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Der Uhrmacher
Die Zeit war für ihn abgelaufen.
Vor dem Laden wehte der Wind Papierfetzen alter Zeitungen umher. Es war noch früh am Morgen. Trotzdem schien die Zeit dahin zu rasen, wie ein Zug, der seine Fahrgäste am Bahnsteig stehen lässt. Die Sonne, die blutrot über den Baumwipfeln anschwoll, beeilte sich; sie versetzte die süß schlummernden Gassen in Aufruhe. Der Asphalt versank allmählich in der endlosen Flut aus Menschen, die der Zeitdruck Tag für Tag durch die Straßen spülte. Die Stadt hielt den Atem an, um nicht im Lärm und Dreck ihrer Bewohner zu ersticken. Der Morgenhimmel war von gewaltigen Vogelschwärmen bevölkert, die ihn wie Tintenkleckse auf weißem Papier verschmutzten. Sie flogen und kreischten ohne Unterbrechung, denn nirgends gab es einen freien Platz zum Landen. Es fehlte der Schnee, um die Menschen davon zu überzeugen, dass nun Weihnachten war, die Zeit der Ruhe und Besinnlichkeit. Vom Wechsel der Jahreszeiten hörten sie nur im Wetterbericht. Den Winter erkannten sie daran, dass die Geschäfte zwei Stunden länger öffneten, und das Laternenlicht früher als gewöhnlich brannte.
Zweifelsohne folgte das Stadtleben eigenen Gesetzen der Zeit. Seit der Erfindung der Glühbirne und dem Siegeszug des elektrischen Lichtes schenkte man ihr immer weniger Beachtung, zwängte sie in immer kleinere Einheiten, die nicht im Geringsten der menschlichen Natur entsprachen, und die Leute begannen, sie zu ignorieren. Skrupellos machten sie die Nacht zum Tag. So hörte der Puls der Stadt nie auf zu schlagen, und nun stand der Herzstillstand kurz bevor.
Eine Ausnahme war der kleine Laden des Uhrmachers. Dort blieb die Zeit stehen, klopfte höflich an die hölzerne Ladentür, kehrte ein, und erholte sich vom rastlosen Leben in der Stadt. Kunden, ältere Menschen, die ihre ebenso alten Uhren liebten, kamen nur noch selten, und das Klopfen wurde mit jedem Tag leiser. An diesem Morgen drang kein Laut in das Innere. Nur die kleinen Lämpchen der goldenen Lichterkette schlugen sacht gegen die große Fensterscheibe, wenn draußen der Verkehr vorüber rollte. Meistens aber standen die Autos in langen Schlangen, bewegten sich nicht, spieen hingegen dunkeltrübe Wolken aus, die das Schaufenster verdreckten; für die vorbeilaufenden Leute ein Grund mehr, den Laden zu meiden. Manchmal konnte der Uhrmacher deutlich hören, wie sie schneller gingen, und gar nicht erst einen Blick in das Geschäft, geschweige denn auf die Auslagen warfen, um womöglich den kauzigen, alten Mann anzustarren, der grimmig bei seiner Arbeit saß. Es war kalt an diesem Morgen. Weiße Wolken hingen im Raum. Selbst das Sonnenlicht schien zu gefrieren. Es stand nutzlos herum wie eine Salzsäule aus Staub. Von den Wänden hallte der einförmige Takt unzähliger Uhren. Beim Sprechen unterbrach er jede Silbe. Aber wozu sprechen? Warum nicht träumen? Der Zeit gefiel die stille Ruhe. Sie verkroch sich in der Kuckucksuhr, und schnappte zu jeder Stunde nach Luft.
An der Decke prangte eine antike Uhr. Ihr Ziffernblatt bildete eine kunstvoll verzierte, riesige Sternenkarte, deren Enden längst vergessene Fabelwesen stützten. Die messingfarbenen Zeiger waren Sternschnuppen und Kometen, die sich unablässig durch das Universum jagten. Und die Uhr lief schon eine Woche. Nur hin und wieder musste er sie aufziehen. Glasvitrinen standen verstreut im Raum. Sie beherbergten tausende verschiedener Uhren. Das Angebot reichte von einfachen Armbanduhren mit Quarzuhrwerk, über stilvolle Tischuhren, Standuhren, Taschenuhren, Wanduhren, bis zu edlen Pendeluhren und einigen Sammlerstücken. Daneben gab es vielerlei Ersatzteile zu kaufen, die für die Pflege und Reparatur unersetzlich waren; denn solche Uhren, wie sie in seinem Sortiment zu finden waren, wurden nicht mehr angefertigt. Der geringe Nutzen und der hohe Verschleiß rechtfertigten nicht den immensen Produktionsaufwand.
Seine Kunden waren recht zufrieden mit seiner Arbeit und besuchten ihn gerne. Doch mit der Zeit war auch das filigranste Uhrwerk abgenutzt und unwiederbringlich zerstört. Den alten Leuten fiel es dann schwer, sich von ihren Uhren zu trennen. Der Uhrmacher nahm sie in Zahlung, baute sie auseinander, suchte nach verwertbaren Einzelteilen, und setzte eine neue Maschinerie in das Gehäuse ein. Häufig konnte er diese Uhren zu einem guten Preis veräußern.
Mit Wehmut gedachte er der alten Zeiten. Heutzutage gingen die Leute nicht mehr zum Uhrmacher. Sie haben Funkuhren mit digitaler Anzeige, die, wenn sie nicht mehr funktionierten, einfach weggeschmissen und gegen neue ersetzt wurden. Ihre Uhren zu pflegen, mit ihnen Anteil an der Zeit zu haben, und diese zu genießen, daran dachten sie nicht. Alte Uhren haben einen besonderen Reiz, der aber in der heutigen, schnelllebigen Welt untergeht, wusste er. Ihre liebevolle Beschaffenheit offenbarte sich nur noch wenigen Menschen. Der Uhrmacher verstand sich mit ihren Mechanismen und der Vielzahl an Zahnrädern, Federn, und Gewichten. Für die Leute war das alles viel zu kompliziert. Ihnen genügte es, die exakte Uhrzeit zu wissen. Aber musste man stets die Zeit bis auf die Sekunde genau wissen? Macht man sich nicht dadurch zu ihrem Sklaven? Diese Fragen stellte er sich unentwegt. Die Leute hatten einfach wenig Zeit, und wollten sie deswegen so gut wie möglich einteilen. Sie nahmen sie sich nicht, und, was noch viel schlimmer war, sie verschwendeten sie für unnütze Dinge. Der Uhrmacher blickte traurig aus dem Fenster. Durch das trübe, gefleckte Glas konnte er in graue Gesichter schauen, sah weiße Hände aus dicken Mantelärmeln lugen und geschäftig Einkaufstaschen schleppen.
Wie glücklich wäre er gewesen, wenn an diesem Morgen eine von ihnen die Ladentür weit aufgerissen hätte. Der stille Gefährte der Zeit war leider auch die Langeweile. Sie war überall. Das Schaufenster gähnte ihm unverhohlen ins Gesicht, die Zeiger der Deckenuhr hatten Höhenangst und klammerten sich an den Strichen fest, das Ticken der Uhren passte nicht zu dem Tempo, in der die Zeit dahin kroch. Sogar die verbrauchte Luft war von Langeweile durchwebt, und vielleicht hätte der Luftzug der aufspringen Ladentür ausgereicht, um sie davon zu wehen. Vielleicht. So aber beschäftigte er sich mit seiner Armbanduhr. Er nahm sie ab, breitete sie auf dem wurmstichigen Ladentisch vor sich aus, und beugte sich tief darüber. Er rieb das Armband zwischen seinen taub gefrorenen Fingerspitzen. Der herbe Ledergeruch stach in seine Nase. Seine Augen begannen zu tränen, und er erinnerte sich. Vor vielen Jahren blieb sie stehen. Einfach so. Er hatte sie an dem Tag getragen, an dem der schreckliche Autounfall passierte. Seine Frau und seine Tochter waren dabei gestorben. Sein Überleben verdankte er einer Sekunde. Wie oft hörte er Menschen, die eine Sekunde verfluchten. Für ihn aber erhielt sie eine vollkommen neue Bedeutung. Ganz vorsichtig hob er das Schutzglas an, und spielte mit den Zeigern. Das Uhrwerk war durch den Aufprall ruiniert worden. Im Grunde wollte er nicht, dass die Uhr wieder läuft. Sie sollte ihn daran erinnern, dass damals die Zeit für ihn stehen blieb. Heute raste sie an ihm vorbei. Die Zeit war wie ein Zug durchs Leben, auf dem man rechtzeitig aufspringen musste. Er hatte ihn verpasst.
Die Deckenuhr gab wieder einmal ihren Geist auf. Der Uhrmacher sprang auf, und machte sich daran, sie aufzuziehen. Aus dem Lager besorgte er eine Leiter, und das nötige Werkzeug. Das Besteigen derselben bereitete ihm Schmerzen. Ein Seufzer entglitt seiner sanft betrübten Stimme. Oben angekommen verharrte er eine Weile. Er bewunderte ihre Schönheit. Wer ihm das Meisterstück anvertraut hatte, wusste er nicht mehr. Die Uhr schien die ganze Zeit über schon da gewesen zu sein. Mit ein paar Handgriffen brachte er sie wieder zum Laufen. Er wollte gerade wieder hinunter steigen, als plötzlich ein Tumult vor dem Schaufenster entstand. Eine Bande Jugendlicher bedrängte eine alte Frau, und stieß sie gegen die Fensterscheibe. Sie schrie um Hilfe, doch niemand kam. Die Leute liefen weiter. Die Sonne zog sich zurück. Ein Junge streifte einen Schlagring über. Die Frau weigerte sich, ihre Handtasche herauszurücken, und hielt sie mit gekreuzten Armen fest an sich. Der Junge prügelte auf sie ein, bis ihr Körper krachend in das Schaufenster fiel. Glasscherben lagen auf den Fußboden. Sie funkelten rot. Lärm, Hundegebell, ein Durcheinander von Stimmen brach in den Laden ein, und verdrängte das Vakuum, das sich die ruhende Zeit geschaffen hatte. Das Gesicht des Uhrmachers schien in einem kurzen Moment um Jahre gealtert zu sein. Kreidebleich stand er auf der Leiter. Er befürchtete, hinunter zu stürzen. Die gaffende Menge trampelte in sein Geschäft, warf die Vitrinen um, stahl, und ergötzte sich an dem Anblick, den die schwer verletzte Frau bot. Andere versuchten zu helfen, und riefen den Notarzt. Und er stand immer noch reglos auf seiner Leiter. Ihn überfiel Panik und Wut. Einen Augenblick lang dachte er daran, die Zeit zurück zu drehen. Er hoffte dadurch, alles rückgängig machen zu können. Hilflos drehte der Uhrmacher an den Zeigern der antiken Uhr. Nichts geschah. Die Uhr gab nur ein gequältes Tick-Tack von sich, bis sie für immer stehen blieb.