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Der Traum des Vaters
Kurt Brunner war ein 28-jähriger Holzfäller. Er lebte im Norden Deutschlands zusammen mit seiner Frau und den zwei Kindern, Josi und Nipo. Gemeinsam unterhielten sie ein kleines Häuschen neben einem Nadelwald. Das Häuschen war wirklich klein; gerade einmal zwei Schlafzimmer, eine Küche, ein kleines Wohnzimmer und ein Bad hatte es. Er hatte es vor gut dreizehn Jahren von seinem Cousin Seppi geerbt. Niemand aus der näheren Verwandtschaft wollte das Häuschen, denn Seppi hatte sich im kleinen Wohnzimmer erhängt. Dieser war sehr verzweifelt gewesen, da er sein ganzes Leben lang keine Frau gefunden hatte.
Nun gut, Kurt hatte ein grosses Hobby: Fliegen. Da ihm die finanziellen Mittel fehlten, um mit herkömmlichen Möglichkeiten in die Lüfte zu gelangen, bastelte er jeweils am Abend an Erfindungen, die seinen Traum hätten verwirklichen können. An einem Sommerabend schrie er aus seiner Werkstatt: „Nipo, komm schnell, ich habe eine neue Erfindung, mit der ich endlich Fliegen werde!“ Nipo spielte zwar gerade, folgte aber sofort dem Ruf seines Vaters. „Zeig mal her, Papi!“, sagte er völlig aufgeregt. Der Vater deutete mit dem halben Zeigefinger auf die Werkbank. Die andere Hälfte hatte er bei einem Unfall im Wald verloren.
Auf dem Werktisch lagen zwei Holzknebel, die geschickt mit einem Stofflacken bespannt waren. Das Ganze erinnerte an Vogelflügel. „Oh man, verdammt cool, Daddy!“, sagte Nipo begeistert. „Sprich nicht mit solchen Wörtern, sonst knebele ich dich!“, sagte der Vater mit erzürnter Stimme. Doch schon war alles wieder gut und der Vater setzte sich auf einen Hocker, um dem Sohn die Erfindung zu erklären: „Weisst du was Nipo? Ich lass dich die Erfindung ausprobieren.“ Das Familienoberhaupt nahm die beiden Holzknebel mit dem Stofflacken und schnürte sie mit einem roten Faden an die Arme des Sohnes. „Und, wie fühlst du dich?“, fragte der Vater. „Wie ein Vogel!“, antwortete Nipo voller Freude. Der Vater nickte viel versprechend mit einem Schmunzeln im Gesicht. „Ich habe noch etwas dazu“, sagte der Vater und griff in die Schublade der Werkbank. Er zog eine Maske hervor, die eine Art Vogelschnabel darstellte. Sie war weiss und mit ein paar Vogelfedern geschmückt. „Damit verbessern wir die Aerodynamik.“, erklärte er fachmännisch - “Wow, so cool!“ – „Tsss, tsss, was habe ich gesagt?" – „Ja, ja, keine bösen Wörter“, sagte Nipo etwas betrübt.
Der Vater nahm schweigend seinen Sohn an die Hand und die beiden verliessen die Werkstatt. „Da oben auf dem Felsen ist ein guter Startplatz“, sagte der Vater verheissungsvoll. „Ja, ja, lass uns fliegen!“ Nipo war völlig ausser sich. Oben angekommen instruierte der Vater seinen Sohn: „Fliegen ist eine Kunst. Man benötigt viel Wissen und Mut zu diesem Schritt. Sobald du vom Felsen springst, musst du deine Armen ausstrecken und der Wind wird dich tragen. Zusätzlich unterstützt die Maske deine Aerodynamik. Sobald du landen möchtest, ziehst du deine Maske etwas tiefer und schon wird sich dein Flug senken. Hast du alles verstanden?“ - „Ja, ich glaube schon... Papi, ich habe Angst. Ich weiss nicht, ob ich das kann.“, sagte Nipo nun etwas zögernd. „Du brauchst keine Angst zu haben, es kann dir nichts passieren. Nun mach schon und erfülle den Wunsch deines Daddys.“, sagte der Vater. „Papi, warum möchtest nicht du fliegen? Es ist doch dein Traum?“, erkundigte sich Nipo. „Ach, ich bin schon ein alter Mann, viel lieber wünsche ich mir, dass du meinen Traum verwirklichst.“, entgegnete der Vater. Er stiess Nipo zum Felsvorsprung und befahl ihm, zu starten. Nipo gehorchte seinem Vater und sprang vom Felsen.
Für eine kurze Zeit war es still und dann rief der Vater: „Du fliegst, mein grosser Junge fliegt.“ Dabei kullerte ihm eine Träne die trockene Wange herunter. Nipo wusste nicht genau, ob er sich freuen oder aber ob er heulen sollte. Obwohl er seinem Vater hundertprozentig vertraute, war er von der Sache nicht überzeugt. Doch nach einem fünfminütigen Flug brach der linke Knebel ab und der Sohn stürzte achtundsiebzig Meter in die Tiefe. Er war auf der Stelle tot.
Am Abend beichtete der Vater seiner Familie den Vorfall und den Verlust des Jungen. Seine Frau war so bestürzt, dass sie noch in derselben Nacht zusammen mit Josi flüchtete. Am nächsten Morgen, als der Vater aufwachte, waren alle weg. Die folgenden Jahre wurde er ein verbitterter, alter Mann. Er schottete sich vom Rest der Welt ab. Nach sieben Jahren, ohne in dieser Zeit ein einziges Wort gesprochen zu haben, erhängte sich Kurt Brunner um Mitternacht im kleinen Wohnzimmer. Seine Frau heiratete einen reichen Flugzeugbesitzer und lebte mit ihm im Schwarzwald, in der Nähe vom Bodensee. Josi absolvierte eine erfolgreiche Ausbildung, danach trat sie einem Tierschutzverein für bedrohte Vögel bei.