletten eingeworfen, die die Kopfschmerzen ein weiteres Mal verjagt hatten.
Übrig blieb ein mulmiges Gefühl, und die Beule, die langsam größer wurde. Der Mann übersah die Warnung, die die Beule mit sich brachte und schlief ein, um den Träumen die Tür zu seinem Bewusstsein zu öffnen. Bereitwillig traten diese ein.


Panisch wendet der Mann seinen Kopf vom Boden seiner Terrasse. Das, was auf ihr liegt, hat ihm so einen Schrecken eingejagt, dass ihm übel geworden ist. Der Mann übergibt sich in einen Blumentopf.
Er realisiert, wie alles passiert ist, wie alles passieren konnte.
Und mit eben dieser Erkenntnis beginnen seine Gedanken, sich zu ordnen. Die Furcht und Panik machen einer seltsamen Resignation Platz, gepaart mit der Entschlossenheit, die nur der besitzt, der nichts mehr zu verlieren hat.
Du kannst nicht verändern, was schon passiert ist. Aber du bist imstande, das zu verändern, was noch passieren wird.
Der Mann geht ins Haus, packt drei Taschen. Eine wird er brauchen, um neu anzufangen. Zwei weitere wird er in den See werfen.
Das beschliesst er, während er langsam die Haustür abschließt. Er schließt immer ab, auch wenn er nie wieder kommt. So wie jetzt.
Der See ist das Naherholungsgebiet seiner Stadt. Es ist immer voll hier. Bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit. Doch wenn man, wie der Mann, nachts kommt, dann ist es leer. Das kommt dem Mann zugute, während er leise seine Vergangenheit dem See übergibt. Seine Tränendüsen geben sich Mühe aus dem Süßwasser- einen Salzwassersee zu machen, während er sich für immer verabschiedet.
Dann verlässt der Mann den See- und mit ihm die Stadt, die Identität, sein gesamtes altes Leben, alles, was ihm je etwas bedeutet hat.
Ein letztes Mal befährt er all die ihm so bekannten Straßen, Erinnerungen überfluten ihn.
Dann, endlich, lässt der Mann die letzten Ausläufer jener Stadt hinter sich, die Zeit seines Lebens eng mit eben diesem verknüpft war. Er blickt noch nicht einmal zurück, als das Schild mit dem durchgestrichenen Stadtsnamen kommt und geht. Unbeirrt fährt er weiter.
Es gibt kein Zurück.

Dann wieder der andere Traum. Der Schweiß, das Nesteln. Der Mann, wie er aufsteht. Wie er ins Bad geht, sich kaltes Wasser ins Gesicht wirft. Der Spiegel ohne Spiegelbild. Wie er ins Wohnzimmer geht, das Monster sieht und tötet. Exakt derselbe Traum wie schon in der letzten Nacht. Die Buchstabensuppe, er folgt wieder der Nachricht.
Das Meer, der heisse Sand. Der kühlende Griff des Wassers, dann das Licht. Wieder kommt er an am Ziel, am Boden des Meeres. Und wieder wacht er auf, kurz bevor sich ihm die Wahrheit offenbart.

Wieder lag der Mann da, schweissdurchnässt und völlig verwirrt. Ein weiteres Mal wusste er nicht, wo er war, bis er merkte, dass er nass war. Und dass das Waschbecken seines Badezimmers überlief.


KAPITEL VIER


Der Mann kam nicht weiter, das Brett vor seinem Kopf war zu groß. Es war so wichtig, dass er die Lösung herausfand und es war so einfach. Doch der Mann kam nicht über den Fakt, dass er schlafgewandelt war, hinaus. Er hatte sich den mit Brettern zugenagelten Kopf zerbrochen, doch er schaffte es nicht, Traum und Realität in Verbindung zu setzen. Es war so simpel und jeder, wirklich jeder würde den Zusammenhang erkennen. Doch im Kopf des Mannes hakte etwas.
Der Fakt sollte und wollte nicht an die Oberfläche kommen. Noch nicht.

Der Mann durchsuchte seine Wohnung, kämmte sie von vorne bis hinten durch, um eine Antwort zu finden, irgendeine. Die Kopfschmerzen waren zurückgekommen, noch heftiger, doch er beachtete sie nicht. Er musste herausfinden, was los war. Er durfte nicht mehr verdrängen.
Doch so stark er es auch versuchte, so stark er auch nach etwas suchte, in seinem Haus wie in seinem Gehirn, die Wahrheit blieb ihm verborgen.
Nichts, er hatte nichts gefunden. Erschöpft ließ er sich in seinen Sessel fallen und ging ein weiteres Mal die Fakten durch, die er sich auf einen kleinen Zettel geschrieben hatte. Er notierte sich die Fragen daneben, die er beantworten musste.

1. Ich bin vor knapp 15 Jahren hierher gekommen, um zu „sühnen“. Irgendetwas schreckliches ist damals geschehen. ( Was war in den Taschen, was hat mich derartig erschreckt? Wer war ich?)
2. Ich lebe seitdem inkognito und habe mein altes Leben vergessen.
(Was war mein altes Leben, was habe ich vergessen? Wieso habe ich mich so abgeschottet?)
3. Seit 2 Tagen träume ich. Zwei Sequenzen. Einmal Vergangenheit. Einmal totalen Schwachsinn. Während diesen Sequenzen schlafwandle ich.
(Was hat es mit dem zweiten Traum auf sich? Warum träume ich diesen Schwachsinn immer wieder? Und wiese träume ich gerade jetzt von der Vergangenheit, die ich anscheinend vergessen wollte? Werde ich noch mehr sehen? Und wieso schlafwandle ich überhaupt?)

Es waren nur einige der Fragen, die er sich immer und immer wieder stellte und die er nicht zu beantworten wusste. Wer war er?
Die Antwort lag in seinen Träumen, der Mann ahnte, dass er den Grund für seine Panik in seinem nächsten Traum erfahren würde. Vielleicht würde sich dann alles erklären.

Doch war das, was er träumte, wirklich passiert? Oder war es genauso absurd und unwahr wie die zweite Sequenz?
Warum auch immer er es wusste, aber er wusste, dass es die Wahrheit war. Der Traum war zu real, das war ihm schon einmal aufgefallen. Die Gefühle, die er darin hatte, waren zu echt, zu präsent.

Der Mann musste abschalten. Er warf sich seine mittlerweile sechste Tablette ein, seine vorletzte, zog sich Trainingssachen an und joggte los. Er schaffte vier Runden. Mehr als üblich. Er wollte sich verausgaben, damit die Träume kamen. Damit die Antworten kamen.

Nach dem Duschen spürte er die Müdigkeit, die langsam seinen Körper einnahm. Es war erst sechs Uhr, doch der Mann ging schon lange nicht mehr spät ins Bett. Also ging er ins Schlafzimmer und zog seinen Pyjama an.
Während er sich langsam in seinem Bett verkroch und auf den Schlaf wartete, zerschmetterte er endlich das Brett vor seinem Kopf. Er wusste zu spät, was los war. Als er merkte, dass er nicht, unter keinen Umständen, einschlafen durfte, tat er es auch schon.


Als der Mann die Augen öffnet und den Boden der Terrasse spürt, da weiss er es schon fast. Als er das Messer sieht, das blutverschmiert auf dem Boden liegt, da bekommt er eine Ahnung, da beginnt die Wahrheit, über ihm hereinzubrechen.
Dann springt der Mann auf und rennt weg von der Terrasse. Durch den Garten, in den Wald. Er atmet tief ein, ganz tief. Er möchte noch einmal fühlen, was es heißt, frei zu sein. Unbelastet. Doch er schafft es nicht, denn die Wahrheit dringt weiter vor. Er rennt zurück zur Terrasse, er möchte sich vergewissern. Möchte endgültig wissen, ob er sein Leben für beendet erklären kann.
Er kann. Denn da liegen sie. Beide, mit panisch anmutenden Gesichtsausdrücken. Die Augen geöffnet, die Kleider zerfetzt und blutrot. Der Mann schließt die Augen der beiden. Dann schreit er laut auf. Er verzichtet darauf, nach einem Puls zu suchen. Es ist zu spät.
Panisch wendet der Mann seinen Kopf vom Boden seiner Terrasse. Das, was auf ihr liegt, hat ihm so einen Schrecken eingejagt, dass ihm übel geworden ist. Der Mann übergibt sich in einen Blumentopf.

Nach einer weiteren Sequenz, derselben wie immer, ohne Veränderung, gleichsam real wie surreal, wachte der Mann auf. Und wieder war da ein blutverschmiertes Messer, wieder spürte er das Grauen, bevor er sich wieder vergewisserte.
Zwei Meter vom Küchentisch, auf dem er aufgewacht war, einen Suppenteller voll kaltem Wasser vor sich, stand der Vogelkäfig. Kirsten lag auf dem Boden, tot. Durchstochen. Wie das Monster in seinen Träumen.
Er war wieder geschlafwandelt. Und er hatte seinen Vogel dabei umgebracht. So wie er damals seine Frau umgebracht hatte, seinen Sohn.
Im Traum. Er hatte sie alle im Traum getötet. Und er war geflohen, damit er niemandem mehr Leid zufügen konnte in seinen unberechenbarsten Stunden. Damit er vergessen konnte.

14 Jahre lang hatte er vergessen und er war fast am Ziel angekommen.
Sein Oberbewusstsein hatte all das verdrängt, was verdrängt werden sollte. Doch unterbewusst hatte der Mann alles gewusst.
Bis jetzt, dem Zeitpunkt, an dem die Wahrheit wieder in sein Oberbewusstsein vorgedrungen war.
Die ganze Wahrheit.
Seine alte Realität war wieder da, hatte seine neue verjagt. Der Mann war wieder er selbst. Das durfte nicht sein.
Erik öffnete seine Schlafzimmertür und seine Terrassentür. Er räumte alle Gegenstände, die ihm eventuell im Weg stehen könnten, beiseite. Als letztes stellte er das Wasser sowie den Strom ab und entsorgte Kirsten mitsamt dem Messer, das ihn getötet hatte. Buchstabensuppe hatte der Mann nicht.
Er legte sich schlafen. Und hoffte.

Würde es einen Beobachter geben, so würde dieser einen Mann sehen, der um 6:45 mitteleuropäischer Zeit in einem kleinen Schlafzimmer in einem kleinen Haus in einem kleinen Dorf in Norddeutschland erst ein wenig an seinem Laken nestelt, dann aufsteht und schließlich ins Bad geht. Der Beobachter würde bemerken, wie irritiert der Mann in den Spiegel schaut, während er sich Luft ins Gesicht wirft. Er würde dem Mann in die Küche folgen, sich wundern, warum der Mann gegen einen Käfig ohne Vogel haut. Warum der Mann sich einen Suppenteller schnappt und den Wasserhahn aufdreht, ohne dass Wasser hinauskommt. Was das für ihn Unsichtbare ist, was der Mann in den Teller zu schütten scheint. Und wieso der Mann plötzlich, während er die illusionäre Suppe schlürft, abrupt aufsteht und den Raum verlässt. Das Haus. Und diese Welt.

Erik öffnet ein letztes Mal seine Augen. Geht sicher, dass das Wasser ihn wirklich umgibt. Dass es wirklich kein Traum ist. Dann lässt er sich weiter sinken. Wie im Traum- und doch anders. Denn es gibt hier kein Licht. Nur Erlösung.

 

Hallo PsychoStern!

Willkommen auf kg.de.

Auch wenn dein Text nicht übermäßig viele RS-Fehler beinhaltet, solltest du doch zumindest eine automatische RS-Prüfung drüberlaufenlassen. So Dinge wie "Nortsee" gehen dem Leser richtiggehend an die Nerven!

Deine Bildsprache solltest du noch ein wenig schleifen.
"ging über einige Tonnen Kies, die bis zum Haus aufgestreut worden waren" => Das liest sich, als liegt da ein riesiger Berg vor der Tür.

(ich entschuldige mich für den langen Satz)
=> Was soll das sein? Wir wollen hier nur deine Geschichte lesen, sonst nichts. Ich habe übrigens nichts gegen lange Sätze; sie müssen aber gut klingen, gut zu lesen sein. Der, auf den du dich beziehst, ist scheußlich, sorry. Unbedingt abändern. "Das Haus ist das letzte Haus, aber dort, wo sich das Haus befand" ... => Ernsthaft, das macht doch nicht wirklich Sinn, findest du nicht auch?

Allgemein rate ich dir, zu kürzen, und dich auf das Wesentliche zu beschränken. Es ist doch vollkommen egal, welche Frau da ein Testament gehabt hat oder nicht. Er hat sich ein Haus gekauft. Punkt. Der Rest ist nicht relevant für deine Geschichte, also weg damit!

"ein hohes Tier bei einer großen Versicherungsfirma gewesen. Und wenn so ein hohes Tier" => Solche begrifflichen Wiederholungen hast du oft im Text. Das kann man ein-, zweimal machen, aber auf Dauer nervt das den Leser, sorry.

"Seit 10 Jahren hatte" => Zahlen schreibt man in literarischen Texten immer aus, solange es nicht unübersichtlich wird.

Okay, ich komme gerade zu Kapitel zwei, und da steht nochmal genau dasselbe, was du schon im Prolog und Kapitel eins geschrieben hast. Mensch, diene Leser sind nicht blöd. Du brauchst nicht alles zehnmal erzählen!

Und bitte, gib deinem Protagonisten eine anderen Bezeichnung als immerzu "der Mann". Wenn man das hundertmal gelesen hat, beginnt das langsam zu nerven. (Und sorry, das war jetzt eine ziemlichen Untertreibung.)

"Den Kadaver schmeißt er in den Grünen Punkt." => Ich nehme an, das soll auch ein Bild sein, aber das ist mehr als schräg.

"viele Steine und Muscheln graben sich in seine Füße" => Dito. Sehr aggressive Steine hast du da.

Inhaltlich gibt der Text leider auch nicht viel her. Da ist ein Typ, der irgendwas entfliehen will und träumt, irgendwie durcheinander ist und sich dann umbringt.

"Die ganze Wahrheit." => Ja, von wegen. Das ist die Frage. Du schreibst nur aus der Sicht des verwirrten Mannes. Der Leser kann also nicht wissen, was die Wahrheit ist. Damit reduziert sich der Inhalt des gesamten Textes auf: Verwirrter Mann bringt sich um. (Und auf einmal heißt er Erik.) Das ist weder ein Krimi noch ist es spannend, sorry.

Da solltest du noch 'ne Menge Arbeit reinstecken, besonders in Bezug auf Spannungsaufbau und dem, was du wirklich erzählen willst. Werde präziser, gib dem Leser nicht nur schwammiges Irgendwas. Und wenn der Inhalt nicht mehr hergibt, dann den Text radikal kürzen!

Grüße
Chris

 

Danke für deine Antwort, Chris. Auch wenn du meinen Text ja zimlich zerrissen hast.:D
Im Nachhinein verstehe ich das aber auch. Ich hab nicht nochmal über den Text geguckt, Nortsee sieht ja richtig scheisse aus, aaah. Ja, auch das mit 'Dem Mann' kann nerven. Irgendwie wollte ich wohl originell sein, ging dann nach hinten los...
Generell zum Inhalt bin ich davon ausgegangen, dass der Leser auf den Plot kommt. ( Mann schlafwandelt, bringt dabei Familie um. Zieht sich zurueck, vergisst. Faengt wieder an, schlafzuwandeln, wobei er zum Schluss im Traum im Meer untergeht. Wehrt sich dagegen, kommt dann aber hinter die Wahrheit, laesst Traum geschehen. ... Bla. zuviel. zu kompliziert. seh ich ein.)
Too much. Und du nennst noch viieles anderes. Ich sollte mal weg von dieser Art Geschichte...
Aber gab's denn gar nix, wo du sagen wuerdest, dass das okay war? ._.

 

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