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Der Unsichtbare
Es ist Sommer. Vierzig Grad im Schatten. Der Unsichtbare hasst den Sommer. Schweißfüße strahlen verstohlen in plattgelatschten Sandalen um die Wette, Achselschweiß lacht vergnügt auf den T-Shirts der Sichtbaren. Es stinkt furchtbar nach diesen Ausdünstungen der menschlichen Welt.
Weil der Unsichtbare das so sehr hasst, stampft er wuchtig über die Bürgersteine der Stadt, in der er lebt, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen. Die Menschen, die das hören, gucken verwirrt umher und schieben sich gegenseitig die Schuld in die Sandalen. Leider achtet er beim Stampfen nicht immer auf den Untergrund, so dass er einige Male versehentlich in Hundekot tritt, den er gekonnt an den Hauswänden abstreicht. Sehr zum Ärger der Anwohner, doch es kümmert ihn nicht.
Heute ist dem Unsichtbaren besonders langweilig, er will etwas Außergewöhnliches unternehmen, aber ihm fällt nichts ein. Nach langem Grübeln legt er fest, in den Zoo zu gehen, mit dem Ziel, Tiere zu ärgern. Das hatte er zwar erst letzte Woche getan, doch sein Verstand beschenkt ihn nicht eines besseren Planes. Hinzu kommt, dass der Unsichtbare ein fürchterlicher Sadist ist. Probleme in der Kindheit, das Übliche. So zeigt er schon sofort nach Betreten des Geländes sein wahres Ich:
Als er durch das Eingangsrondell geht, wo die Übrigen den Eintritt bezahlen, schreit er lauthals: „Ich bezahle nicht, ihr Trottel! Keinen einzigen Cent seht ihr von mir!“ Da die Eintrittskartenverkäufer die Person, die aufgeschrieen hat, nicht ausfindig machen können, lassen sie alle in Sichtweite von der Zoo-Security verhaften und werfen sie den Löwen zum Fraß vor. Auch die Frauen, Kinder, Alten und Randgruppen. So verfahren sie immer bei ungehobelten Besuchern, um das Niveau der Gäste aufrecht zu halten.
Der Unsichtbare verfolgt zunächst einmal das Geschehen bis zur Fütterung, das möchte er sich nicht entgehen lassen. Ein Augenschmaus für ihn.
Nach den letzten Happen der Löwen kommt dem Unsichtbaren wieder in den Sinn, weshalb er gekommen war: Er will Tiere ärgern. Doch er hat gerade keine Lust auf die Löwen.
So geht er schnurstracks zum Piranhabecken, nachdem er einige Minuten stampfend umherschweifte. Als er zu ihnen in die Fluten springt, schlägt das Wasser Wellen. Die fresssüchtigen, kriegerischen Tiere haben von seiner Anwesenheit Kenntnis genommen und formieren sich zu Angriffstrupps. Das nutzt der Unsichtbare eiskalt aus. Er packt die Fische, die ununterbrochen wild um sich schnappen, am Schwanz und lässt jedes der Tiere in dem Schweif des Nächstschwimmenden festbeißen, bis er einen Piranha-Ring hat, den er aus dem Becken wirft. Sich selbst überlassen sollen die Tiere verdursten. Verdutzte Besucher halten es für ein Natur-Phänomen und schießen die Filme ihrer Kameras voll.
„Da staunt ihr, was? Das war noch gar nichts!“, denkt sich der Unwahrnehmbare.
Heute ist er besonders gehässig, beinahe wahnsinnig. Doch er hat noch lange nicht genug für heute. Es hat gerade erst begonnen.
Gedankenverloren wandelt er umher, als er in der Ferne die Bärenkäfige entdeckt und lossprintet. Die Grizzlys, fünf an der Zahl, lässt er frei und scheucht sie in ein von acht Tigern bevölkertes Gehege. Leider ein ungleicher Kampf, die Bären gewinnen binnen Minuten. Hätte er sich eigentlich auch denken können, dass die Tigermutter so kurz nach der Geburt ihrer sieben Jungen noch geschwächt ist. Im letzten Moment will er den jungen Tigern, noch feucht vom Mutterkuchen, und ihrer Mutter helfen in ihrem Todeskampf, doch zu schnell haben die schwergewichtigen Grizzlybären ihre schwächelnden Widersacher zermalmt.
Der Unsichtbare ist unzufrieden, es ging ihm viel zu schnell. Also macht er alles wieder rückgängig und klebt die Tigerbabys samt ihrer Mutter mit einem Spezialkleber wieder zusammen. Zu einem Stück Riesentiger. Die Bären bekommen es mit der Angst zu tun und ziehen in Erfurcht vor dem Riesentigermonster ihren nicht vorhandenen Schwanz ein, bevor sie die Flucht ergreifen. Sie verstecken sich in einer Felsspalte.
Währenddessen macht sich das achtköpfige Unwesen auf, um die Welt zu erkunden, was ein Leichtes ist. Es huscht geschwind aus dem Zoo und flüchtet in eine nahe gelegene Kneipe, wo es sich eine Weile verschanzen kann, bis der Kleber anfängt zu bröckeln und das Tier letztlich wieder in seine Bestandteile zerfällt. Abends gibt’s dann Tigersuppe in der Kneipe. Mit Bier, Knödeln und Sauerkraut.
Um seine Langeweile zu vertreiben, rennt der Unsichtbare zu einem Ventil, das Wasser in kleinen Mengen in das ehemalige Tigergehege lässt, einer kleinen Badestelle wegen. Er montiert das Ventil fachmännisch mit wenigen Handgriffen und roher Gewalt ab und schon können sich die Wassermassen ihren Weg ins Gehege bahnen. Es liegt tiefer als der Rest des Zoos, die Besucher gucken von oben auf die Kreaturen herab.
Der Unsichtbare hat die künstlich erschaffene Steinlandschaft in ein Wasserbecken verwandelt. Er will die Bären, die immer noch laut winselnd in ihrem Versteck ausharren, ertränken. Ebenso wie es die alten Griechen oder Römer nur allzu gut konnten in ihren Veranstaltungsstätten wie dem Kolosseum.
Doch leider können die gefellten Tiere zur Verwunderung des Unsichtbaren schwimmen. Ständig muss der sie ins Wasser zurücktreten, weil sie sich an Land retten wollen. Das geht nun schon seit Minuten so, der Unsichtbare hat es satt. Er lässt Haifische aus einem benachbarten Becken hineinfließen. Große, weiße Haie. Das geht nun schneller.
Zum ersten Mal nun fällt dem Unsichtbaren auf, während er umherblickt, dass er der Einzige ist, den seine Taten erfreuen. Mütter verdecken mit ihren Händen die Sicht ihrer Kinder, um sie nicht an dem Schauspiel teilhaben zu lassen, Magenschwache kämpfen mit ihren Speisenröhren und das angelockte Geziefer tut sein Übriges, um das Horrorszenario zu vervollkommnen.
Davon unbeirrt und trotzdem vergnügt kann sich der Unsichtbare vom Becken, das nun rotes Wasser führt, abwenden und weiterstolzieren auf seinen unsichtbaren Beinen.
Entlang seiner „Safari des Schreckens“ gelangt er auf direktem Wege zu den Giraffen, die miteinander herumtollen. Nur kurz hält er ein, dann weiß er, wie er ihnen gründlich den Spaß verderben kann.
Er hechtet in die Umzäunung und versucht, ihre Hälse zu verknoten. Diese Aufgabe belastet ihn sehr, es ist schwere körperliche Arbeit. Nachdem er zwei der fünf Langhälsen den Kopf verdreht hat, stellt er entsetzt fest, dass er ihnen dabei das Genick gebrochen hat. Welche Schande! Das wollte er nicht. Denn eigentlich mag er Giraffen. Etwas gerührt von der tierischen Trauerfeier der übrigen Bewohner des Geheges, entscheidet er sich, von ihnen abzulassen. Er macht sich wieder auf den Weg, es gibt noch viel zu tun hier.
Da steigt ein helles Lichtchen in dem Unsichtbaren auf, er hat eine neue Illusion. Schnell und voller Vorfreude flitzt er zum Streichelzoo. Dieser ist voll von Kleinkindern, die einigen Ziegen und Schafen auf die Pelle rücken. Er treibt die Tiere zusammen und öffnet eine Pforte, um sie zu den Kamelen ins Nachbargehege abzuschieben.
Endlich hat er nun eine Verwendung für die Löwen gefunden! Eilig ersetzt er das Streichelvieh durch die Könige der Savannen. Diese schreiten gemächlich in den von ahnungslosen Familien gefüllten Streichelzoo, während ihre königliche Mähne edel in der Sonne schimmert.
Das gemächliche Schreiten findet ein jähes Ende, als die Bestien ihre Opfer wahrnehmen und sie anfallen wollen. Zufrieden rutscht der Unsichtbare noch einige Runden auf dem integrierten Spielplatz und schupst dabei diejenigen zurück in die Schlacht, die sich auf der Rutsche retten wollen. Dabei verabschiedet er jeden einzelnen freundlich mit einem „Und Tschüß!“. Eisern wartet er, bis es vorbei ist.
Es dauert jedoch lange, denn schließlich haben die Löwen heute bereits gegessen und nicht mehr viel Hunger. Sie betreiben die ihnen zugewiesene Aufgabe nur sehr träge, die meisten der Ziegenflüsterer können ohne jede Schramme entkommen. Seine Ungeduld quält ihn solange, bis er schließlich widerwillig aufbricht, um wieder seines Amtes zu walten.
Zurück auf den Wegen stampft er abermals kräftig, um Aufmerksamkeit zu erregen. Besonders gern schreit er auch Schimpfwörter dabei, um Leute gegeneinander anzusetzen. Jedes Mal, wenn es ihm gelingt, setzt er sich auf die nächste Bank und schaut sich das bunte Treiben an. So etwas mag er sehr gerne.
Als dem Unsichtbaren jedoch nach mehreren Kämpfen in einer melancholischen Phase auffällt, wie viele Menschen und Tiere durch ihn heute schon in Mitleidenschaft gezogen wurden, bekommt er ein schlechtes Gewissen. Er beschließt, es zu unterlassen und ein besserer Unsichtbarer zu werden. Schließlich will er ja auch nicht so behandelt werden.
Er geht wieder auf die Straßen, hinaus aus dem Zoo. Auf dem Weg hinaus begegnen ihm viele Rettungs- und Leichenwagen. Noch einmal lodert sein schlechtes Gewissen in ihm auf, aber nur kurz. Er sagt zu sich: „Was soll’s, ich kann es ja eh nicht mehr ändern. Sie waren nun mal zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Auf den Straßen ist es inzwischen leerer geworden, die Leute haben Angst hinzufallen. Gestern hatte der Unsichtbare nämlich Lust gehabt, seinen Mitmenschen Haken zu Stellen oder ihnen die Beine über dem Boden wegzufegen. Sehr beliebt war es ihm auch, Kleinkindern mit den Worten „Und Tschüß!“ das Eis aus der Hand zu schlagen und ihnen beim anschließenden Weinen zuzuschauen. Doch dies ist nun vorbei, denkt er sich, denn er hatte einen Sinneswandel sein Leben zu ändern, um ein besserer Unsichtbarer zu werden. Er will kein Schelm mehr sein. Er will den Leuten Freude bereiten.
„Was habe ich nur falsch gemacht? Wie kann ich nur die Menschen glücklich machen, ohne wenigstens einer zu Schaden? Das geht doch gar nicht!“, fragt sich der Unsichtbare. Er selbst findet es sehr lustig, was er getan hat.
In dem Augenblick schießt dem Unsichtbaren in den Kopf, was schon seit seiner Kindheit überfällig ist: Er muss eine Therapie machen!
Einige Sitzungen später erklärt ihm seine Therapeutin, nachdem sie meint, das Problem erkannt zu haben, dass er einen völlig anderen Humor hat, als die Menschen, die ihn hier umgeben. Es sei ausschließlich eine Frage des Humors, Geschmäcker seien nun mal verschieden! Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen? Und das Wichtigste: War er nun Schuld für seinen missverstandenen Frohsinn, oder sind es die anderen, die seinen Humor nicht teilen?
Er fängt an, für ihn humorvolle Kurzgeschichten zu schreiben, die das Absurde fast überschreiten und stellt sie auf einer Internetseite namens www.kurzgeschichten.de der Öffentlichkeit zur Schau. Doch auch das nützt nichts, er erntet in seinen Rezensionen nur Hohn und Spott. Er schafft es einfach nicht, seinen Humor dem der Leser anzupassen.
Nach langem Grübeln entschließt sich der Unsichtbare umzuziehen, was er noch am gleichen Tag tut. Und zwar in ein Land, in dem die Menschen den gleichen Humor haben.
Die Hölle.
Gerüchten zufolge soll er noch heute dort an seinem Schreibtisch sitzen, um die Tastatur seines Computers zu bearbeiten, Kurzgeschichten schreibend.