Was ist neu

Der Turm

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11.04.2001
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Der Turm

Prolog

Der Tag war stürmisch gewesen, Regenwolken zogen auf. Es würde si-cherlich noch ein Gewitter geben. Die ungefähr sechzigjährige Frau wandte sich vom Fenster ihres Hauses ab. So ein Hundewetter hatte es schon lange nicht mehr gegeben, ja um genau zu sein war es das erste Mal seitdem ihr Mann sich damals auf und davon gemacht und sie mit ihrer kaum drei Jahre alten Tochter allein gelassen hatte. Ja, genau so ein Un-wetter braute sich heute wieder zusammen, wie in jener unseligen Nacht!

Sie blickte wieder zum Fenster, wo sie nur blieb? Ihre Tochter hatte ihr vorhin noch versprochen vorbeizukommen, nachdem sie sanften Druck ausgeübt hatte. So ohne weiteres wollte sie ihren Schwebewagen wohl doch nicht bei diesen Sturmböen aus der Garage holen – aber es mußte sein.

Da, dort konnte man die Frontlichter eines Schwebewagens er-kennen. Brav wie sie nun einmal war, hielt ihre Tochter den Wagen exakt über dem als Verkehrsweg gekennzeichneten Grasstreifen. Als ob es hier etwas ausgemacht hätte querfeldein zu fliegen, aber nein, ihre Tochter war korrekt. Kurze Zeit später parkte sie den Wagen in der hauseigenen Garage, auch so eine Marotte, als ob es etwas ausmachen würde, wenn sie das Gefährt Wind und Wetter aussetzen würde.

Die Haustür öffnete sich und ihre Tochter trat ein. – Ja, so ähn-lich hatte sie damals selbst ausgesehen, lediglich die Haare waren gemäß der hier und heute geltenden Mode kurz geschnitten, sie selbst hatte sie damals lang getragen. Ansonsten das gleiche blond, fast die selbe Gestalt, im Äußeren hatte sie so gut wie nichts von ihrem Vater erhalten. Wohl einige Wesensarten, aber auch nicht so sehr, als daß es ins Gewicht ge-schlagen hätte.

„Was gibt es denn so dringliches, daß du mich unbedingt heute hier sehen mußt, Mutter?“ fuhr es unbeherrscht aus dem Munde ihrer Tochter heraus. „Willst du wieder über deinen neuen Roman diskutieren? – Ich habe dir dazu doch bereits meine Meinung gesagt.“ Mit einer theat-ralischen Geste zog sie ein Bündel Papier aus ihrer Jackentasche und knallte es auf den Tisch. „Es ist einfach nur peinlich, du solltest im min-desten die Namen der handelnden Hauptpersonen ändern – oder eine anständige Autobiographie schreiben, aber Fiktion und Realität derart miteinander zu verweben, das ist einfach nur peinlich zu nennen...“

„Warte, ich wollte nur in den Keller und...“

„Der Keller! Draußen zieht ein Gewitter herauf und Mutter wan-dert in den Keller! Am liebsten würdest du mich an die Hand nehmen und wie früher die ganze Nacht da unten mit mir hocken. – Weißt du eigent-lich wie viele Stunden beim Therapeuten mich diese Kindheitserlebnisse gekostet haben? Seit Vater verschwunden war hast du damit angefangen. Und nun dies!
Versuchst du die Entscheidung das Haus hier mitten im Park auf den Ruinen das alten Aussichtsturms zu errichten jetzt literarisch zu recht-fertigen? – Mutter, ich bitte dich, du hast hervorragende Romane ge-schrieben, aber diesen hier lasse lieber in der Schublade!“

„Du bist ein Kind deiner Zeit und deiner Welt, du mußt wahr-scheinlich so reden,“ entgegnete die Mutter seufzend. „Jetzt ist es wohl zu spät dir die Augen zu öffnen. – Ich hole nur eine Flasche Wein aus dem Keller, ja?“

Die Tochter nickte, setzte sich an den Tisch und blätterte lustlos in dem Manuskript des jüngsten Romans ihrer Mutter herum.

***

Sie war die perfekte Frau, die Frau seiner Träume. Anfang dreißig, damit in etwa seinem Alter entsprechend, lange, blonde Haare, schlank, dabei groß aber nicht zu groß und wohl noch ungebunden. Seine Beziehung zu ihr war recht unkompliziert, sofern man unter den gegebenen Umständen bereits von einer Beziehung sprechen konnte. Sie arbeitete im selben Konzern wie er, nur durch einige tausend Kilometer Entfernung getrennt. Einmal jährlich, auf der Mitarbeiterschulung der Führungskräfte war ihre Zeit gekommen. Eine zugegebenermaßen kurze aber stürmische Zeit. Von neun bis siebzehn Uhr Schulung, fünf Tage lang, der Abend und die Nacht gehörte ganz allein ihnen.

In der Regel spazierten sie, nach Abschluß des Seminars quer durch den Park, der sich an das Kongreßzentrum anschloß, um am ande-ren Ende eines der dortigen Restaurants aufzusuchen.

Das Wetter spielte jedoch am heutigen Tag, es war früher April, nicht mit. Dicke Regenwolken waren schon den ganzen Tag über aufge-zogen, jetzt begannen die ersten Tropfen zu fallen. Schnell entwickelte sich der Regen zu einem regelrechten Unwetter. Blitze zuckten über den Himmel, Donner dröhnte. Die wenigen Spaziergänger im Park suchten irgendwo Unterschlupf oder versuchten die Grünanlage so schnell als möglich zu verlassen.

Völlig durchnäßt erreichten die zwei Lehrgangsteilnehmer den Eingang eines kleinen, wahrscheinlich baufälligen, Aussichtsturmes unter dessen Vordach sie Schutz vor den Unbilden des Wetters suchen konnten.

Aber auch dieses Refugium konnte nicht von Dauer sein, da der Schlagregen von der Seite her unter das Vordach drang und sie weiter durchnäßte.

„Komm her, ich schirme dich vor dem Regen ab,“ ließ sich die Stimme des Mannes vernehmen während er die Frau eng an sich zog und mit seinen Händen langsam in ihre klammen Kleider tastete.

„Ralf, nicht hier,“ entgegnete sie, hastig einen Blick über seine Schulter werfend.

„Warum nicht?“ erwiderte er und nestelte weiter an ihrer Bluse.

„Laß uns wenigstens da reingehen,“ sagte sie, entwand sich sei-nem Griff und drückte die Türklinke der mehrfach gesprungenen Glastür herunter, die widerstrebend nachgab. Quietschend öffnete sich die Tür und ließ die zwei Menschen in das Innere des Turms. Aufsehenerregendes erwartete sie nicht. An einen kleinen Vorraum schloß sich ein herunterge-kommenes Treppenhaus an, eine Treppe führte nach oben in den baufälli-gen Turm, eine weitere nach unten, wahrscheinlich in einen Kellerraum. Muffig und modrig riechende Luft schlug ihnen entgegen.

„Mir ist kalt, Ralf,“ bemerkte die Frau beiläufig und schlang ihre Arme um ihren Körper. Draußen hatte ihr die Nässe nicht so viel ausge-macht, wie hier, wo das Unwetter plötzlich ausgesperrt war.

„Warte, ich schließe nur noch die Tür,“ erwiderte er und machte sich daran die sperrige Glastür wieder zu verschließen, mehr schlecht als recht gelang ihm dies auch. „So, das wäre erledigt,“ murmelte er vor sich hin. „Wo waren wir eigentlich vorhin stehengeblieben?“

„Du bist unmöglich, findest du die Umgebung hier tatsächlich geeignet für...“

„Ich brauche keine Umgebung, wichtig ist, daß du da bist! Wir könnten uns auf die Treppe setzen,“ schlug er vor.

„Unersättlich wie immer, was machen wir wenn hier jemand reinkommt?“

„Ich denke, das ist dann sein Problem. Komm schon, gib dir einen Ruck. – Es ist ganz gemütlich hier.“ Er hatte sich mittlerweile auf einer der nach oben führenden Treppenstufen niedergelassen. Langsam ging die Frau auf ihn zu, stockte dann jedoch plötzlich.

„Hast du das gehört? – Da war doch was!“ Verstört blickte sie sich um, konnte aber außer dem im Halbdunkel liegenden Treppenabsatz der nach unten führenden Treppe nichts erkennen.

„Da war nichts, du hast dich geirrt,“ entgegnete er, wobei der Tonfall seiner Stimme verriet, daß er sich nicht ganz sicher war.

„Doch,“ antwortete sie bestimmt. „Da war etwas!“ Jetzt konnte man es deutlicher hören, schlurfende Geräusche kamen langsam die Kel-lertreppe herauf. „Ist da jemand?“ rief sie mit schriller Stimme.

„Keine Panik, Chris. Wahrscheinlich nur jemand, der sich auch vor dem Unwetter in Sicherheit bringen wollte.“ Er stand auf und ging in Richtung der nach unten führenden Treppe, sich durchaus der bohrenden Blicke bewußt, die die Frau ihm hinterherwarf.

Tatsächlich stieg jemand langsam die Treppe herauf, langsam, sehr langsam kam er aus der am Fuße der Treppe herrschenden Finsternis ins Dämmerlicht des Treppenabsatzes. Zuerst sah man nur einen grünen Filzhut an den hinten ein Fuchsschwanz oder etwas ähnliches angebracht war. Wenige Stufen weiter konnte man einen ebenfalls grünen, allerdings sehr heruntergekommenen Lodenmantel ausmachen. – Ein Penner – schoß es Ralf durch den Kopf als ein diffuser Lichtstrahl das eingefallene, wahrscheinlich zahnlose Gesicht des Mannes erhellte. Der Eindruck wur-de noch verstärkt durch die stark gebeugte Haltung des relativ kleinen, alten Mannes, der sichtlich mit Konditionsschwierigkeiten zu kämpfen hatte, während er die Treppe erklomm.

„Ah, neu,“ ließ sich seine krächzende Stimme vernehmen. Mitt-lerweile hatte er die letzte Treppenstufe erklommen und stand nun nur ungefähr einen Meter entfernt vor den zwei hier Schutz suchenden. Mit einer flinken Bewegung, die man ihm nicht zugetraut hätte, umrundete er die sprachlos Dastehenden und wandte sich der Eingangstür zu. Ein kur-zer Blick nach draußen schien ihn nicht zu befriedigen, er drehte sich wieder um und suchte den Kontakt zu den zwei anderen Anwesenden.

„Lang hier, was?“ krächzte er kaum verständlich.

„Vielleicht eine Viertelstunde,“ kam die zurückhaltende Ant-wort. „Regnet es noch immer?“ Der Blick, den die Frau ihrem Liebhaber bei diesen Worten zuwarf sprach Bände, sie wollte diesen Ort und vor allem dieses Subjekt am liebsten so schnell als möglich verlassen. Nicht auszudenken was geschehen wäre, hätte dieser Kerl noch ein wenig am Fuße der Treppe gewartet und wäre erst heraufgekommen wenn sie bei-de...! – Nicht auszudenken!

„Regen? – Nein,“ murmelte das Hutzelmännchen vor sich hin während er aufmerksam die Kleidung seiner Gesprächspartner betrachte-te. „Zu lang hier,“ war seine einzige noch folgende Bemerkung bevor er sich wieder der nach unten führenden Treppe zuwandte.

„Komm, laß uns verschwinden. Wir sollten machen, daß wir ins Hotel kommen.“ Mit einem Kopfnicken folgte ihr der Mann nach drau-ßen.

Das Öffnen der Tür ging erstaunlich leicht, hinter der Tür erwar-tete die Beiden jedoch eine gewaltige Überraschung. Vom Regen war tatsächlich nichts mehr zu spüren, strahlender Sonnenschein lachte vom Himmel herab. Vor der Turmtür erstreckte sich ein sanft gewelltes Hügel-land, komplett mit Sand und Geröll bedeckt. Fassungslos starrten sich die beiden Menschen an. Sie hatten erwartet in einen von dem Regenguß halb überschwemmten Park zu treten und nun dies.

„Ich träume, sag mir, daß ich träume, Chris,“ murmelte der Mann vor sich hin.

„Sieh dir den Turm an,“ schrie die so angesprochene los. Der Turm, vormals ein leicht baufälliges Gebäude, war so gut wie nicht mehr existent. Die oberen Stockwerke waren eingestürzt und halb vom Sand bedeckt. Lediglich der Eingangsbereich war, wohl aufgrund der windge-schützten Lage, relativ sandfrei geblieben.

„Was ist hier passiert? – Das kann doch nicht innerhalb der paar Minuten geschehen sein, während derer wir da drinnen waren,“ flüsterte der Mann.

„Eine Atombombe vielleicht?“ gab die Frau zurück.

Ratlos sahen sich die Beiden an. „Der Penner, der Penner, Chris! Er war überhaupt nicht überrascht als er aus der Tür gesehen hat. – Komm, wir müssen ihn fragen!“ Er riß ihr fast den Arm aus als er sie zurück zur Tür zog. Die feuchte, muffig riechende Luft war fast eine Erlösung, ein ruhender Hafen des Wiedererkennens, anders als der Schock, den sie draußen erlitten hatten.

„Hallo?“ brüllte der Mann bereits im Vorraum, wohl wissend, daß der Penner die Kellertreppe heruntergeschlurft war. „He, wo sind sie?“ Ein leises Kichern schien ihnen vom Fuße der Kellertreppe aus zu antworten.

„Da runter?“ Die Dunkelheit des Kellers nahm sich nicht gerade einladend aus.

„Hast du eine bessere Idee?“ Achselzuckend folgte sie dem Mann, der die Stufen geradezu hinunter hastete. Unten erwartete sie ein langer Gang an dessen Ende ein schwacher Lichtschein durch die Ritzen einer geschlossenen Tür drang.

Des Blickes, den sich die beiden Menschen zuwarfen, hätte es eigentlich gar nicht bedurft, eiligen Schrittes wandten sie sich der Tür zu. Gut geölte Türangeln gaben keinen Laut von sich, als sie die Tür nach außen aufzogen. Das Licht, welches den Raum dahinter erleuchtete, stammte von großen Altarkerzen, die in regelmäßigen, etwa zwei Meter großen Abständen, entlang der Mittelachse des Raumes aufgestellt waren.

An die Wände gelehnt, teilweise in Schlafsäcken steckend, konn-ten sie ungefähr zwanzig Personen beiderlei Geschlechts und fast jegli-chen Alters zwischen etwa Anfang zwanzig bis ins Greisenalter ausma-chen.

Am anderen Ende des Raumes befand sich der Penner mit dem Lodenmantel, gerade in ein Gespräch mit einem der anderen Anwesenden vertieft.

Niemand schien besondere Notiz von den Neuankömmlingen zu nehmen. Einige der hier hausenden sahen nicht einmal auf als sich die Tür öffnete um Chris und Ralf einzulassen. Der ganze Raum strahlte eine gewisse Lethargie aus, die direkt ansteckend wirkte.

„He, sie,“ donnerte Ralfs Stimme durch den Raum. „Was ist...?“ Weiter kam er nicht. Einer der bis eben noch fast bewegungslos dasitzen-den Penner brach in schallendes Gelächter aus, dem sich binnen Sekun-den fast alle Anwesenden anschlossen.

Der alte Mann, den sie bereits oben getroffen hatten, schlurfte langsam auf die durch die Reaktion der Obdachlosen eingeschüchterten Menschen zu. „Kein Angst, die tun nix,“ nuschelte das Individuum, wäh-rend die Neuankömmlinge nahezu gleichzeitig die Nase rümpften. Im Eifer des Gefechts hatten sie bislang nicht den scharfen Geruch nach Schweiß und Urin bemerkt, der in dem Kellerraum hing. Jetzt, nach der spannungsentladenden Wirkung des Gelächters nahmen sie die sie umge-benden Umwelteindrücke wieder auf.

„Hank, nennen mich Hank,“ riß sie der Mann aus ihren Gedan-ken. „Das hier Wolf, unser Chef,“ der andere Obdachlose, mit dem Hank zuvor in eine Unterhaltung vertieft gewesen war, verneigte sich kurz. Er war sicherlich maximal vierzig Jahre alt, wobei man dies nur schwer ausmachen konnte, ob der doch ziemlich heruntergekommenen Erschei-nung.

„Willkom, willkom,“ radebrechte der Chef sichtlich um eine möglichst saubere und langsame Aussprache bemüht. „Ihr neu werdet finden, hier alles – aber wenig Zeit, ihr eingewöhnt,“ grinsend wandte er sich von den beiden ab, nicht ohne vorher noch Chris mit einem lüsternen Blick abzutasten. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ließ er sich am ande-ren Ende des Raumes, anscheinend sein Stammplatz, zu einem Nicker-chen nieder.

„Chef in Ordnung, ihr verstehen?“ fragte der alte Mann, während er forschend ihre Gesichtszüge studierte. „Ihr aus Milieu mit Park, ja? – Pech, so kurz vor Wechsel, aber vielleicht, mit Glück, Milieu kommen wieder. – Hunger, Durst?“ fragte er unvermittelt. „Abendmahl wird bald verteilt!“

„Glaubt ihm kein Wort, wir sind hier gefangen, für immer und ewig,“ meldete sich eine junge Stimme hinter Hank zu Wort.

„Ah, Ben. Du hatten Chance – warum du wiederkommen?“ ent-gegnete der Alte schnell.

„Du weißt ganz genau, Hank, daß das nicht meine Welt war! – Sicherlich, sie war ihr nicht unähnlich. Westliche Zivilisation, Wohlstand alles das paßte. Aber es war nicht meine Welt,“ schluchzend schlug der junge Mann seine Hände vors Gesicht.

„Ich verstehe nicht,“ warf Chris ein, während sie versuchte das Alter des jungen Mannes abzuschätzen, vielleicht fünfundzwanzig, aber wie alle Obdachlosen hier, sehr mitgenommen.

„Vielleicht besser, reden mit Ben. Er beherrsch` eure Slang bes-ser. – Ben? Ben!“ schrie er plötzlich den jungen Mann an, der verstört zusammenzuckte und dann aufsprang. „Brav! – Du erklären, ja? Ich noch mal gehen und sehen ob Phase stabil.“ Der Alte verschwand ohne ein weiteres Wort zu verlieren im dunklen Kellergang.

„Kommt hier rüber, ich erkläre euch alles,“ melancholischen Blickes wischte Ben sich eine seiner langen verfilzten schwarzen Locken aus dem Gesicht und deutete auf die wenig einladenden Sitzkissen auf denen er bisher gelegen hatte. „Wolf ist der Chef und Hank ist sein Leut-nant, das solltet ihr euch zu allererst gut einprägen, was die zwei sagen wird hier gemacht,“ ängstlich glitt sein Blick zum anderen Ende des Raumes, von wo man mittlerweile starke Schlafgeräusche des Chefs ver-nehmen konnte.

„Was ist da draußen los?“ drängte Ralf, den die Querelen und Hierarchien unter den Obdachlosen nicht zu interessieren schienen.

„Ihr habt schon mal von Parallelwelten gehört?“ fragte Ben und ohne auf eine Antwort zu warten fuhr er fort. „Es gibt da eine Theorie nach der sich die Zeit wie ein Fluß verhält. Ein Fluß der sich teilt und verästelt, ein Delta und immer mehr und kleinere, ja filigrane Verästelun-gen bildet. – Und jede dieser Verästelungen stellt einen neuen, alternati-ven, Ablauf der Dinge, eine neue Wahrscheinlichkeit dar,“ er holte tief Luft und gestikulierte mit den Armen. „Verstehen sie? Jede auch nur denkbare Welt ist möglich! Jede auch nur denkbare Welt existiert, einfach nebeneinander. Eine Welt, in der das römische Reich nicht einmal Cäsar überlebt hat oder eine Welt, die nie eine Frau namens Radaf gesehen hat...“

„Radaf? – Was meinen sie?“ warf Ralf ein.

„Sehen sie, das meine ich ja! – Sie kommen nicht aus meiner Welt. Die ihrige ist der meinigen zwar sehr ähnlich, aber es gibt doch Unterschiede. Hier waren sie sowohl im globalen als auch im kleinen zu finden. Nicht nur Radaf hat in ihrer Welt nie existiert, nein auch meine ganze Familie war nicht aufzufinden! – Und Hank meint ich hätte meine Chance gehabt. – Können sie sich vorstellen in einer Welt zu leben, in der zwar ihre Sprache gesprochen wird, ansonsten aber, mal abgesehen von einem gewissen übereinstimmenden Kontext, alles in ihrem persönlichen Bereich anders ist?
Ihre Freundin ist weg, Eltern, Verwandte und Bekannte haben nie existiert. Und der einzige Mensch, den sie aus ihrer Welt her kannten, dort war er Zeitungsverkäufer an einem Kiosk, verkauft nun Blumen am Hauptbahnhof! Nicht das er sie erkennt, beileibe nicht, er hält sie für einen der Penner, die ständig am Hauptbahnhof herumlungern. - Kurz, es ist irgendwie alles anders, obwohl es eine große Übereinstimmung gibt. Der Seitenarm des Flusses hat sich wahrscheinlich nicht sehr weit strom-aufwärts von dem ihren getrennt, leider weit genug um sie verzweifeln zu lassen Sie würden sich dort nie mehr zurechtfinden und so enden wie die erbarmungswürdigen Obdachlosen am Hauptbahnhof.“ Ben brach abrupt seinen Redefluß ab und stierte gedankenverloren vor sich hin.

„Sie meinen, das ist uns geschehen? – Ehrlich gesagt verwirrt mich das Ganze doch mehr als es für eine Erklärung sorgt,“ bemerkte Chris. „Wie kommen wir von unserer Welt in diese Wüste da oben – und was ist mit dem Turm, den scheint es dann ja in allen Welten zu geben?“

„Ich schätze, das einzelne Flußverästelungen, um bei meinem zweidimensionalen Bild zu bleiben, sich irgendwie anderen annähern, für eine kurze Zeit sogar ineinanderfließen und so den Übergang in eine andere Wahrscheinlichkeit ermöglichen. Vielleicht sind bereits so viele Wahrscheinlichkeiten entstanden, daß einfach nicht mehr genug Platz vorhanden ist, und es nun, so dicht gepackt, zwangsläufig zu Überlappun-gen kommen muß.
Was den Turm hier angeht, er existiert nicht in allen Welten, wohl aber der Keller hier. Oft können wir tage- ja wochenlang nicht aus diesem Raum heraus, weil sich dann hinter der Tür Erdreich oder Gestein befindet.“ Er deutete auf die nun geschlossene Tür, hinter der sich der lange Kellergang erstreckte. „Allerdings existiert der Turm in vielen Wel-ten, wenn auch in den unterschiedlichsten Zuständen. Die weitaus meisten Welten, in die wir unsere Füße setzen, sind öde Wüstenlandschaften oder von Menschen unberührte Dschungel. Der Turm ist fast immer einge-stürzt und oft von Pflanzen überwuchert oder durch Sand und Geröllmas-sen fast verschüttet.
Aber in diesen Welten ist er da, und das bedeutet, daß es Men-schen gegeben haben muß, die ihn erbaut haben! – Ich habe mir schon oft Gedanken darüber gemacht, was wohl in diesen Welten passiert sein mag. Welche Katastrophe mag dazu geführt haben, daß diese Welten so leer sind? Und warum überwiegen diese Welten gegenüber denen, auf denen menschliche Zivilisationen anzutreffen sind? Nimmt man noch die Welten dazu, die wir überhaupt nicht betreten können, weil weder Turm noch Kellergang existieren, so machen die von Menschen bewohnten maximal zehn Prozent aus!“

„Ich bin im falschen Film,“ warf Chris ein. „Das sind doch alles Schauermärchen, oder?“ Sie blickte ihren Partner durchdringend an und als dieser keine Antwort gab wandte sie sich wieder Ben zu.

„Ihr Park und damit ihre Welt, ist weg, oder?“ entgegnete dieser. „Ist das nicht Beweis genug für meine Geschichte? – Aber keine Sorge, sie brauchen mir jetzt nicht zu glauben, keiner tut das sofort. Alle hier mußten erst mal ihre Erfahrungen machen. Warten sie ab, bis sie die ers-ten Welten sehen. Im Moment sind wir ja wohl wieder einmal in Phase mit einer dieser Sandwüsten. Wenn Hank so lange oben bleibt, wird sie wohl stabil sein. – Ist schon ein komischer Kauz, dieser Hank. Er genießt es richtig aus dem Turm hinauszutreten, für mich bedeutet das immer wieder eine aufs bitterste enttäuschte Hoffnung, manchmal glaube ich, es wäre am besten für immer hier unten zu bleiben!“

„Was meinen sie mit Phase?“ fragte Chris nach, selbst erstaunt über ihre ruhige und gefaßte Stimme. Innerlich hatte sie das Gefühl laut aufschreien zu müssen, äußerlich blieb sie ruhig.

„Die Überlappungen zwischen den Wahrscheinlichkeiten be-zeichnen wir als Phasen. Manche dauern nur wenige Sekunden oder Mi-nuten an, hat sich eine Phase aber über eine gewisse Zeit als stabil erwie-sen, so kann man davon ausgehen, daß sie mehrere Tage andauern wird. – Was ich bei dieser hier nicht hoffe. Wir brauchen dringend Nahrungsmit-tel und die aktuelle Phase ist, wie auch die vorherige, nicht dazu geeignet uns mit Nahrungsmitteln zu versorgen. – Wenn auch aus unterschiedli-chen Gründen.
Ah, da kommt Hank zurück, schätze jetzt wird es bald was zu essen geben.“ Die Tür zum Kellergang öffnete sich tatsächlich und ließ den kleinen alten Mann ein.

Als ob ein telepathisches Signal den Raum durcheilt hätte, hob Wolf, der Chef, am anderen Ende des Raumes seinen Kopf, er hatte sein Nickerchen beendet.

Ein kaum merkliches Kopfschütteln Hanks führte dazu, daß der Chef in seinen Taschen kramte und den dort gefundenen Schlüssel seinem Leutnant zuwarf. Dieser öffnete damit die Tür am anderen Ende des Raumes, in dessen Nähe der Chef sein ständiges Lager aufgeschlagen hatte. Eine Kerze zur Hand nehmend deutete der Obdachlose wortlos auf zwei seiner Kumpane, welche, beinahe schon freudig erregt ob der Auf-forderung, hastig aufsprangen und mit Hank zusammen den angrenzenden Raum betraten. Kurze Zeit später kamen sie, beladen mit den unterschied-lichsten Lebensmitteln, zurück, wobei Konservendosen den Großteil dessen auszumachen schienen, was die Schicksalsgemeinschaft am heuti-gen Abend zu sich nehmen würde.


***


Die Tage vergingen recht trostlos. Wie von Ben vorausgesagt dauerte es eine Zeit bis die beiden Neuankömmlinge sich an den Gedanken gewöhnt hatten, daß draußen vor der Eingangstür des Turmes eine andere Welt lag. Eine Welt, die eine andere Wahrscheinlichkeit der Entwicklung der Erde widerspiegelte. Eine Welt, die so unwirtlich war, wie man sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte.
Wie befürchtet ließen sich dort keine Nahrungsmittel beschaffen, wie auch? – In einer Wüstengegend, in der nicht einmal ein Grashalm existieren konnte.
Zum Glück war da die eiserne Reserve über die der Chef Tag und Nacht wachte. Böse Zungen unter den Obdachlosen – konnte man sie überhaupt noch so nennen? – behaupteten, daß er den Raum seit mehreren Jahren nicht mehr verlassen habe, aus Angst die Nahrungsmittelvorräte könnten geplündert werden.
Aber auch diese Reserve nahm von Tag zu Tag ab, sie war ohne-hin nur noch dürftig bestückt gewesen, da sich seit ungefähr einem Monat die Katastrophenwelten ohne Unterlaß ablösten. Einzige Ausnahme war die Welt aus der Chris und Ralf stammten – aber auch in dieser gestaltete sich die Beschaffung von Nahrungsmittelvorräten fast unmöglich. Ein Einbruch in einem Supermarkt wurde vorzeitig entdeckt, man hatte gera-de noch Zeit gefunden zu fliehen. Die Bettelei, auf die sie sich tagsüber verlegt hatten, brachte gerade genug ein um den Tagesbedarf zu decken und während der Öffnungszeiten der Geschäfte wurden sie in der Regel bereits am Eingang derselben von Wachdiensten abgefangen, die die Aufgabe hatten Diebstähle zu verhindern.
Eigentlich war der Vorratsraum angesichts dieser Tatsachen erstaunlich gut gefüllt.

Waren die Tage schon trostlos, so waren die Nächte katastro-phal! Weder Chris noch Ralf waren es gewohnt auf hartem Boden zu schlafen. Lediglich eine leichte Decke hatte sich im Vorratsraum für sie gefunden. Schlimmer aber war die Nähe zu den Anderen. Eng beieinan-der, fast schon aneinandergeschmiegt, lagen sie Nacht für Nacht zusam-men in diesem Kellerraum. Sämtliche zivilisationsbedingten Verhaltens-weisen schienen von ihren Schicksalsgefährten abgefallen oder evtl. in deren eigener Zivilisation nicht an der Tagesordnung gewesen zu sein. So war es beispielsweise keine Seltenheit, sondern eher die Regel, daß Wolf sich Nacht für Nacht eine der Frauen aussuchte, die sein Lager mit ihm zu teilen hatte. Mit Furcht und Abscheu beobachtete Chris immer wieder, wie sich der Blick des Chefs an ihr festhaftete und sie von oben bis unten taxierte, ähnlich einem Stück Vieh vor dem Kauf auf dem Viehmarkt. Trotzdem machte er keine weiteren Annäherungsversuche. Fast schon schien es so, als ob er darauf warten würde, daß sie sich ihm selbst anbie-te, etwa weil sie eingesehen hatte, daß ohnehin kein Weg daran vorbei-führte.

Den beißenden Urin- und Schweißgestank nahmen sie so gut wie nicht mehr wahr, mittlerweile rochen sie selbst nicht gerade so, als ob sie geradewegs aus einer Parfümerie gekommen wären.
Ihre Notdurft verrichteten alle Anwesenden in der Regel im Gang oder in einem der anderen Kellerräume, was insofern praktisch war, als daß diese nach fast jedem Phasenwechsel wieder unberührt vor ihnen lagen.
Auch die nächste Phase brachte erneut eine tote Welt. Die Ein-gangstür des Turms war gut zur Hälfte unter Sandmassen verdeckt. Wäh-rend Hank bereits nach einem kurzen Blick auf den durch das Glas der nach außen öffnenden Tür schimmernden Sand entschied, daß es nicht die Mühe wert war dennoch zu versuchen aus dem Turm herauszugelangen, machten sich Chris und Ralf ans Werk. Mit Hilfe einer Eisenstange, die sie zuvor unter großen Mühen vom in die oberen Etagen des eingestürzten Turmes führenden Geländer der Treppe abmontiert hatten schlugen sie das drahtverstärkte Glas der Türscheibe ein. Der hereinrutschende Sand bildete eine kleine Rampe, auf der sie mühevoll nach draußen kletterten, nur um feststellen zu müssen, daß Hanks Einschätzung korrekt gewesen war. Eine Enttäuschung, die sie irgendwie aus einer Traum- und Wunsch-vorstellung wieder zurück in die Realität riß.

Die zwei darauffolgenden Phasen erwiesen sich als nicht stabil genug für einen längeren Aufenthalt. Hank erkannte dies sofort an den starken Unwettern, die bereits im Zeitpunkt der Phasenangleichung wüte-ten. Anscheinend war dies für einen baldigen Phasenwechsel typisch. Hank führte kein Buch darüber, nach seinen Erfahrungen, und diese schienen mehrere Jahrzehnte zu umfassen, hatte es bislang keinen Pha-senwechsel gegeben, der sich nicht durch ein Unwetter angekündigt hätte. So wie sich eine Welt mit einem Unwetter verabschiedete, so begrüßte sie ihre Besucher mit strahlendem Sonnenschein sofern die Phase relativ stabil war, auch dies war eine Erfahrung, die Hank nur allzu bereitwillig weitergab.

Die Vorräte nahmen immer weiter ab, Wolf begann damit nur noch streng rationierte Portionen auszugeben, wobei die seinige und die seines Leutnants regelmäßig großzügiger bemessen waren als die der Anderen. Da die Fronten, und damit auch die Hierarchien, jedoch bereits seit langem geklärt schienen, wagte niemand darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Die Gemeinschaft hatte sich in ihr Schicksal gefügt.

Nicht allzu oft, aber dennoch relativ regelmäßig, kam es zu ei-nem Gespräch zwischen den beiden Neuankömmlingen und Ben, dem Mann, der aus einer ähnlichen Welt wie der ihren zu stammen schien.
Ben, der trotz seiner Dauerdepression irgendwie doch nie den Mut verlor, berichtete immer wieder aufs neue von den verschiedenen Welten und den Bemühungen der Gestrandeten dort ihre Vorräte aufzu-füllen. Da die Phasen selten länger als wenige Tage andauerten, blieben seine Eindrücke jedoch notwendigerweise sehr oberflächlich und stark einzelfallbezogen. Insbesondere seine von vornherein klare Einstellung hinsichtlich der Unmöglichkeit seine eigene Welt, oder zumindest eine, die ihr zum verwechseln ähnlich war, wiederzufinden, schien ihn daran zu hindern, den besuchten Welten etwas positives abzugewinnen. Entweder trieben Diktatoren ihr unerträgliches Werk oder die Umweltverschmut-zung war so weit vorangeschritten, daß man sich ohne Schutzmaßnahmen nicht sehr lange im Freien aufhalten konnte. Normale oder gar erstre-benswerte Welten schien es in seinen Augen bislang nicht gegeben zu haben, wobei er wohl nicht der Einzige war, der dies so sah. Nicht von ungefähr waren die meisten der Anwesenden schon lange dabei, selten blieb jemand in einer der Welten, Ben selbst hatte einen derartigen Fall noch nie erlebt. Lediglich Hank erzählte von Einzelfällen, die ob der ganzen Sachlage ihren Verstand verloren hatten und zum Teil einfach in die unwirtlichen Wüsten hinausgelaufen waren, überzeugt davon, irgend-wo dort draußen ihre Heimat wiederzufinden.
Nach und nach lernten sie die Geschichten und damit auch die Welten der anderen hier im Kellerraum gestrandeten kennen. Fast alle stammten aus hochindustrialisierten Staaten, die allerdings alle durchweg sehr stark voneinander abwichen. Erstaunlich auffallend war, daß die ursprünglichen Abweichungen stets bereits sehr weit in der Vergangenheit stattgefunden haben mußten, da fast überall selbst historische Begeben-heiten wie das römische Reich, die Entstehung der Christenheit, ja selbst Judentum und Islam in der Regel unbekannt waren. Stattdessen gab es eine Fülle von Chris und Ralf unbekannten Religionen und Geschichtsfakten.
Bemerkenswert war auch die Ähnlichkeit der Szenarien die dazu führten, daß sich Menschen in den Turm begaben und dann phasenver-setzt wurden. Jeder der hier Anwesenden hatte Schutz vor den Unbilden des Wetters gesucht – und gefunden, wenn auch in anderer Form als er-wartet.

Irgendwie spürte Hank als einziger wann eine Phase sich dem Ende zuneigte und der Übergang in eine neue Welt bevorstand bereits oft bevor die atmosphärischen Anzeichen, wie die Gewitterstürme, erkennbar waren. Vielleicht war es eine Mischung aus Erfahrung und Wetterfühlig-keit, auf jeden Fall kündigte er bereits sehr frühzeitig den nächsten Pha-senwechsel an. Wenige Stunden danach konnten die Gestrandeten eine paradiesische Welt betreten. Strahlender Sonnenschein, der auf einen palmenbesetzten Strand fiel, empfing sie gebührend.

Hank teilte sofort Gruppen à jeweils zwei Leuten ein, die sich auf die Suche nach Nahrungsmitteln machen sollten, Chris wurde dabei Ben zugeteilt, Ralf mußte einem der anderen Schicksalsgefährten folgen, da die Beiden in den Augen Hanks zu unerfahren waren um zusammen ein Team zu bilden. Die Suche nach Eßbarem gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet. Früchte gab es in Hülle und Fülle, doch diese wurden in der Regel verschmäht, da die Haltbarkeit doch arg zu wün-schen übrig ließ. Hank selbst hatte einen Fluch ausgestoßen, als er den ersten Blick auf diese Welt gerichtet hatte. – Keine industrialisierte Zone, keine Konserven, so einfach war die bittere Wahrheit. Wer wußte schon, wann die nächste Welt erscheinen mochte die sie erneut mit Nahrungsmit-teln versorgen konnte? Ob sie Zeit haben würden Fallen zu stellen, Tiere zu jagen und deren Fleisch zumindest für einige Tage durch erhitzen zu konservieren war zumindest fraglich.

Nach einigen Stunden mehr oder weniger ziellosen Umherirrens in diesem subtropischen Paradies trafen sich die Gruppen wieder bei dem Höhlenausgang der, untypischerweise, diesmal das Tor zu dieser Welt bildetete. „Glück im Unglück,“ hatte Hank angemerkt als er die Höhle erkundet hatte, die etwa dort an die Kellertreppe anschloß, wo eigentlich der Treppenabsatz hätte sein sollen. „Dies ist eine der Welten, die völlig andere geographische Verhältnisse aufweisen, als dies in der Regel der Fall ist. Wir können wahrlich von Glück sprechen, daß wir hier einen Ausgang finden und nicht eine undurchdringliche Wand aus Granit oder ähnlichem.

Eine Gruppe hatte eine menschliche Ansiedlung gefunden, unge-fähr dreißig Kilometer südwestlich in der Nähe der Küste. Menschen, die auf Steinzeitniveau lebten. Fischfang und die Früchte des Waldes bildeten ihren Lebensunterhalt.

Hank hatte damit gerechnet eine solche Ansiedlung irgendwo entlang der Küste zu finden. Er hatte deshalb den beiden Gruppen, die er entlang der Küstenlinie, eine in nördlicher Richtung, die andere in Rich-tung Südwesten, gesandt hatte, bereits detaillierte Anweisungen gegeben, wie sie sich zu verhalten hatten. Irgendwie schien Hank über ein sehr umfassendes Repertoire an Erfahrungen was die unterschiedlichsten Wel-ten anging, zu verfügen. So hatten die zwei es verstanden bereits im ers-ten Anlauf Nahrungsmittel einzuhandeln und sogar Menschen des Dorfes dazu bewegen können, diese zur Höhle zu tragen. Hanks Weitsicht hatte ihn dazu veranlaßt den Suchtrupps kleine Päckchen mit irgendwelchen Plastiksachen mit auf den Weg zu geben. Sachen, die wohl auch zu Hauf im Lagerraum neben den Lebensmittelvorräten lagerten. Woher er wußte, daß diese Welt eine nicht industrialisierte war, schien sein Geheimnis zu bleiben, bis Ben eine Bemerkung fallenließ aus der Chris und Ralf schlie-ßen konnten, daß die Tauschwaren zur Standardausrüstung auf einer Welt gehörten, von der man vermuten konnte, daß sie keinen hohen techni-schen Stand hatte.

Hank dankte den Trägern und verhandelte mit Händen und Fü-ßen. Nach und nach schien er mit ihnen zu einer Einigung zu gelangen. Schließlich wandte er sich von den Eingeborenen, die äußerlich durchaus Mitteleuropäern der Welt Chris und Ralfs entsprachen, ab und suchte unter seinen Leuten nach Freiwilligen, die den beschwerlichen Weg zum Dorf der Eingeborenen auf sich nehmen würden um dafür zu sorgen, daß so bald als möglich eine weitere Ladung Nahrungsmittel bei der Höhle anlangte. Da sich, wie scheinbar üblich, keine Freiwilligen fanden, be-stimmte er Ralf und einen weiteren Mann dazu, die Fremden zu begleiten. „Das Unwetter und damit der Phasenwechsel ist noch weit hin, ihr könnt mir glauben,“ versicherte er ihnen mit einer leisen aber bestimmten Stimme.

In den nächsten Tagen gediehen die Handelsbeziehungen präch-tig. Die Eingeborenen kamen täglich mindestens einmal vorbei und brach-ten Lebensmittel mit, die sie mit den unterschiedlichsten Methoden für längere Zeit haltbar gemacht hatten. Im Austausch erhielten sie dafür viele bunte Kleinigkeiten, darunter viele Gegenstände deren Funktion Chris und Ralf absolut unbekannt war, sie stammten aus irgendeiner der Welten mit denen der Kellerraum in Phase gewesen war.

Zum Erstaunen aller gewann Ralf immer mehr das Vertrauen der Eingeborenen. Nach und nach war es ihm möglich sich mit ihnen eini-germaßen zu verständigen. Er wurde oft dazu eingeladen die Nacht bei ihnen im Dorf zu verbringen. Dies war die Zeit, in der sich die Beziehung zwischen Chris und Ralf merklich abkühlte. Sie war der Extremsituation, der die Beiden ausgesetzt waren, nicht gewachsen. Nach wie vor schliefen sie zwar eng beieinander aber nicht miteinander, was angesichts der total fehlenden Privatsphäre nicht verwunderlich war, obwohl dies einigen anderen, allen voran Wolf, nicht viel auszumachen schien, wie die nachts immer wieder auftretenden Geräusche in aller Deutlichkeit bewiesen.

Die Dauer der aktuellen Phase war, wie Ben mehrfach versicher-te, absolut untypisch, und so war es nicht verwunderlich, daß immer wie-der ängstliche Blicke in den Himmel fuhren um auch ja die Anzeichen für ein nahendes Unwetter frühzeitig zu erkennen, galt es doch im Extremfall eine Entfernung von ca. dreißig Kilometern vom Dorf der Eingeborenen zur Höhle zurückzulegen, bevor der Phasenwechsel eintrat.

Den vergangenen Tagen schlossen sich Wochen und dann Mona-te an, Monate während derer Wolf tatsächlich niemals den Keller verließ. Irgendwie schien er tatsächlich der Einzige zu sein, der sich mit dem Dasein in den phasenverschobenen Welten nicht abfinden konnte.

Nach und nach ließ die Disziplin, die Wolf und Hank über lange Zeit hinweg aufgebaut hatten, nach. Irgendwie gewöhnten sich alle an diese Welt und ein relativ laxer Lebensstil hielt langsam aber bestimmt Einzug.

Das hastige Ansammeln von Vorräten in den ersten Tagen stellte sich nun im nachhinein betrachtet als unsinnig heraus. Viele der zu Be-ginn ihres Aufenthaltes hier eingetauschten Nahrungsmittel waren mitt-lerweile verdorben und mußten aus dem Lagerraum entfernt werden. Es gestaltete sich allein hierfür schon schwierig jemanden dazu zu bewegen, die zum Teil schon faulenden und stinkenden Fische und Früchte nach draußen zu tragen. Es war als ob ein Joch von den in dieser Welt gestran-deten abgefallen wäre, sie rebellierten stumm gegen die Herrschaft Wolfs indem sie einfach aus dem Kellerraum ausgezogen waren und ihr Domizil in der Regel bei den Eingeborenen in deren Dorf aufgeschlagen hatten. Lediglich Wolf, Hank, Jorin, die derzeitige Favoritin Wolfs, sowie ein Mann namens Korr, behielten ihren alten Wohnsitz bei.
Die Übersiedelung der Anderen in das Dorf geschah schlei-chend. Es begann damit, daß Ralf als Kontaktmann zwischen den beiden Gruppen eine eigene Lehmhütte im Dorf zugewiesen erhielt. Dem Häupt-ling war er sogar so wichtig, daß er Ralf seine Tochter, eine junge Frau von vielleicht fünfzehn Jahren, als Gefährtin zuwies um ihn an den Stamm zu binden. Durch ihre technischen Erfahrungen und vor allem auch durch die doch nicht vollständig unsinnigen Mitbringsel, wie zum Beispiel Messer aus Metall, waren die Besucher aus der Höhle, wie sie die Eingeborenen nannten, recht wertvoll geworden.
Ralf nahm die ihm dargereichten Angebote zuerst zögernd, spä-ter aber um so williger an, ja gegenüber Chris ließ er sogar verlauten als diese ihn zur Rede stellte, daß er sich in Lobin, die Tochter des Häupt-lings verliebt habe. Dies schien der Schlußstrich unter ihrer Beziehung gewesen zu sein.

Holzbearbeitung und vor allem Hütten aus Holz zu errichten, die nicht sofort einstürzten, war ein wesentlicher Faktor des stattfindenden Technologietransfers. Wolf und Hank wachten inzwischen jedoch arg-wöhnisch über jeden Gegenstand, der aus dem Lagerraum gewünscht wurde. – Ja es kam sogar zu einer offenen Auseinandersetzung, als Gérat, einer derjenigen, die oft den Lagerraum hatten betreten dürfen, die Her-ausgabe von Chris und Ralf unbekannten Schußwaffen forderte, was Wolf jedoch strikt ablehnte. Gérat versuchte sich gewaltsam Zutritt zu verschaf-fen, scheiterte jedoch an Hank, der, wie aus dem Nichts, plötzlich eine dieser besagten Waffen in seiner Hand hielt und damit auf Gérat zielte, welcher sofort klein beigab und sich zurückzog. Zeuge dieser Auseinan-dersetzung waren neben den noch im Keller wohnenden Schicksalsgefähr-ten, Chris, Ralf, Ben sowie vier Eingeborene, die unvermittelt ihr ständi-ges Geschnatter einstellten und die Szene mit interessierten Gesichtsaus-drücken verfolgten. Als sich die Lage dann jedoch entspannte maßen sie den Vorgängen keine Bedeutung mehr zu.

Für die Eingeborenen waren die Besucher aus der Höhle fast so etwas wie Götter, wenn auch ihre technischen Möglichkeiten in der Um-setzung oft zu wünschen übrigließen, da meist irgendwelche simplen Hilfsmittel, wie zum Beispiel Schrauben, einfach nicht oder nicht in der notwendigen Menge vorhanden waren. Schlimmer noch war es hinsicht-lich der vielen kleinen technischen Spielereien, Kinderspielzeug im wahrsten Sinne des Wortes, die batteriebetrieben waren. Durch den häufi-gen Gebrauch wurden die Batterien stark in Mitleidenschaft gezogen und gaben rasch ihren Geist auf. Daß die Besucher aus der Höhle nicht dazu in der Lage waren die Geräte wieder gangbar zu machen, tat ihrem gott-ähnlichen Status erheblichen Abbruch.
Trotz allem ließen sie sich weiterhin gut bewirten und lebten ihr Leben in Saus und Braus, sofern man dies von einem Leben unter den gegebenen Umständen sagen und vor allem von den immer wieder zu den Heimatwelten gezogenen Vergleichen absehen konnte.

Der Tagesablauf war fast immer gleich. Morgens, noch vor Son-nenaufgang, fuhren die einheimischen Männer mit kleinen Kanus, an denen Ausleger befestigt waren, aufs offene Meer hinaus, um zu fischen, erst in den frühen Abendstunden wurden sie in der Regel zurückerwartet. Die Frauen bereiteten derweil den Fang des vorigen Tages zu oder sam-melten Früchte im Wald. Die Besucher aus der Höhle lungerten am Strand herum und taten nichts, darin waren sie durch ihren langen Auf-enthalt im Keller des Turms geübt.
Initiative, beispielsweise um die Höhle zu besuchen, ergriffen nur wenige von ihnen, meist waren das diejenigen, welche noch nicht allzu lange im Keller gehaust hatten.
Mittlerweile waren zahlreiche von den Besuchern verursachte Schwangerschaften bei den eingeborenen Frauen zu vermerken, darunter war auch Lobin, Ralfs Gefährtin, die allerdings erst im zweiten Monat schwanger war. Bei den Frauen unter den in diese Welt Verschlagenen wirkten noch immer die von Wolf verabreichten Verhütungsmittel nach. Wolf hatte mit aller Macht Schwangerschaften verhindern wollen, die hochwirksamen Pillen stammten wohl aus einer, was chemische Substan-zen anging, hochentwickelten Welt. Jorin hatte Chris von dieser Welt berichtet als es darum ging auch ihr ein solches Präparat zu verabreichen, was sie bislang hatte vermeiden können. Unterdrückung und totale Kon-trolle mit Hilfe vieler chemischer Zusätze in Lebensmitteln und Trink-wasser waren dort an der Tagesordnung gewesen. Wie Wolf allerdings in den Besitz der Verhütungsmittel gekommen war, entzog sich auch Jorins Kenntnis. Irgendwie hatte Hank dies geregelt. Alle waren damals froh gewesen, als sich das übliche Gewitter zusammenbraute und man diese Welt wieder verließ.

Chris zog sich regelmäßig früh in ihre Behausung zurück. Sie teilte diese mit Rohena, einer vielleicht vierzigjährigen Frau, die, wie sie selbst berichtet hatte, aus einer technikarmen Welt stammte. Sie war in einem kleinen Dorf im Horotischen Reich aufgewachsen. Historie hatte sie nie interessiert, wie auch, das Leben schien sich seit Jahrhunderten nicht verändert zu haben. Sie lebte in einer der mittelalterlichen Feudal-gesellschaft Chris´ Welt nicht unähnlichen Gemeinschaft. Dort befand sie sich auf der untersten sozialen Leitersprosse, wie hätte sie über histori-sche Zusammenhänge Bescheid wissen können? Trotzdem versuchte Chris allabendlich ihr Geschichten aus ihrer Welt zu entlocken, die für sie faszinierend war.
Rohena erzählte gerade von einer für sie aufregenden Reise, die sie als Kind in den nächstgrößeren Marktflecken unternommen hatte, als die über den Eingang der Hütte geschlagene Bastmatte zur Seite gezogen wurde und Ralf hastig in die Behausung hereinkroch.

„Still,“ flüsterte er eindringlich. „Sucht eure Sachen zusammen, wir müssen sofort hier weg!“

„Phasenwechsel?“ Rohena war bereits aufgesprungen und hatte ihre wenigen Habseligkeiten zusammengerafft. „Es wurde auch Zeit, hier halte ich es nicht mehr lange aus!“

„Nein, seid leise,“ flüsterte Ralf zurück. „Lobin hat mir unter Tränen berichtet, daß wir alle in Gefahr sind. Gérat hat die Eingeborenen aufgewiegelt. Er will sich wohl zu ihrem Führer aufschwingen und vor allem einige Waffen und Gerätschaften aus dem Keller aneignen. Neben-bei will er alle potentiellen Nebenbuhler, sprich uns, ausschalten. Lobin hat die Aufgabe überantwortet bekommen mich im Schlaf mit einem Messer zu töten! – Wir müssen hier weg, nun macht schon! – Wir treffen uns am Waldrand, ich hole noch Lobin.“

„Moment, Ralf. Was ist mit den anderen?“ ließ sich jetzt Chris vernehmen. „Hast du sie schon gewarnt?“

„Keine Zeit, wir müssen weg,“ antwortete er und hastete aus der kargen Hütte hinaus.

„Er hat recht, komm,“ mahnte Rohena und zog Chris ebenfalls aus der Hütte. Widerstrebend ließ sie sich führen. Fast am Waldrand angelangt stockte sie dann aber doch, als ein Aufschrei durch die vom Vollmond hellerleuchtete nächtliche Szene gellte.

„Sie bringen sie um, wir müssen ihnen helfen! – Aufwachen, A-larm,“ schrie sie. Lärm und weitere Schreie waren die Antwort. Aus dem mit Mondlicht beschienen Dorf hasteten mehrere Gestalten auf den Wald-rand zu. Rohena ergriff erneut Chris` Arm und zog sie hinter sich her in den zweifelhaften Schutz der Bäume. Äste schlugen ihr ins Gesicht, mehr-fach strauchelte sie, einmal wäre sie fast der Länge nach hingeschlagen. Irgendwann verstummten die Schreie aus dem Dorf, nur ab und zu konn-ten sie, in größerer Entfernung, rechts oder links von ihrem Standort, Blätter rascheln oder Zweige knacken hören. Inwieweit dies sie verfol-gende Dorfbewohner, das Massaker überlebende Schicksalsgefährten oder einfach nur Tiere waren, vermochten sie nicht zu sagen.
Stundenlang irrten sie durch den vom Mondlicht leidlich erhell-ten Wald, wobei sie sich tunlichst von Lichtungen und vor allem dem Waldrand fernhielten, immer in der Angst lebend doch noch auf die von Gérat aufgewiegelten Eingeborenen zu treffen.
Im Morgengrauen, sie waren mittlerweile mehrere Kilometer weit ins Landesinnere vorgedrungen, schlugen sie eine eher nördliche Richtung ein, wobei ihnen als Orientierung die aufgehende Sonne diente. So hofften sie mit etwas Glück auf die Höhle und damit vielleicht auf weitere überlebende Gefährten zu treffen.

Der Marsch war mühselig, stellenweise war das Unterholz so dicht, daß sie weite Umwege in Kauf nehmen mußten. Zurück an die Küste trauten sie sich nicht, dort hätten ihnen ja evtl. die Dorfbewohner aufgelauert. Zwei Tage lang marschierten sie in Richtung Norden, wobei sie sich nur absolut notwendige Ruhepausen gönnten. Die Orientierung zu behalten schien relativ einfach, da sie mittlerweile eine kleine Hügelkette erklommen hatten von der sie von Zeit zu Zeit freien Blick auf die wohl ungefähr zehn Kilometer entfernte Küstenlinie hatten. So hielten sie, indem sie sich mehr oder weniger parallel zur Küste bewegten einigerma-ßen die Richtung bei, die sie ihrer Meinung nach ihren Schicksalsgefähr-ten in der Höhle näher bringen mußte.

Am dritten Tag ihrer Flucht erkannte Rohena eine Landmarke wieder, eine dem Festland vorgelagerte Insel zeichnete sich deutlich im Licht der aufgehenden Sonne ab. Diese Insel hatte sie bei einer der Expe-ditionen, die Hank zur Zeit ihrer Ankunft auf dieser Welt nach Norden gesandt hatte, bemerkt. Dies bedeutete allerdings, daß sie die Höhle ver-paßt hatten, ja, daß sie sich sicherlich bereits rund zwanzig Kilometer nördlich ihres Ziels befanden. Mißmutig beschlossen die zwei Flüchtlinge zur Küste zu wandern und dann entlang der Küstenlinie zurück zu mar-schieren.

Zerschunden, mit Blasen an den Füßen und diversen, zum Glück nur oberflächlichen Schrammen versehen, trafen sie Stunden später bei der Höhle ein.
Von den ursprünglich den Keller bewohnenden Menschen trafen sie nur noch sieben an, darunter Wolf, Hank, Ben und Ralf, welcher auch seine einheimische Gefährtin mit in den Keller gerettet hatte. Völlig er-schöpft verkrochen sich auch Chris und Rohena in der letzten Zuflucht.

„Kein Angst mehr, Mädchen,“ radebrechte der Chef, während er sich in einer recht eindeutig sexuell zu interpretierenden Pose vor die beiden Frauen stellte. „Problem gelöst, wie sagt? – Klappe zu, Affe tot! – Ha, ha,“ er brach in ein schallendes Gelächter aus.

Verständnislos schauten Chris und Rohena in die Runde. Chris Blick blieb schließlich an Bens betretenem Gesichtsausdruck hängen. „Strafexpedition,“ murmelte dieser während seine Augen einen nichtexis-tierenden Punkt auf dem Fußboden, kurz vor seinen Füßen, fixierten. „Sie haben eine Strafexpedition durchgeführt und alle derer sie habhaft werden konnten abgeschlachtet!“ Seine Augen lösten sich von dem nicht vorhan-denen Fixpunkt und wanderten zu Lobin, die, die Beine zum Kinn gezo-gen, in einer Ecke kauerte und stimmlos irgendwelche Lieder vor sich hin zu singen schien. „Sie ist die einzige Überlebende der Dorfbewohner, zumindest derjenigen, die man angetroffen hat,“ fügte er einschränkend hinzu.

Wolf grinste und vollführte mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand ein aus Kindertagen noch bekanntes Symbol, während er zischende Geräusche von sich gab und weiterhin schallend lachte. Nun mischte sich auch Hank in die stockende Unterhaltung. „Besser, hören auf uns. Nicht versuchen in allzu fremde Welten abzutauchen.“ Genußvoll schien der Alte die Situation auszukosten. „Seht positiv. Warten auf Welt, näher an Eure. – Außerdem, jetzt weniger Esser!“ Er wandte sich nun von den beiden Frauen ab und sprach wohl eher für die Allgemeinheit weiter. „Jetzt warten auf Phasenwechsel, kann nicht mehr dauern.“

Es dauerte jedoch entgegen Hanks Aussage noch weitere sieben Monate bis sich ein kommender Phasenwechsel durch starke Regengüsse und Sturmböen ankündigte. Ein Unwetter zog auf, wie es die Gefährten nach eigenen Aussagen bisher selten erlebt hatten. Die vor dem Höhlen-eingang errichteten provisorischen Behelfshütten, welche in den letzten Monaten seit der unter den Eingeborenen vorgenommenen Strafexpediti-on, den hierher verschlagenen als Unterkunft gedient hatten, wurden, Streichholzbauten gleich, vom Sturm weggeblasen. Die Menschen hatten allerdings bereits lange vor den schlimmsten Sturmausläufern den siche-ren Keller aufgesucht.

Hank erhob sich nach geraumer Zeit, die er ruhig, in Gedanken versunken, auf seinem Platz im Keller verbracht hatte und begab sich schlurfenden Schrittes in den Kellervorraum um langsam die Treppe zu erklimmen. Gespannt warteten die Schicksalsgefährten auf sein Wiederer-scheinen. Die Nachricht, die sie von seinem Gesicht gut fünf Minuten später ablesen konnten, verhieß nichts gutes, Sandwüste! Zumindest konnte man den Turm, der wieder anstelle der Höhle vorhanden war, verlassen, was sich angesichts der Wochen, die sie auf dieser Welt zu-bringen mußten als Segen erwies, allein um schon die Notdurft draußen verrichten zu können. Der Nachbarkeller, der normalerweise dazu herhal-ten mußte war eigentümlicherweise diesmal durch eine solide Felswand verdeckt.

Am schlimmsten wurde Lobin von den Ereignissen mitgenom-men. Völlig unter Fremden auf einer fremden Welt, streng rationierte Essenszuteilung und vor allem ihr Partner Ralf, der sie nur ungenügend vor den Nachstellungen Wolfs beschützen konnte, ja dies irgendwann sogar ganz aufgab und zuließ, daß Wolf sie eines Tages, als keine weitere Person außer ihnen dreien im Keller anwesend war, vergewaltigte. Ein Schicksal, dem Chris bislang entgangen war, vielleicht weil sie im Unter-schied zu Lobin, von einer „zivilisierten“ Welt stammte und Lobin in Wolfs Augen doch nur einer Art unterentwickelter Spezies der Gattung Mensch angehörte, ohne eigene Rechte, aber mit den Pflichten ihm, dem Chef, wie er sich gerne selber nannte, zu Diensten zu sein. Nach diesem Vorfall war Lobin noch stärker in sich gekehrt und saß fast ausnahmslos zusammengekauert im Kellerraum. Alle seitens Chris aufgebrachten Ver-suche mit ihr zu reden waren fruchtlos.

***

Drei Wochen später kündigte sich der nächste Phasenwechsel an. Die Zeit auf dieser Welt hatte genügt, um die Vertriebenen wieder in eine Gemeinschaft zurückzubringen, die die hierarchische Struktur mit Wolf und Hank an der Spitze anerkannte, wenn auch nur deshalb, weil ein einsames Aufbegehren, wie es Chris fast ständig in den Sinn kam, eher zu schlimmen Folgen geführt hätte, da alle anderen in einem solchen Fall wahrscheinlich auf Wolf und Hanks Seite gestanden oder aber sich im mindesten aus dem Konflikt herausgehalten hätten um nicht selber in Unannehmlichkeiten verwickelt zu werden.

Die folgenden Welten wechselten Schlag auf Schlag, fast im Stundentakt schlurfte Hank die Treppe hinauf. Wie er unten im Keller – und somit fernab jeglicher Wetterfühlung – anstehende oder stattgefunde-ne Phasenwechsel spürte, blieb den übrigen Anwesenden ein Rätsel. Fast schien es, als ob zum Ausgleich der langen, stabilen Phasen, welche sie als letzte durchlebt hatten, nunmehr ein stetiger Wechsel folgte. Zwei Tage lang verwehrte Hank seinen Gefährten den Zugang zur Treppe. Kurz und knapp berichtete er von instabilen Phasen. Der eigentlich, bei Beginn einer Phase typische Sonnenschein war nie vorhanden. Stattdes-sen traf er ständig tosende Gewitterstürme an, wenn er einen Blick aus der Tür des Turmes hinauswarf. – Vorboten eines erneuten Phasenwechsels.

Die dann folgende Phase erwies sich als stabil. Vor der Tür des äußerst baufälligen Turms erstreckte sich ein paradiesisch anmutender Park im strahlenden Sonnenlicht eines Frühlingstages. Eingesäumt war dieser Park von einer ununterbrochenen Reihe von Wolkenkratzern. Die Skyline reichte so weit das unbewaffnete Auge blicken konnte.

Hank teilte sofort Gruppen zu je zwei Mann ein, die sich auf die Suche nach Lebensmitteln begeben sollten. Wolf und Lobin blieben im Keller zurück, letztere mit einem Blick in den Augen, der schon fast Irr-sinn verriet. Hank wählte für sich selbst Chris zur Partnerin. Vor allem wohl deshalb, um die unerfahrenen Essenssammler mit möglichst erfahre-nen zusammen zu tun.

Mit schnellen Schritten durcheilten die vier Teams in unter-schiedlichen Richtungen den Park, um in der besiedelten Zone Lebensmittel, vorzugsweise Konserven, zu organisieren. Der Park war fast menschenleer, wahrscheinlich ein Werktag, der nur wenigen Leuten ermöglichte den Erholungsraum aufzusuchen, schoß es Chris durch den Kopf.

Irritiert, ja verstört war der Gesichtsausdruck zu nennen, mit dem Hank und Chris seitens der Parkbesucher bedacht wurden. Kein Wunder, überlegte Chris , auch in ihrer Heimatwelt wären zwei Penner, die sich durch eine gepflegte Parkanlage bewegten, mit Argwohn beobachtet wor-den.

„Verdamp,“ entfuhr es Hank als sie sich dem Ausgang genähert hatten. Sein Blick fuhr entlang des gut zweieinhalb Meter hohen Zaunes, der sich links und rechts an das mit dicken Metallstreben gesicherte Ein-gangstor anschloß. Wahrscheinlich umschloß er den gesamten Park. Zu allem Überfluß war der Zaun im oberen Drittel zusätzlich mit Stachel-draht versehen. Die spitz zulaufenden, ungefähr einen halben Zentimeter dicken Metallstreben, aus denen der Zaun kunstvoll geflochten zu sein schien, wiesen, zur Abwehr unbefugter Eindringlinge, nach außen, so daß sich der obere Teil des Zaunes gut einen halben Meter über die äußere Kante des Parks wölbte. Das Eingangstor selbst schien elektronisch gesi-chert zu sein. Hank und Chris konnten eine Mutter mit Kind beobachten, die das Tor durch kurzen Daumendruck auf eine Sensorfläche am Ein-gang öffnete und so den Park betrat.

„Wie kommen wir hier wieder rein, Hank?“ fragte Chris scho-ckiert, nachdem sie die Sicherheitsmaßnahmen bemerkt hatte.

„Problem alt, kein Problem,“ brummte Hank in seinen Bart hin-ein. „Kommen,“ mit diesen Worten marschierte er zielstrebig dem Dreh-tor entgegen, welches sich erfreulicherweise automatisch in Bewegung setzte und sie ohne Probleme hinausließ. Wie sie den Weg wieder hinein bewerkstelligen wollten blieb Hanks Geheimnis.

Direkt an den Park anschließend schoss die erste Reihe der Wol-kenkratzer geradezu aus dem Boden. Fünfzig Stockwerke und mehr, ver-schachtelte Bauten und wie es den Anschein hatte, ausschließlich Wohn-bauten, zumindest deuteten verschiedene Fensterbemalungen auf Kinder-hände hin.

Fragend blickte Chris zu Hank, welcher, knapp wie immer, eine Antwort auf die nicht ausgesprochene Frage gab. „Überbevölkerung, ganze Erde sieht aus so. Parkflächen nur wenige Menschen, vielleicht nur einmal im Leben!“ Hank hatte wahrscheinlich schon viele Welten be-sucht, die dieser hier vergleichbar waren. Ja, es schien fast so, als ob er einen Plan der Stadt oder zumindest der an den Park grenzenden Straßen im Kopf hatte. Zielstrebig wandte er sich dem dem Parkeingang gegenü-berliegenden Gebäude zu. Eine Rampe führte hinab ins Kellergeschoß, wo sie auf eine Art gigantisches Förderband trafen, welches den in dieser Region wohnenden Menschen als Transportmittel diente.

Ein Band im eigentlichen Sinne war es allerdings nicht, wie Chris schnell erkennen mußte. Das Band, in Ermangelung eines anderen Begriffes blieb sie in Gedanken einfach bei diesem unpassenden, war ungefähr fünfzig Meter breit. Es bewegte sich mit stetiger Geschwindig-keit konstant in eine Richtung, wobei die jeweils außen liegenden Sekto-ren langsamer flossen. Die Analogie zu einem Fluß kam ihr in den Sinn. Ein Fluß, der in der Mitte die höchste Fließgeschwindigkeit aufwies und an den Rändern fast stillstand. Das Material schien eine homogene Masse zu besitzen. Die Oberfläche war flach und schwach glänzend. Erst jetzt fiel Chris auf, daß auch die Rampe auf der sie und Hank sich noch befan-den aus demselben Material bestand. Ein Übergang zwischen Rampe und Band ließ sich nicht erkennen.

„Fortbewegungsmittel effektiv bei zuviel Mensch,“ radebrechte Hank, der Chris ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkt hatte. „Aufpassen bei Übergang, Geschwindigkeit rasch nimmt zu.“

Tatsächlich wurde die Geschwindigkeit mit jedem Schritt den sie auf die Mitte des Bandes zu machten höher. Seltsamerweise war kaum ein Lufthauch in der gigantischen Tunnelröhre zu bemerken, durch die sie nun das Band trug. Irgendwie hatten es die Ingenieure dieser Welt ge-schafft, den Fahrtwind aus der Röhre zu verbannen, eine technische Meis-terleistung, die schon fast an Zauberei grenzte.

Nach einiger Zeit bedeutete Hank Chris ihm auf die Außenregio-nen des Bandes zu folgen. Mittlerweile war das Band voller geworden. Hatten anfänglich nur wenige Menschen das Fortbewegungsmittel ge-nutzt, so strömten nun von der linken Seite her (relativ zur Fahrtrichtung) immer größere Menschenmassen auf das Band, während wenige Reisende nach rechts hin den Strom verließen. Hank schien sich dieser Gesetzmä-ßigkeit bewußt zu sein, er wandte sich fast selbstverständlich nach rechts.
Nachdem sie das Band verlassen hatten, erklommen sie weitere Rampen, nach kurzer Zeit befanden sie sich drei Ebenen höher auf einem belebten Boulevard. Fast selbstverständlich bildete sich eine Art Gasse für die beiden heruntergekommen aussehenden Gestalten, die sich hinter ihnen recht schnell wieder schloß. Trotzdem wurden sie recht wenig be-achtet, ja eigentlich versuchten die Menschen um sie herum sie möglichst schnell aus den Augen zu verlieren, vielleicht weil sie eine Konfrontation fürchteten? Der Vergleich zwischen sich selbst und den „normalen“ Men-schen dieser Welt machte Chris schwindeln. Wie weit war sie mittlerweile von ihrem eigentlichen Leben entfernt? Sicherlich entstammten die Leute hier nicht ihrer Kultur, aber irgendwie erschienen sie ihr näher an dieser als sie selbst, zumindest derzeit. Ein Zupfen an ihrem Ärmel riß sie aus ihren Gedanken. Hank deutete auf den Eingang eines Geschäftes.
„Grundversorgung,“ murmelte er. „Dort hin!“ Er wandte sich dem Geschäft zu, während, wie zuvor, die Menschen bereitwillig Platz machten. „Hier,“ Hank drückte Chris am Eingang des Geschäftes die Lenkstange eines einem Einkaufswagen ihrer Welt nicht unähnlichen Vehikels in die Hand. „Alles einladen wir brauchen,“ flüsterte er, wäh-rend er bereits gleichzeitig Konservendosen aus den Regalen einlud.

Chris starrte ihn verständnislos an. Verwirrt suchte sie mit ihren Augen den Ausgang nach den in ihrer Welt so selbstverständlichen Scan-nerkassen ab, konnte jedoch nichts dergleichen entdecken. Hank, der ihren Blick bemerkt hatte, lachte amüsiert.

„Welt anders, hier Grundversorgung umsonst, niemand freiwillig nimmt mehr als notwendig, will schon damit?“ Sein Bart wippte hin und her während er sich vor Lachen schüttelte. Mehrere Leute schauten zu ihnen herüber, blickten jedoch sofort wieder weg als Hank ihnen böse Blicke zuwarf.

Tatsächlich bemerkte Chris erst jetzt, daß die langen Regalreihen nur wenige unterschiedliche Produkte enthielten, wobei alle als Konser-ven verpackt zu sein schienen, frische Lebensmittel konnte sie nirgends entdecken. Der Korbwagen war mittlerweile brechend voll, Hank hatte bereits einen zweiten organisiert und begann damit, diesen ebenfalls zu füllen.

„Kommen, wir gehen,“ brummte Hank nachdem auch der zweite Wagen mit Konservendosen, gefüllt mit zum Teil undefinierbarem Inhalt, überquoll.

Der Rückweg gestaltete sich nicht gerade einfach. Obwohl Hank ihr versichert hatte, daß es absolut üblich sein müsse die Korbwagen zum Abtransport großer Mengen an Lebensmitteln zu benutzen (einfach allein schon aus dem Grunde, daß sie vorhanden waren), schien außer ihnen niemand sonst einen solchen Vorrat an Konserven durch die Gegend zu kutschieren. – Ja, die Blicke der Passanten auf dem Boulevard schienen immer durchdringender zu werden. Ohnehin wurden die das Geschäft verlassenden Menschen argwöhnisch beäugt. Es schien verpönt zu sein, die Grundversorgung in Anspruch zu nehmen. Zumindest schien jeder darauf bedacht zu sein, zu zeigen, daß er selbst nicht zu denen gehörte, die die Grundversorgung in Anspruch nahmen. Eine Analogie zu ihrer eigenen Welt drängte sich auf. Auch dort war es weit verbreitet nicht zuzugeben, daß man Unterstützungen seitens des Staates erhielt, weil man schnell als nicht arbeitswillig und somit Mensch zweiter Klasse stigmati-siert wurde.

Mit den Wagen das Band zu betreten stellte sich wider Erwarten als recht einfach heraus, die Wagen schienen tatsächlich auch dafür kon-zipiert worden zu sein.

Mit der Zeit bemerkte Chris allerdings, daß Hank unruhig wurde. Immer wieder blickte er um sich, als ob er von irgendwoher den Angriff eines ‚Raubtiers erwartete. Der fragende Blick Chris` wurde nur mit ei-nem Kopfschütteln beantwortet. Allerdings erschienen ihr jetzt die Mie-nen der anderen das Band nutzenden Menschen immer unfreundlicher, vielleicht hatte Hank das gemeint und fürchtete Übergriffe?

Für Chris völlig unerwartet zog Hank an ihrem Wagen und be-deutete ihr so, das Band mit ihm zu verlassen, obwohl sie ihren Zielpunkt noch lange nicht erreicht haben konnten.

„Muß prüfen,“ beantwortete Hank die unausgesprochene Frage. Einige Rampen und Ebenen höher bedeutete er ihr in einer Nische unter einem Treppenaufgang eines Gebäudes auf ihn zu warten. „Wenn bis Sonnenuntergang nicht zurück, allein versuchen, klar?“ Chris nickte, irgendwie war ihr klargeworden, daß Hank diese Welt zu gut kannte. Vermutete er auf seine Heimatwelt getroffen zu sein und wollte nun kon-trollieren, ob dies tatsächlich so war?

„Hier, nehmen,“ der Alte griff in seine tiefen Manteltaschen und übergab ihr einen entfernt an eine Pistole erinnernden Gegenstand. „Nur benutzen, wenn unbedingt nötig, auf jeden Fall um Drehtor öffnen,“ fügte er noch an. „Hier Schieber für Stärke,“ radebrechte er weiter und deutete auf einen kleinen Knopf an einer Seite der Waffe. „Klar? – Dann gehen.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und war kurze Zeit später wieder die Rampe hinab verschwunden.

Allein gelassen starrte Chris auf die Waffe in ihrer Hand. Dies war also eines der Geräte mit denen Hank und Wolf die Strafaktion gegen die Eingeborenen durchgeführt hatten, eine der Waffen, deren Herausga-be an Gérat seinerzeit verweigert worden war. Hank hatte sie ihr ohne weiteres freiwillig, ohne daß es von ihr verlangt worden wäre, ausgehän-digt. Er schien ungleich viel mehr Vertrauen in sie zu setzen, als sie in ihn.

Es dauerte Stunden bis Hank wieder auftauchte und dann wirkte er stark gehetzt. „Schnell kommen, wir oberirdisch weiter, nehmen Wa-gen,“ waren seine einzigen Kommentare. Über ein Gewirr von Gängen und Rampen, Treppen schien es in dieser Kultur nur selten zu geben, was sich derzeit positiv auf ihr Fortkommen ob der Einkaufswagen auswirkte, erreichten sie nach und nach die Oberfläche. Auf ewig zwischen den Wolkenkratzern im halbdunklen liegenden leeren Straßen marschierten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit in Richtung des Parks. Chris wagte nicht zu fragen, warum sie nicht das Band als Transportmittel benutzten, die Entfernung hätte so viel schneller überbrückt werden können. Hank sah sich ständig um, blickte in jede kreuzende Seitengasse geradezu furchterfüllt hinein. Stunden später, wenn Chris steil nach oben blickte, konnte sie zwischen den sich scheinbar im unendlichen verlierenden Wolkenkratzern Ausschnitte des Sternenhimmels erkennen, gelangten sie zum Park.

Die Silhouetten der Bäume, die sich vor dem Nachthimmel ab-hoben, wirkten unwirklich im Sternenlicht. Hellerleuchtete Fenster der Häuser die den Park umsäumten, grenzten eine in dieser flächendecken-den Steinwüste einmalige Naturlandschaft ein, die allerdings bei weitem nicht das Attribut unberührte Natur verdiente.

„Damp,“ entfuhr es Hank. Chris sah schnell in Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers. Tatsächlich, ungefähr zweihundert Meter von ihnen entfernt, am Eingangstor zum Park, standen mehrere Personen, ob ihrer Uniformen unschwer als hiesige Ordnungshüter zu erkennen.

„Woher...?“ wollte Chris fragen, doch Hank schnitt ihr das Wort im Munde ab.

„Schnell machen, Phasenwechsel kommt! – Wo Waffe?“ Die Frau zog die ihr überantwortete Waffe aus ihrer Jackentasche. „Sie mich wollen!“ brachte Hank heraus. „Ich gehen mit Wagen vor, wenn kommen schießen, ja?“

Chris wünschte sich langsam weit fort von ihrem gegenwärtigen Standort. Irrwitzigerweise kam ihr gerade jetzt das vor so langer Zeit mit Ralf zusammen besuchte Seminar in den Kopf. Hank packte sie an den Armen und rüttelte sie ein paar mal. „Müssen uns jetzt verlassen, ja? – Will noch nicht sterben!“ Mit diesen Worten begann er seinen hochgefüll-ten Einkaufswagen durch den mittlerweile einsetzenden Nieselregen über den Platz vor dem Park zu schieben, während Chris, immer noch verwirrt ob der unüberschaubaren Lage, die Waffe in ihrer Hand entsicherte und sich überlegte inwieweit sie in der Lage war tatsächlich den Abzug durch-zuziehen.

Hank wurde fast sofort bemerkt. Die fünf vor dem Parkeingang postierten Wachen setzten sich unvermittelt in Bewegung. Hank zockelte langsam auf den Zaun zu, dabei erweckte er den Anschein, die auf ihn zustürmenden Sicherheitskräfte nicht wahrzunehmen. Erst auf einen An-ruf der Posten hin blickte er in ihre Richtung, gab dem Einkaufswagen einen Stoß auf die bereits nahe herangekommenen, schwarz gekleideten Wachleute zu, warf seine Arme in die Luft und begann auf den Parkzaun zuzulaufen. Unvermittelt tanzte auf seinem Rücken ein vielleicht finger-dicken Lichtpunkt auf, die Sicherheitskräfte waren mit Waffen ausgerüs-tet, die über eine besondere Zielvorrichtung verfügten. In dem Augen-blick, in welchem Hank einen Haken schlagen wollte, stürzte er auf den Asphalt.

Chris hob langsam ihre mit der Waffe bewehrte Hand und betä-tigte langsam den Abzug. Ein Lichtpunkt bildete sich gleichzeitig auf der Brust des vordersten Ordnungshüters. Ohne auch nur einen Gedanken an ihr tun zu verschwenden zog sie den Abzug weiter durch, der Mann brach im laufen zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Überhaupt war außer den auf dem nassen Asphalt dröhnenden Schritten nichts zu hören gewesen.

Chris begann mechanisch damit sich ein weiteres Ziel zu suchen, was allerdings dadurch erschwert wurde, daß die verbleibenden vier Wächter auseinanderstoben und versuchten die schützenden Hausfassa-den zu erreichen. Der Lichtpunkt ihrer Waffe glitt über sich schnell auf dem Boden bildenden Regenpfützen auf das nächste Opfer zu. Es war so einfach, fast wie in einem Videospiel, die Ziele zu treffen. Zwei weitere Männer brachen lautlos zusammen, bevor die beiden verbliebenen im Dunkel der Straßenschluchten abtauchen konnten.

Ohne lange abzuwarten rannte Chris auf den am Boden liegen-den Gefährten zu, erst später ging ihr auf, welches Risiko sie damit auf sich genommen hatte, da doch nur einer der verbliebenen Sicherheitsleute hätte warten müssen um sie aus dem Hinterhalt zu beschießen, wie auch sie es getan hatte. Zum Glück hielt sich wohl keiner der beiden mehr in erreichbarer Nähe auf.

Hank stöhnte laut auf, als sie ihn berührte. „Spät, spät, meine Kleine,“ krächzte er. „Lange gewartet, na ja, selbst Schuld.“ Er stierte gedankenverloren in den sich immer mehr verfinsternden Himmel, wäh-rend Windböen den mittlerweile stärker gewordenen Regen gegen ihre Körper peitschten.

„Wir müssen uns beeilen, Hank, der Phasenwechsel...,“ in ihrer Stimme schwang eine gehörige Portion Angst mit.

„Noch gut halbe Stunde, du schaffen, lassen mich hier, ist meine Welt sowieso!“

„Deine Welt, Hank?“ Chris begann zu verstehen was ihr Gefähr-te den Tag über gemacht haben mußte.

„Habe geprüft, meine Welt, leider,“ fügte er noch an. „Nimm Desintegrator und schneide Loch in Zaun, dann schnell zu Turm. Viel-leicht schaffen einen Wagen mitnehmen, lassen mich hier, keine Chance!“ Er deutete auf seine Beine die, wie Chris erst jetzt bemerkte, beide knapp unterhalb der Kniescheibe sauber abgetrennt waren. Blut war keines zu sehen, die Schnittstellen erschienen wie zugeschweißt.

Desintegrator, das Wort hinterließ einen Nachhall in ihrem Kopf. Sie blickte zuerst auf die Waffe in ihrer Hand und dann in Richtung des ersten von ihr getroffenen Wächters. Sie hatte nicht auf die Beine gezielt, sondern auf den Körper des Mannes, außerdem hatte sie sicherlich länger den Abzug betätigt als notwendig. Im Dunkel der stürmischen Nacht meinte sie erkennen zu können, daß der Rumpf des Wachmannes in zwei ungleiche Teile getrennt war. Plötzlich mußte sie sich übergeben, die Realität war doch etwas anderes als ein Videospiel zu Hause.

„Gehen jetzt,“ herrschte Hank sie an. „Wolf berichten! Vielleicht er kommen wollen, sagen, dies unsere Welt!“

„Ich kann doch unmöglich alleine...,“ versuchte die Frau aus ih-rer Kehle herauszuwürgen.

„Ich hochdekorierter Offizier Sicherheit in diese Milieu,“ rade-brechte Hank. „Wie Wolf,“ fügte er an. „Wir vor langer Zeit gesandt auf Dimensionstor um fremde Welten parallel zu unser erkunden. Wissen-schaftler reißen Loch in Wanddimension, verstehen?“ Chris nickte wie betäubt mit ihrem Kopf. „Nun zurück in Welt, werden überzeugen lassen, daß Irrtum Schießerei. Ich gezwungen von Menschen parallel, sie schie-ßen Wachen, ich gute Pension,“ Hank grinste und zeigte dabei einige halb verfaulte Zähne in seinem Mund. „Komisch, eigentlich immer gehofft zurück – aber seit Stunden entschlossen wieder weg hier, nun geht nie! – Egal, nicht viel Zeit mehr, verschwinden!“ Mit diesen Worten wies Hank seine Begleiterin von sich und sank in eine relativ bequeme Lage zurück auf die regenüberflutete Straße.

Inzwischen völlig durchnäßt fixierte Chris mit der Waffe die Me-tallstreben des Zauns, kurz zögerte sie noch, drückte dann aber ab und fuhr mit der Waffe kreisförmig am Zaun entlang. Das entstandene Loch war groß genug sie durchzulassen.

Das Unwetter tobte immer stärker, Blitze zuckten vom Himmel. In Anbetracht der Tatsache, daß nicht mehr viel Zeit bis zum Phasen-wechsel vergehen würde, ließ sie die mit Proviant gefüllten Einkaufswa-gen zurück und rannte in den Park ohne noch einmal zu Hank zurückzu-blicken.

Der Turm, weithin sichtbar, lag in etwa in der Mitte der Parkan-lage. Chris versuchte sich zu erinnern, welche Wege sie genommen hatten um zum Ausgang zu gelangen, aber schließlich entschied sie sich doch dazu querfeldein den Turm anzusteuern. Fragen schossen ihr durch den Kopf. Hatten wirklich Wissenschaftler dieser Welt den Durchgang zwi-schen den einzelnen Welten aufgebrochen? Waren Hank und Wolf auf eine einsame Mission gesandt worden? Warum standen die Wachen vor dem Parkeingang? Hatte Hank irgendetwas in seiner Abwesenheit getan, was sie auf den Plan gerufen hatte? Warum hatte Hank sich offensichtlich schließlich gegen seine Welt entschieden? Irgendwie hatte er den Entschluß wohl schon zu dem Zeitpunkt gefaßt gehabt, als er sie verließ um diese Welt zu prüfen und ihr dabei die Waffe überließ. Verdammt, wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, hätte es sicherlich einen Weg gegeben ihn zum Turm zurückzubringen.

Da, der Turm. Im Licht eines Blitzes war er bereits recht nah zu erkennen. Chris hastete über eine morastige Wiese und warf sich zuletzt gegen die sperrige Eingangstür. Die Treppe in den Keller herunter sprang sie mehr als zu laufen, wobei sie einmal fast ausgeglitten wäre, wenn sie sich nicht in letzter Sekunde am morschen Geländer festgehalten hätte. Der Kellergang kam ihr endlos lang vor. Würden die Kameraden noch da sein oder war der Phasenwechsel bereits vorbei? Hastig drückte sie die Türklinke herunter, Kerzenschein und der gewohnte muffige Geruch schlugen ihr entgegen, es war fast so als wäre sie zu Hause angelangt.

***

Stunden später wagten sie sich wieder nach oben, es erwartete sie eine bekannte Wüstenwelt in strahlendem Sonnenschein. Von den Teams die ausgeschickt worden waren, waren lediglich Ben und Rohena zurückge-kehrt. Von den anderen fehlte jede Spur. Wolf und Lobin waren ebenfalls nicht mehr im Keller angetroffen worden. Wahrscheinlich hatte der Chef, wie er sich zu nennen pflegte, auch die Übereinstimmung zu seiner Welt bemerkt und somit den Keller verlassen. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum die Wachen vor dem Parkeingang standen. Wahr-scheinlich wollten die Behörden möglichst viele der Bewohner alternati-ver Welten in Gewahrsam nehmen um Informationen zu sammeln. Die Gedanken an Ralf, Lobin und die anderen waren nicht so leicht aus dem Geiste zu verbannen. Irgendwie wirkte der Keller wie ausgestorben, jetzt wo er nur noch von drei Personen bewohnt wurde.

Ben und Rohena hatten einige Konserven herbringen können, wenn auch nicht in Einkaufswagen, so dreist zu sein wie Hank gewesen war hatten sie sich nicht getraut.

Lange, ereignislose Tage waren in dieser Wüstenwelt zu ver-bringen. Zwischen Chris und Ben entspannen sich oft Diskussionen über die Natur der Parallelwelten, jetzt nachdem Chris ihr das ihr von Hank vermittelte Wissen weitergegeben hatte. Ben wollte nicht akzeptieren, das Wissenschaftler aus der Welt Hanks und Wolfs den Durchbruch zwischen den Parallelwelten künstlich geschaffen haben könnten. Für ihn war das Flußmodell einfach realistischer, wenn er sich mit der Zeit auch mit dem Gedanken anfreunden mußte, daß es den Leuten aus Hanks Welt vielleicht gelungen war Durchbrüche in einem „Flußdelta“ aus Parallel-welten zu schaffen.

Auf jeden Fall hatten alle drei Hoffnung aus dem Vorfall ge-schöpft, da sie sich einig waren, daß Hank und Wolf davon überzeugt waren ihre eigene Welt wiedergefunden zu haben, auch wenn Hank davon wohl im Endeffekt nicht begeistert gewesen war, erschien es doch auch für sie nicht unmöglich auf ihre Heimatwelt zurückversetzt zu werden.

Die Erlebnisse von Ben und Rohena ließen noch weniger Rück-schlüsse auf die Gesellschaft der Hochhauswelt, wie sie sie inzwischen getauft hatten, zu als Chris` eigene. Weshalb die Sicherheitskräfte Hanks Beine weggeschossen hatten blieb genauso unverständlich, wie Wolfs Verschwinden. Wie hatte er überhaupt erfahren, daß es sich um seine Welt handeln könnte? Wahrscheinlich war eines der anderen Teams vor-zeitig unverrichteter Dinge zurückgekehrt und hatte Wolf durch die Schilderungen ihrer Erlebnisse dazu gebracht den Keller zu verlassen. – Wie auch immer, die wüsten Spekulationen, in die sie von Zeit zu Zeit verfielen halfen ihnen, die Wartezeit zu verdrängen.

Ben spekulierte gerne darüber, ob die Phasenwechsel wohl stän-dig in allen Welten stattfänden und sie so vielleicht eine Änderung be-wußt herbeiführen konnten, indem sie einen Wechsel auf einer Welt ab-warteten, quasi so als ob sie den nächsten Zug nehmen würden. Trotz aller Erörterungen fehlte ihnen jedoch der Mut dazu. Wer konnte denn garantieren, daß tatsächlich ein weiterer Phasenwechsel in absehbarer Zeit auf jeder Welt geschah? Vielleicht dauerte es ja wirklich Jahrzehnte, wie in Hanks Fall, bis sich die Tür zum Kellerraum wieder auf einer bestimm-ten Welt öffnete.

Die Tür zum Vorratsraum hatten sie mit dem Desintegrator ge-öffnet, da Wolf den Schlüssel wohl mit sich genommen hatte. Weitere Waffen dieser Art waren jedoch nicht mehr vorhanden, Wolf hatte wohl darauf geachtet nichts zurückzulassen, was bei einem erneuten Phasen-wechsel vielleicht in ungewollte Hände fiel, zumindest fiel ihnen kein anderer plausibler Grund für das Fehlen der Waffen ein.

Der nächste Phasenwechsel kam überraschend, eigentlich kein Wunder, da kein Hank vorhanden war, der ihn „riechen“ konnte. Chris verrichtete gerade ihre Notdurft hinter der der Eingangsseite des verfalle-nen Turmbauwerkes gegenüberliegenden Sanddüne, als ein heftiger Windstoß die ersten Regenschauer brachte. Sekunden später war sie be-reits völlig durchnäßt und beeilte sich in das schützende Innere des Kel-lers zu gelangen, da auch sie nun die Vorboten des Phasenwechsels er-kennen konnte.

Zum Glück trocknete die Kleidung relativ schnell wieder, das unangenehme Gefühl seinen Körper nicht richtig säubern zu können blieb jedoch. Sehnsüchtig dachte sie an ihre Heimatwelt, aber auch an Lobenas Welt zurück, auch wenn die letztendliche Konfrontation mit den Eingebo-renen grauenvoll gewesen war, hätte sie sich doch irgendwie vorstellen können dort für immer zu leben.

„Du träumst,“ erwiderte Ben immer, wenn sie den Gedanken an eine Welt aussprach, in der man vielleicht ein neues Zuhause finden konnte. „Es wird nicht funktionieren, du bist ein Kind deiner Welt und deiner Zeit! In andere Kulturen abzutauchen würde bedeuten sich voll-ständig assimilieren zu lassen, das ist so gut wie unmöglich! – In deiner Welt gab es doch auch genug Beispiele dafür, daß Kulturen aufeinan-derprallten, wenn Menschen von einem in ein anderes Land zogen, zum Beispiel der Erwerbsmöglichkeiten wegen. Richtig heimisch sind die meisten dort nie geworden, ihre Kinder sicherlich, die wuchsen ja auch in der neuen Kultur auf, aber die Eltern hatten doch immer ihre Probleme, und wenn es nur die ablehnende Haltung der Mitmenschen ihnen gegen-über war.“

In vielen Dingen mußte sie ihm Recht geben, aber nicht in allen. Es war möglich in einer anderen Kultur zu leben ohne sein selbst voll-ständig aufzugeben, sie hatte Bekannte in ihrer eigenen Welt gehabt, die dieses getan hatten. – Aber, mußte sie sich im stillen eingestehen, wußte sie wirklich was in ihren Köpfen vorging? So gut hatte sie sie nun auch wieder nicht gekannt.

Der Phasenwechsel brachte sie in eine Welt mit unberührter Wildnis, ohne jegliche menschliche Besiedlung, zumindest nicht in für sie erreichbarer Nähe.

***


Es war wieder einmal an der Zeit die Kleidung zu wechseln. Ho-se und Sweatshirt hatte Chris nun bereits seit mehreren Monaten getragen und zwischendurch in eher unregelmäßigen Abständen notdürftig gerei-nigt. Hanks Gebot, die Kleidung tatsächlich erst dann zu wechseln, wenn es unumgänglich war, wirkte immer noch nach. Mittlerweile waren die Kleidungsstücke jedoch so stark verschlissen, daß man wahrlich nicht mehr von Kleidungsstücken sprechen konnte. Viel Auswahl war im Vor-ratsraum nicht mehr vorhanden, wie sie wohl wußte. Aber es mußte jetzt einfach sein. Sie hatte den Vormittag über gejagt. Mit der Beute konnten sie eigentlich zufrieden sein. Es war für sie inzwischen ein leichtes Tiere mit der ihr von Hank überantworteten Waffe zu erlegen. Sie hatte darin eine solche Fertigkeit erlangt, daß sowohl Rohena als auch Ben darauf verzichteten diesbezüglich für ihr leibliches Wohl zu sorgen. Die Beiden hatten den Part der Zubereitung und der Suche nach eßbaren Pflanzen übernommen.

Die Phase in dieser Welt der, scheinbar, unberührten Wildnis (den Turm gab es auch hier!), hatte sich als äußerst stabil erwiesen. Ben hatte bereits wiederholt die These geäußert, daß die Phasenwechsel ir-gendwann einmal ganz aufhören könnten, da die Phasen, statistisch gese-hen, immer länger zu werden schienen.

Chris schleppte ihre Jagdbeute, zwei hasenähnliche Tiere und ein junges Wildschwein, die Kellertreppe herunter und den Gang entlang. Die Tür zu ihrem Raum war nur angelehnt, so daß sie bereits die Geräusche, die aus dem Keller selbst kamen hören konnte, bevor sie die Tür ganz erreicht hatte. Stockend blieb sie stehen und lauschte. Irgendwie wollte sie ihren Ohren nicht trauen, entschied sich dann jedoch dazu den Weg wieder zurückzugehen und draußen zu warten. Kurze Zeit später trat Ben aus dem Turm heraus, der in dieser Welt aus unerfindlichen Gründen keine Tür mehr besaß. Seine Miene schien ihr ein gewisses Maß an Schuldbewußtsein auszudrücken, aber doch nicht soviel, wie sie es sich erhofft hatte.

„Chris, ich...,“ er wurde von ihr unterbrochen.

„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Ben,“ entgegnete sie schnell. „Es ist euer gutes Recht.“ Sie machte eine Kunstpause während derer er vergeblich versuchte seine schwarzen, verfilzten Locken aus dem Gesicht zu streichen. „Komm, wir müssen uns um das Essen kümmern!“ Ich hätte wenigstens erwartet, daß ihr mich vorher unterrichtet, fügte sie in Gedanken hinzu.

Ben blickte nach wie vor bekümmert drein. „Es ist nicht so, wie du denkst. Rohena und ich... – Wir wollen dich nicht aus unserer Gemein-schaft ausstoßen, es ist einfach nur passiert.“

Warum war sie eigentlich so schockiert? Fragte sie sich selbst. War es Eifersucht? – Falls ja, worauf? Ben war nie als Partner in ihren Gedanken erschienen. Nein, Ben hatte es ausgesprochen. Ausgestoßen aus einer, vermeintlich, intakten Gesellschaft, in der nun zwei von dreien enger miteinander verbunden waren. Als sie noch zu vielen im Keller hausten, hatten derartige Konstellationen keine Rolle gespielt, aber nun?

„Laß uns das Essen zubereiten, ihr habt sicher auch Hunger,“ versuchte sie das Thema abzuschließen.

***

Weitere drei Monate verbrachten die Gefährten in der unberühr-ten Wildnis, bevor sich ein erneuter Phasenwechsel ankündigte. Diesmal hatten sie lange Zeit, fast drei Tage, gerechnet von den ersten Vorboten, bis zum tatsächlichen Eintritt des Wechsels, um noch Vorräte einzula-gern, die sie allerdings, wie sich erst später herausstellen sollte, nicht benötigten.

Den Turm hatte es auf dieser Welt gegeben, er war jedoch wohl schon vor langer Zeit eingestürzt und die einzelnen Materialien von den Eingeborenen zum Bau ihrer armselig zu nennenden Behausungen ab-transportiert worden.
Ein sonniger Herbstmorgen erwartete die drei Gefährten, als sie die Treppe emporstiegen. Die obersten Stufen, ab dem letzten Treppenab-satz, waren von Erde bedeckt und teilweise mit Moos bewachsen. Ein halbvermoderter Eichenstamm war über das Loch gefallen und deckte es gut zu einem drittel ab, dummerweise gerade an der Seite, an der die Stufen ins Freie führten. Der Stamm, gut einen Meter im Durchmesser, verhinderte so einen einfachen Ausstieg von den noch begehbaren Trep-penstufen aus.
Schließlich gelang es ihnen aber doch indem sie sich gegenseitig als Leitern benutzten, das Hindernis zu überwinden.

Ihr Blick konnte von der etwas erhöhten Position in der sie sich befanden, der Turm lag auch in dieser Welt auf einer Anhöhe, weit ins Land schweifen. Ringsum waren, so weit das Auge reichte, Felder, Wie-sen und Ackerflächen getrennt durch kleinere Baumbestände zu erkennen. In einer Senke, nahe einem Bachlauf konnten sie ein Dorf ausmachen.

Der Tag war sonnig, aber kalt, der erste Frost schien nicht mehr lange auf sich warten zu lassen. In ihrer dünnen, dem Klima ihres letzten Aufenthaltes durchaus angemessenen Kleidung, froren die Gefährten beträchtlich. Trotzdem entschieden sie sich gegen eine erneute Kletterpar-tie um wärmere Kleidung zu holen und machten sich auf den Weg zu dem vielleicht drei Kilometer entfernt liegenden Dorf.

Die armseligen Hütten schmiegten sich geradezu in die Hänge des kleinen Tals hinein. Je näher sie den Behausungen kamen desto offen-sichtlicher wurde, daß es sich bei den Bewohnern dieser Welt um eine Zivilisation handeln mußte, die in etwa dem Technikstand des Mittelalters aus Chris und Bens Welten beziehungsweise Rohenas Milieu entspra-chen. Die Hütten waren hauptsächlich aus Lehm und Holz gefertigt, sel-ten sah man auch Steine, die, sofern überhaupt vorhanden, lediglich beim Bau der Unterkonstruktion benutzt worden waren.

Eine auf einem Feld am Wegesrand arbeitende Bäuerin hatten sie fast übersehen. Die Frau war in grob gewebte Wollsachen gehüllt und widmete sich ihrer Arbeit. Chris runzelte etwas verwirrt die Stirn. Sie war zwar nicht gerade das, was man als Expertin im Bereich Landwirtschaft bezeichnen konnte, trotzdem kam es ihr doch reichlich spät im Jahr dafür vor Heu zu Ballen zusammen zu rollen. Wahrscheinlich hatte den armen Leuten hier das Wetter einen enormen Streich gespielt und war viel früher als normal vom Spätsommer in einen kalten Herbst umgeschlagen.

„Ah, neue Gsichtr,“ rief die Frau , als sie die Gefährten bemerkt hatte. „Kommt von weit her?“ Die so angesprochenen nickten befremdet, es grenzte jedesmal fast an ein Wunder, daß Sprachunterschiede trotz der offensichtlichen kulturellen Differenzen so gering zu sein schienen. „Sucht Arbeit? Braucht warme Sachen? – Schwer hier, haben kaum selbst genug um über´n Winter zu komm.“ Sie hielt kurz inne und überlegte bevor sie weitersprach. „Der Hannes, der könnte vielleicht ´n paar Ernte-arbeiter brauchn. Letztes G´höft auf linker Seite wenn ihr durchs Dorfl durch seid. Fragt dort, hm?“

Rohena ergriff die Initiative für ihre Gefährten. Ob es daran lag, daß sie hier eine Art Seelenverwandschaft zu der Frau verspürte oder einfach nur als erste ihre Gedanken sortiert hatte, war schwer zu erken-nen. „Habt Dank, Frau. Wir suchen tatsächlich Arbeit und Unterkunft. Wir kommen von weit her, aus dem Süden. Dort hat die Sonne unsere Ernten fast vollständig verbrannt, wir dachten hier vielleicht...?“

„Ja, daß ihr aus wärmren G´filden komm, sieht man,“ lächelte die Frau ihnen entgegen. „Aber unsre Ernte hier ist auch nicht gut dies Jahr. Zu viel Regen im Sommer, zu frühr Wintr. – Aber, wie g´sagt, der Hannes kann sichr Erntearbeiter gbrauchen, er muß noch viel einfahrn für´n Fürsten.“ Mit diesen Worten widmete sich die Bäuerin wieder ihrer Arbeit zu.

Die nächsten Wochen waren gefüllt mit harter Knochenarbeit auf den Feldern der Bauern. Das Wetter hatte sie in diesem Jahr tatsächlich eiskalt erwischt. Zum Teil war noch nicht einmal das Korn abgeerntet geschweige denn das Heu eingefahren worden. Dabei war der erste Frost schon da.

Trotz allem waren die Gefährten einigermaßen zufrieden mit der Situation in die sie sich mühelos hatten einleben können. Die Dorfge-meinschaft bestand aus einfachen Bauern und wenigen Handwerkern, allesamt gesellige Leute, mit denen es sich aushalten ließ, auch wenn sie eingangs mancherlei seltsame Blicke ob der Tatsache zugeworfen be-kommen hatten, daß sie eine Gruppe aus zwei Frauen und einem Mann bildeten. Die Dorfbewohner gaben sich jedoch relativ schnell mit der Erklärung zufrieden, daß es sich bei Chris um Bens Schwester handele während Rohena sich als seine Ehefrau einführte.

Der Winter war hart, Ben zog sich eine schwere Grippe zu. Meh-rere Dorfbewohner, zwei alte Männer, eine alte Frau und drei kleine Kin-der im Alter zwischen zwei und fünf Jahren starben an der heimtücki-schen Krankheit. Ärzte schienen in dieser Gesellschaft sehr rar zu sein. Man griff auf Hausmittel zurück, Antibiotika oder andere Arzneimittel waren schier unbekannt. Leider hatte sich herausgestellt, daß auch im Kellerraum keine diesbezüglichen Arzneimittel mehr aufzutreiben gewe-sen waren. Irgendwie fehlte ihnen das Genie eines Hank, der ansonsten sicherlich an all solche Dinge gedacht hätte. Fast täglich hockten die Gefährten zusammen und diskutierten über den ausbleibenden Phasen-wechsel. Auf dieser Welt gefangen zu sein erschien noch schlimmer als in einer hochtechnisierten, aber vielleicht durch Umweltverschmutzung nicht so ansprechenden Welt.

Der Frühling wurde enthusiastisch begrüßt, als er sich endlich einstellte. Sehnsüchtig hatten ihn alle Dorfbewohner erwartet. Die letzten Winterwochen waren vom Hunger gekennzeichnet gewesen. Zu allem Überfluß hatte der Fürst auch noch seine Steuereintreiber übers Land gesandt und von den Bauern einen Sonderzehnt verlangt, da seine Speise-kammern leer waren und er schließlich auch einen Haufen Soldaten zu ernähren hatte. Die Bevölkerung murrte, aber niemand wagte den offenen Aufstand, da die Steuereintreiber immer in Gemeinschaft von wenigstens einer Kohorte Soldaten auftraten. Man konnte froh sein, wenn sie am frühen Morgen in ein Dorf einritten, kamen sie erst am Abend, so blieben sie womöglich über Nacht, wollten fürstlich bewirtet werden und verlang-ten nicht selten die Frau und die Töchter der Bauern für die Nacht, so hörte man jedenfalls aus vielen Nachbargemeinden. Aus unerfindlichen Gründen hatten sie das kleine Dorf jedoch den ganzen Winter über ver-schont, niemand konnte ahnen, daß sie ausgerechnet am Tag des Früh-lingsfestes in die kleine Gemeinschaft einfallen sollten.

Den ganzen Tag über hatten die Bewohner des Dorfes das a-bendliche Fest vorbereitet. Auf dem Platz in der Dorfmitte waren Tische und Bänke aufgestellt worden, Tiere die man mühsam über den Winter gebracht hatte wurden geschlachtet, die kargen Speisekammern wurden geplündert, man freute sich auf dem Frühling.

Eine Staubwolke, die sich die Straße entlangwälzte kündete die Steuereintreiber an. Vielleicht hatte irgendjemand in einem Nachbardorf vom bevorstehenden Fest berichtet, auf jeden Fall waren sie hier und trieben die Dorfbewohner auf dem festlich geschmückten Platz zusam-men. Der Anführer hieß einen seiner Untergebenen ein Pergament entrol-len und den Befehl des Fürsten zur Abgabe eines Sonderzehnts verkün-den. Angesichts der gedeckten Tafel war so manches Schmunzeln auf den Gesichtern der Soldaten zu erkennen, freuten sie sich doch bereits darauf ihren Teil der Steuer direkt zu erheben.

Eine Wahl blieb den Bauern angesichts der Waffen der zehn Mann starken Truppe nicht. Was hätten auch Heugabeln gegen Lanzen, Schwerter und Langbögen ausrichten können. Nicht das einer der Unter-gebenen je auf die Idee gekommen wäre sich gegen den Fürsten aufzuleh-nen. Die Dorfgemeinschaft, die für Chris ursprünglich so ausgesehen hatte, als ob sie sich aus freien Bauern zusammengesetzt hatte, entpuppte sich nunmehr fast als eine Art Fronsklaven, obwohl sie alle nach dem Buchstaben des Gesetzes frei zu sein schienen.

„Requirier er auch einen Karren auf dem wir Viehfutter mitfüh-ren können,“ bellte der Anführer einen seiner Untergebenen an, der sich gerade angeschickt hatte die Hälfte der im Dorf gehaltenen Kühe samt zweier Knechte als des Fürsten Eigentum zu bestimmen.

Ohnmächtig sahen die Gefährten zu, wie sich die Steuereintrei-ber anschließend über die für das Fest vorbereiteten Speisen hermachten. „Wir müssen eingreifen,“ flüsterte Chris Rohena ins Ohr. „Wie sollen die Leute hier überleben, wenn sie so ausgeplündert werden?“

„Sie werden überleben, ich kann es dir versichern. Auf meiner Welt war es kaum anders. Die Dorfgemeinschaft wird es schaffen. Sie nehmen ihnen viel, aber nicht alles. Es wird hart, einige werden sterben, aber die Gemeinschaft wird überleben.“

„Ich hole die Waffe aus der Höhle, wir werden sie vertreiben und...“

„Du wirst schön hierbleiben und dich höchstens unauffällig ver-ziehen. Ich glaube die zwei Soldaten an dem Tisch da hinten haben ein Auge auf uns geworfen.“ Rohena zog sie in den Schatten einer Hütten-wand zurück. „Was meinst du wohl wird passieren, wenn du mit dem Desintegrator in der Hand da raus auf den Platz gehst? – Ich kann es dir sagen, sie werden dich auslachen. Vergiß nicht, sie kennen hier auf dieser Welt noch nicht mal Explosivgeschoße! Du müßtest sie alle töten um zu verhindern, daß sie das Dorf plündern, wobei sie, nebenbei angemerkt, den Dorfbewohnern eine Chance lassen werden. – Was meinst du wird passieren, wenn du sie getötet hast? Unsere Freunde hier werden nichts besseres zu tun haben, als dich und wahrscheinlich auch Ben und mich der Obrigkeit auszuliefern, aus Angst vor Vergeltungsschlägen. Meinst du der Fürst würde es sich gefallen lassen, wenn seine Steuereintreiber in einem Dorf hingemetzelt werden? – Du hättest dann nur noch die Mög-lichkeit einer Revolution, wobei ich leider sagen muß, daß du dafür unter der Bevölkerung nur wenig Anhänger finden wirst und der nächste Pha-senwechsel ist noch weit! – Also laß es sein und komm mit.“ Wortlos zog sie die immer noch nicht überzeugte Chris in die an das Dorf angrenzende Hügellandschaft hinein um sich zumindest für ein paar Stunden den Bli-cken der Soldaten zu entziehen. Aufmerksame Beobachter hätten sicher-lich bemerkt, daß sich auch einige der anderen Dorfbewohner, vorzugs-weise jüngere Frauen und Kinder in die Hügel davonmachten. Glückli-cherweise entschied der Anführer der Steuereintreiber jedoch, daß das Nachtlager erst im nächsten Ort aufgeschlagen werden sollte und befahl kurze Zeit später den Aufbruch. Die zwei Knechte erhielten den Auftrag die Herde in die nächstgrößere Stadt zu treiben um sie dort zu verkaufen. Geld ließ sich einfacher zum Fürsten transportieren, welcher mehrere Tagesritte entfernt residierte.

Frühling und Sommer brachten harte Arbeit und seltsamerweise einige Gewitterstürme in denen kein Phasenwechsel erfolgte. Die Gefähr-ten hatten sich unter dem Vorwand verirrtes Vieh aus den Wäldern zu holen immer in den Kellerraum begeben. Das Ende des Gewitters brachte jedoch in keinem Fall den ersehnten Phasenwechsel herbei.

Die Ernte dieses Jahres war reichlich, die Speisekammern konn-ten gefüllt werden. Zum Herbst hin sollte ein Erntedankfest abgehalten werden. Überschattet wurden die Vorbereitungen hierfür jedoch von einer erneuten Grippeepidemie welche rund die Hälfte der Dorfbewohner befal-len hatte. Diesmal hatte es auch Rohena erwischt. Ben und Chris wachten abwechselnd an ihrem Bett, während es ihrer Gefährtin zusehends schlechter ging.

Ob es die selben Steuereintreiber wie das letzte Mal waren, konnte Chris nicht mit Gewißheit sagen. Sie hatte den Abend über an Rohenas Bett gewacht, als plötzlich die Tür der kleinen Hütte aufgesto-ßen wurde und zwei Soldaten hereinplatzten. Durch die Tür konnte Chris auf der Dorfstraße mehrere Fackeln in den Händen haltende Reiter erken-nen, die damit begonnen hatten die Dorfbewohner auf der Straße zusam-menzutreiben. Auch Chris und die schwerkranke Rohena wurden nach draußen gezerrt.

Irgendetwas mußte vorgefallen sein, vielleicht war dieser Trupp auch nur besonders brutal. Ohne Rücksicht auf die durch die Krankheit extrem geschwächten Menschen mußten diese sich in einer Reihe auf der Dorfstraße aufstellen, während der Anführer langsam an ihnen vorbeiritt und prüfend in ihre Gesichter blickte. Es schien fast so, als ob er jeman-den suchte. Langsam dämmerte es Chris. Vor ein paar Tagen war ein Bauer aus einer Nachbargemeinde durch das Dorf gezogen und hatte berichtet, daß in einer Ansiedlung weiter nördlich ein Steuereintreiber hinterrücks ermordet worden sei. Vermutlich suchte dieser Trupp hier den Täter.

Unbefriedigt ritt der Soldat die Reihe wieder zurück, nachdem er sich vergewissert zu haben schien, daß der Gesuchte nicht unter den Dorfbewohnern zu finden war. Mit einem Satz schwang er sich vom Pferd und gab seinen Leuten zu verstehen, daß man hier das Nachtlager auf-schlagen wolle.

Grinsend ergriffen die zwei Soldaten, die immer noch in Chris Nähe standen, die Frau und schliffen sie zur Hütte zurück. Rohena, die bis dahin von Chris gestützt worden war, stürzte zu Boden. „Ben,“ schrie Chris auf, als ihr dämmerte, was die zwei mit ihr vorhatten. „Ben,“ schrie sie erneut, konnte ihn jedoch im Gewühl der Dorfbewohner nicht erken-nen.

Im Innern der Hütte wurde sie unsanft auf ein Lager geworfen. Während einer der Männer bereits an seiner Hose nestelte drückte der andere die verzweifelt um sich schlagende Frau aufs Bett nieder. „Ruhig, Täubche, mach Spaß,“ entfuhr es dem einen. Die nächsten Minuten waren die Hölle für Chris. Mehrfach fielen die zwei Soldaten über sie her. Zum Schluß lag sie nur noch wimmernd auf dem Lager und ließ alles ohne Gegenwehr über sich ergehen.

„Laßt sie los,“ die Stimme ertönte plötzlich im Innern des Rau-mes. Keiner der Anwesenden hatte bemerkt, wie Ben die Tür geöffnet hatte und eingetreten war. In der Hand hielt er den Desintegrator. Er muß zum Keller gelaufen sein, als ich nach ihm gerufen habe, schoß es Chris durch den Kopf.

„Dein Frau,“ grinste ihn einer der Soldaten an. „Sind fertig kannst weiter mach, ist gute Frau,“ radebrechte der Mann, während er sich von Chris abwandte und einen Schritt auf Ben zutrat.

„Keinen Schritt weiter,“ schrie dieser nervös und richtete die Waffe auf den Soldaten. Dieser, sich der Gefahr in der er schwebte voll-kommen unbewußt trat jedoch noch näher.

Ben schloß die Augen und zog den Abzug durch. Ohne einen Laut von sich zu geben brach der Mann vor den Augen seines Kameraden zusammen. Dieser stürzte sich auf den Schützen und warf ihn zu Boden. Der Desintegrator wurde in hohem Bogen aus Bens Hand geschleudert. Der Angreifer war in guter körperlicher Verfassung, Ben hatte keine Chance. Bereits nach wenigen Augenblicken hatte er seine Hände um Bens Hals gelegt und drückte zu, Ben wurde schwarz vor den Augen.

Wie in Trance hatte Chris das Geschehen miterlebt, nun wälzte sie sich von ihrer Lagerstatt und suchte die Waffe. Der Desintegrator war unters Bett gerutscht, dummerweise ziemlich weit, so daß sie wertvolle Sekunden damit vergeudete an ihn heranzukommen. Endlich hielt sie ihn in der Hand. Zum zweitenmal in ihrem Leben legte sie nun auf einen Menschen an und drückte ab. Der Soldat brach über dem leblos daliegen-den Ben zusammen. Danach wußte sie nichts mehr.

Wie lange es gedauert hatte, bis Ben wieder zu sich gekommen war, konnte er nicht sagen. Er fand Chris wimmernd in fötaler Haltung auf dem Bett liegend vor, den Desintegrator fest in der Hand haltend. „Gib mir die Waffe,“ forderte er sie leise auf. Chris schien zuerst auch auf ihn anlegen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders und händigte ihm die Handfeuerwaffe aus. Willig ließ sie sich von ihm nach draußen führen. „Wir müssen hier weg, ich bringe dich in den Keller, in Ord-nung?“ flüsterte er ihr zu.

Sie nickte wortlos. „Rohena?“ entfuhr es ihr dann.

„Sie ist bereits im Keller, ich habe sie schon dahin gebracht,“ klärte er Chris auf.

Deshalb hatte es also so lange gedauert, er hatte sich erst um sei-ne Gefährtin gekümmert, bevor er ihr zur Hilfe kam, obwohl sie doch akuter bedroht gewesen war. Befremdet blickte sie den Mann an, der nach eigenen Aussagen aus einem Milieu stammte, welches dem ihrigen sehr ähnlich war.

Den folgenden Tag verbrachten die Gefährten zusammen im Keller, wobei es Rohena immer schlechter ging. Sie hustete sich die Seele aus dem Leib, immer öfter spuckte sie dabei auch Blut. Irgendwie riß das jedoch Chris aus ihrer Lethargie. Hier hatte sie eine Aufgabe, die sie daran hinderte, an das ihr widerfahrene zu denken. Während Ben des öfteren die Treppe erstieg um einen Blick auf das Dorf zu werfen, blieb sie bei der Schwerkranken und versuchte ihre Beschwerden so gut es ging zu lindern.

Irgendwann riskierte Ben es, sich aus dem Keller hinauszuwagen und in Richtung Dorf zu marschieren. Es dauerte Stunden bis er wieder zurück war, bepackt mit Lebensmitteln. Fragend blickte Chris ihn an als er die Bündel mit Broten und gebratenem Fleisch in die Vorratskammer schleppte. Stumm schüttelte er den Kopf und bedeutete ihr ihm nach draußen zu folgen. Ohne ein Wort zu verlieren stiegen sie die Treppenstu-fen nach oben, die aus dem Keller führten. Der umgestürzte Baumstamm lag nach wie vor über dem Treppenausstieg. Sie hatten ihn nicht entfernt, da er eine gute Tarnung abgab.

Ben deutete in Richtung der Senke in der das Dorf lag. Dicke Rauchwolken stiegen von dort in den Himmel. Erschrocken mußte Chris feststellen, daß das Dorf, welches ihnen im letzten Jahr als Unterkunft gedient hatte, fast dem Erdboden gleichgemacht worden war.

„Warum?,“ hauchte sie in die angenehm frühlingshafte Luft hin-aus.

„Rache,“ entgegnete Ben. „Rache! Da die am Mord Schuldigen nicht gefunden werden konnten, haben sie das ganze Dorf abgefackelt.“

„Die Menschen? – Die Kinder?“

„Zum Teil ermordet, zum Teil zum Frondienst auf den Gütern des Fürsten mitgeschleppt. Die Kranken hat man einfach liegen lassen. Wer zu schwach war zum laufen, der mußte zusehen wo er blieb. – Ich denke wir haben den Leuten hier keinen Gefallen getan. Ein paar Kranke haben es geschafft sich in einen relativ unversehrten kleinen Stall am anderen Ende des Dorfes zu retten. Vielleicht werden sie es schaffen, ich weiß es nicht.“

„Holen wir sie her, zusammen...“

„Nein,“ entgegnete der Mann scharf. „Sie würden uns bei der erstbesten Gelegenheit an den Pranger stellen. – Verstehst du, Chris, sie wissen, daß wir das da unten verursacht haben. Sie verstehen nicht, wa-rum wir uns aufgelehnt haben. In ihren Augen ist es das gute Recht des Fürsten und seiner Untergebenen so zu handeln wie es geschehen ist. Sie würden uns ausliefern. Wären sie nicht so geschwächt gewesen, sie hätten mich festgehalten!“ – Nein, uns bleibt nichts anderes übrig, als hier auf den nächsten Phasenwechsel zu warten.“

„Sofern er kommt! Wie lange willst du in dem Loch da unten warten? Wieviele Vorräte haben wir denn? Für eine oder für zwei Wo-chen?“

„Im Frühling gibt es in dieser Gegend hier oft ein paar Stürme, daß hat mir vor zwei Wochen noch einer unserer ehemaligen Nachbarn da unten erzählt. Vielleicht...“

***


Es dauerte weitere drei Monate binnen derer sie mehr schlecht als recht von dem lebten, was das Land rund um sie herum zu bieten hat-te. Rohena war gestorben, sie hatte keine Chance gehabt gegen den heim-tückischen Grippevirus, wenn es denn einer gewesen war. Sie hatten sie nahe des Treppenausgangs begraben. Auch mehrere der kranken Dorfbe-wohner, die sich in den Stall gerettet hatten, hatten es nicht geschafft. Die Überlebenden waren in eine Nachbargemeinde gezogen, so daß Ben und Chris daß Dorf und seine unmittelbare Umgebung alleine zur Verfügung stand.

Irgendwann hatte Chris bemerkt, daß sie schwanger war. Es war ein Schock für sie gewesen. Ben hatte nach Kräften versucht sie psy-chisch zu stützen, irgendwie war es ihm auch gelungen sie aus so man-chem Tief herauszuholen, das Grundproblem blieb damit aber trotz allem vorhanden, in ihrem Leib wuchs ein Kind heran. Ein Kind, an dessen Zeugung sie nur mit Grauen zurückdenken konnte. Ein Kind, welches unter den gegebenen Umständen aufzuziehen so gut wie unmöglich schien.

Unvermittelt kam der Phasenwechsel. Ein Gewitter zog am hel-lichten Tag am Horizont herauf. Stürmische Böen bliesen über das Land, Chris und Ben hatten sich in den Keller verzogen und harrten der Dinge die da kommen würden. Stunden später wagten sie sich wieder die Treppe hinauf. Der Baumstamm war verschwunden, das Treppenhaus schien relativ intakt, ja es gab sogar eine Treppe, die, wenn auch verfallen, in höhere Stockwerke des Turmes führte. Die nach draußen führende Tür glich der in Chris Welt wie ein Ei dem anderen, soweit sie das nach der verstrichenen Zeit überhaupt noch sagen konnte. Die Tür öffnete sich in eine Parklandschaft, welche, wie sie später feststellen sollten, mitten in einer großen Stadt lag.

Epilog


Die Tochter warf das Manuskript wütend auf den Tisch, wo ihre Mutter nur blieb? Unschlüssig ging sie ein wenig auf und ab im Zimmer und blickte durch die Fenster in das draußen wütende Unwetter hinaus. Es schien ein halber Weltuntergang da draußen stattzufinden, starke Wind-böen bogen die Tannen zur Seite, Sturzbäche von Wasser ergossen sich über die Wiese vor dem Haus. Sie war froh, daß sie jetzt nicht in ihrem Schwebewagen unterwegs war.

„Mutter?“ rief sie die Kellertreppe hinab ohne eine Antwort zu erhalten. Unschlüssig blieb sie noch eine Zeitlang am oberen Treppenab-satz stehen, dann überwand sie sich und ging die Stufen hinab. Der Kel-ler, den sie als Kind hassen gelernt hatte, lag verlassen da, von ihrer Mut-ter fehlte jede Spur.

 

Hallo.
Hier der Versuch einer konstruktiven Kritik. Ich werde nicht den Inhalt kritisieren.
Das ist Geschmackssache.

Sie blickte wieder zum Fenster, wo sie nur blieb?
Das sind zwei Sätze.

Da, dort konnte man die Frontlichter eines Schwebewagens er-kennen.
Seltsamer Satzbau.
Da! Dort konnte....
wäre besser
Wohl einige Wesensarten, aber auch nicht so sehr, als daß es ins Gewicht ge-schlagen hätte.
schlug!
oder
überwog
„Der Keller! Draußen zieht ein Gewitter herauf und Mutter wan-dert in den Keller! Am liebsten würdest du mich an die Hand nehmen und wie früher die ganze Nacht da unten mit mir hocken. – Weißt du eigent-lich wie viele Stunden beim Therapeuten mich diese Kindheitserlebnisse gekostet haben? Seit Vater verschwunden war hast du damit angefangen. Und nun dies!
Au weia!
Ein Gewitter zieht auf!
Seit Vater verschwand, hast du damit angefangen.

oder so ähnlich

Völlig durchnäßt erreichten die zwei Lehrgangsteilnehmer den Eingang eines kleinen, wahrscheinlich baufälligen, Aussichtsturmes unter dessen Vordach sie Schutz vor den Unbilden des Wetters suchen konnten.
Unbilden??
Was du meinen??
Aber auch dieses Refugium konnte nicht von Dauer sein, da der Schlagregen von der Seite her unter das Vordach drang und sie weiter durchnäßte.
Schlagregen??=
Platzregen?
„Komm her, ich schirme dich vor dem Regen ab,“ ließ sich die Stimme des Mannes
ließ die Stimme des Mannes...


..etc etc

Solltest du vielleicht doch noch einmal überarbeiten.

 

Hallo André,

erst mal vielen Dank für die Mühe, die Du Dir da gemacht hast. Eine solche Kritik ist nicht mal so eben geschrieben.

Tja, in Deutsch hatte ich meistens eine sechs minus, falls das möglich war und das scheint sich ja hier wiederzuspiegeln. Leider läßt es meine Zeit nicht zu die Story in absehbarer Zeit zu überarbeiten.

"Unbilden" des Wetters sind m. E. aber ein allgemeiner Begriff, der die negativen Auswüchse des Wetters beschreibt. - Oder sollte ich den wirklich irgendwann einmal selbst kreiert haben?

Schlagregen ist für mich ein Regen der von der Seite her (vom Wind gepeitscht) irgendwo gegenschlägt. Ist das eine kreation von mir oder kennt irgendjemand anderer auch noch diesen Begriff?

Die anderen Formulierungen sind nun aus der Rückschau betrachtet wirklich ein wenig dämlich, ich lasse mir einfach nicht genug Zeit mit dem Schreiben.

Was fange ich denn mit den Eingangsworten an? Wie gefällt Dir denn die Story? Hast Du durchgehalten oder ist sie absolut nicht Dein Fall?

ad astra

 

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