Der Verfolgte
Es fiel noch kein Schnee, doch der Nachthimmel war mit dicken Wolken bedeckt. Im Osten wurden sie in ein Unheil verkündendes Rot getaucht. Dumpfe Detonationen, wie Gewittergrollen, erklangen in der sonst stillen Nacht. Die Front kam näher und mit ihr, Tod und Verderben.
Er lief und unter seinen zerrissenen Schuhen knirschte der gefrorene Schnee. Er nahm seine Umgebung kaum war. Seit Stunden lief er nun schon. Kälte und Anstrengung forderten ihren Tribut. Hände und Füße waren taub. Der Atem kondensierte vor seinem Mund und seine Nase begann sich bläulich zu verfärben. Immer wieder kehrte er für einen Moment in die Realität zurück, dann schaute er sich um. Sein Blick war gehetzt, doch er hatte noch niemanden gesehen. Nur die unter der Schneelast ächzenden Bäume waren seine Begleiter. Sie durften ihn nicht bekommen. Wenn er ihnen in die Arme lief, war er dem Tode geweiht. Tod wie seine Frau, die es nicht geschafft hatte. Sein ganzer Körper war nur noch eine Hülle, die versuchte, vorwärts zu kommen. Eine Schneeflocke fiel auf seine Nase, doch er spürte sie nicht. Immer mehr Schnee wirbelte um ihn herum. Wie ein Vorhang hüllte er die Welt ein. Er befand sich bereits auf der Seite der Anderen. Seine eigenen Landsleute würden ihn gnadenlos hinrichten, sie hatten kein Erbarmen mit Feiglingen. Hier, auf der anderen Seite, hatte er vielleicht eine Chance. Plötzlich rutschte er aus. Mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Boden. Benommen blieb er liegen. Der Schnee hatte ihn kaum abgefedert. Vielleicht sollte er einfach liegen bleiben. Er hatte alles verloren, warum sollte er weiter laufen? Doch er richtete sich auf. Er schwankte wie ein Betrunkener. Aus seiner Nase tropfte Blut, er hatte sie sich beim Sturz gebrochen, den Schmerz spürte er nicht. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Er musste weiter. Er kam jedoch nicht weit, seine Beine gaben nach. Alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Er blieb auf dem Rücken liegen. Der Schnee fiel unaufhörlich aus den Wolken. Er schloss die Augen. Ein angenehmes Gefühl durchströmte seinen Körper. Er würde einfach hier liegen bleiben. Schlafen und dabei sterben, eingebettet in einen Sarg aus Schnee. Immer weiter glitt er davon. Da vernahm er eine Stimme, doch er reagierte nicht. Wieder wurde er gerufen und diesmal öffnete er seine Augen. Mühsam hob er den Kopf und erstarrte. Was er sah, konnte nicht sein. Dort stand sie, eingehüllt in Schnee. Ihr Kleid mit Blut verschmiert, ihre Strumpfhosen zerrissen. Er sah seine Frau, die vor wenigen Stunden in seinen Armen gestorben war. Er wollte etwas sagen, doch kein Laut drang über seine Lippen. Sie hob ihre Hand und bedeutete ihm, das er still sein sollte. Doch wie sollte er in diesem Moment still sein. Er versuchte sich aufzurichten. Sie schüttelte mit dem Kopf, deutete an, er sollte sich nicht bewegen. Tränen rannen über sein Gesicht. Er wollte zu ihr. Kriechend bewegte er sich vorwärts. Grub seine tauben Hände in den Schnee. Für einen kurzen Augenblick ließ er seine Frau aus den Augen, als er sie wieder ansehen wollte, war sie verschwunden. Schwerfällig schaute er sich um. Verzweiflung stieg in ihm auf. Er wollte schreien, doch er weinte nur stumm. Hinter ihm brachen Äste. Nur langsam drehte er sich um. Er hoffte sie wieder zu sehen. Für einen Moment wurde die Hoffnung genährt, dann verwandelte sich der Schatten. Die Gestalt trat vor ihm. Sie hatten ihn erwischt. Der andere hob die Waffe und richtet sie auf ihn. Seine Frau hatte ihn warnen wollen. Sie waren näher gewesen, als er geglaubt hätte. Er schloss die Augen. Eines war gewiss, er würde sie wieder sehen.