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Der Verdacht
Die Farbe seiner Unterarme und seines Gesichts war im Laufe der Jahrzehnte zu einem farblosen Grau geworden. Nachts musste er oft aufstehen und auf die Toilette. Seine Blase ließ ihm keine andere Wahl. Durchschlafen konnte er ohnehin nicht mehr. Sein Gang war bedächtig, die Haltung leicht gebückt, die wenigen verbliebenen Haare weiß. Mit einem Wort: Er war alt. Doch seine Auffassungsgabe und den verschlagenen Ausdruck seiner kleinen blauen Augen hatte er behalten. Hören konnte er nur mehr schlecht. Wenn er zu Scherzen aufgelegt war, sagte er gern: „Schlecht sehen kann ich gut, nur gut hören kann ich eben nur mehr schlecht.“
Trotzdem sah und hörte er in letzter Zeit viele Dinge, die ihm nicht gefielen.
Es war die Frau. Sie benahm sich so komisch. Eigentlich schon immer, aber in letzter Zeit noch mehr als sonst... Die Frau backte an diesem Tag eine große Menge Lebkuchen. In der Speisekammer lag schon ein ganzer Haufen davon, fein säuberlich aufgeschichtet, herb duftend und steinhart – wie Dachziegel. Er zog daraus den Schluss, dass seine Frau plante, das Dach mit Lebkuchen zu decken. Missbilligend schüttelte er den Kopf, machte die Tür zu und trat auf den Flur, da bemerkte er etwas weiches an den Beinen: Eine Katze schmiegte sich hochbeinig an ihn und schnurrte: Brrrrrrr – Streichle mich! Brrrrrrrrr. Es war ein schönes Tier mit schwarzglänzendem Fell. Fast wäre er hingefallen, wegen der Katze! Sein Blick fiel zufällig auf einen groben Reisigbesen in einer Ecke. Um die Böden im Haus zu kehren, war er zu grob. Wozu diente er dann? Die Besorgnis des Alten wuchs. Er dachte an die vielen Bücher über Kräuter und Heilungen, Mystik und Religion, und an das Plastikfläschchen mit Weihwasser, das seine Frau ihm weggenommen hatte, als er versucht hatte, sie damit zu besprengen.
Missmutig trottete er in die Küche. Dabei furzte er einige Male leise. Die Frau stand am Herd und rührte in einem großen Topf mit grünlichem Gebräu. Sie war eine kleine Person mit grauem Haar in Dauerwellen und einer dicken Brille. Heute hatte sie die blaue Schürze an. Wenn er zu Scherzen aufgelegt war, sagte er gern: „In der Schürze liegt die Würze!“
Als sie ihn bemerkte, lächelte sie und sagte: „Es ist gleich Zeit für den Kaffee. Kannst hierbleiben und warten.“
Er war so still. Mit aufkeimender Besorgnis fragte sie: „Was ist denn los mit dir?“
Er beeilte sich, ihr zu versichern, dass alles in Ordnung war. Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er wollte sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen, und sagte vage: „Es würde uns vielleicht gut tun, einige Tage auf Erholung zu fahren.“
Doch in seinem Gaumen klebte der widerliche Geschmack von bevorstehendem Verrat. Er machte sich Vorwürfe, und fragte sich: Was denkst du da? Das ist die Frau, die deine Kinder geboren hat, mit der du seit fünfzig Jahren verheiratet bist. Wie kannst du solche Gedanken haben?! Da fiel ihm wieder das kreischende Gelächter ein, das sie hören ließ, wenn sie mit ihren Freundinnen beisammen saß. Es ließ ihm immer das Blut in den Adern gefrieren. Ein weiteres Indiz!
Was sollte er also tun? Würde eine Aussprache mit dem Pfarrer helfen? Wie konnte man so etwas zur Sprache bringen? Vielleicht am Sonntag nach dem Gottesdienst.
Oder war doch der direkte Weg am besten? Er wusste, dass auch sie ihn noch liebte, nach all den Jahren. Er war sich auch ziemlich sicher, dass es das nicht gab, was sie zu sein schien. Womöglich glaubte sie es nur von sich selbst, und es konnte helfen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
„Selma, wir müssen reden! Sag mir ganz ehrlich: Bist du eine...“
Es folgte ein heftiger Wortwechsel, und am Schluss stieß sie ein so durchdringendes Lachen aus, dass der Alte fast die Kontrolle über seine Blase verlor. Er stammelte: „Ich meine ja nur, die schwarze Katze, der große Besen, die vielen Lebkuchen und das alles...“
Sie lächelte mit ihren schadhaften Zähnen, strich ihm übers Haar und sagte: „Trink deinen Kaffee!“
Er beruhigte sich. Aber ganz geheuer war ihm das alles noch immer nicht. Es ist eben ein seltsames Gefühl, wenn dir nach fünfzig Jahren Ehe klar wird, dass deine Frau möglicherweise nicht alle Tassen im Schrank hat.