sirwen schrieb:
Hallo Hans Dunkelberg!
Hans Dunkelberg schrieb:
Ich hab versucht, typische Märchen, wie man sie z.B. in der umfassenden Sammlung des Diederich-Verlages finden kann ("Märchen der Weltliteratur"), möglichst genau zu imitieren.
Na, das ist ja noch weniger originell.
Ich will überhaupt nicht originell sein.
sirwen schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Viele geographische Informationen sind bei einer solchen Verwendung sicherlich auch dienlich.
Ich redete von einer Verwendung durch Vorlesen vor Kindern. Es ist ja für Kinder sicherlich hilfreich, wenn sie im Laufe ihrer Kindheit möglichst umfassende und lebendige Vorstellungen von der Eigenart eines anderen Kontinents bekommen. Wenn sie dann irgendwann bemerken, dass z.B. der Geist Jupiters in Südamerika eigentlich nicht ausdrücklich bekannt war, können sie a) darauf kommen, dass religiöse Dinge nicht gar so streng genommen werden müssen und international sind, b) vielleicht nicht immer alles stimmt, was man aus so unzuverlässigen Quellen wie Märchen hat, c) die Welt mannigfaltiger sein, mehr Übergänge haben kann, als man vielleicht zunächst glaubt.
sirwen schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Dass Dinge aus unterschiedlichen Kulturkreisen mit Phantasie-Schöpfungen vermischt werden, ist in der Märchenliteratur durchaus üblich und daher eigentlich ein unerlässliches Kunstelement.
Nicht unbedingt unerlässlich. So wie du die Märchenwesen wild durcheinander mischst, wird die Geschichte nicht ein klassisches Märchen, sondern macht es für mich eher lächerlich, sodass ich den Text nicht Ernst nehmen kann. Ich habe eher dass Gefühl, du würdest dich über die Märchenliteratur lustig machen.
Da gebe ich Dir recht. Unerlässlich ist es natürlich nur im Zusammenhang, im Gewebe
meines Märchens, wie es bis jetzt ist. Wenn jemand sich mit der südamerikanischen Kultur wirklich - anders als ich - im Detail auskennt, kann er auch ein rein südamerikanisches Märchen schreiben, das dann also kulturell gewissermaßen gediegen ist. Das kann ich aber nicht.
Dass ein Märchen sich über andere Märchen lustig macht, ist übrigens auch ganz normal. Achte mal darauf, wenn Du mal wieder eins liest - viele "Es war einmals" und "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heutes" sind leicht ironisch eingefärbt, und manchmal wird das sogar ganz offen herausposaunt. Übrigens habe ich zumindest versucht, diese Elemente in der richtigen Dosierung von Humor und Ernst einzuverweben. Mir war, als ich mein Märchen postete, bewusst, dass das "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" einfach aufgrund der Neuigkeit meines Textes als Scherz aufgefasst werden könnte. Aber stelle Dir einmal vor, Du wüsstest gar nicht, dass der Text im Jahre 2005 entstanden ist. Dann könnte das auch ganz normal wirken. Dass nach dem "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" noch etwas kommt, ist übrigens ebenfalls nicht erst meine Erfindung. Der Bruch mit der märchenhaften Ebene im letzten Satz allerdings ist meine eigene Entwicklung. Sie möchte ich hier zur Diskussion stellen.
sirwen schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Die sicherlich zartfühlende Einführung in erotisches Begehren und erotische Erfüllung, die das Märchen den Kindern bietet, könnte, wie ich hoffe, eine Lücke in der Märchen-Literatur schließen.
Der Froschkönig macht das auch auf eine subtile Weise, und all die anderen Märchen, in denen eine Prinzessin einen Prinzen findet...
Ja, klassische Märchen machen das fast immer. Finde erst mal eines, das keine erotische Erziehung enthält. Ich weiß aber, ehrlich gesagt, nicht, wie bewusst die Kinder das früher verstanden haben und heute verstehen. Ich habe zumindest, als ich ein Kind war, nur gemerkt, dass da irgendwas war, wovon mir nicht ganz klar war, was es ist, ein irgendwo reizvolles, liebreiches Element, wenn in Märchen von Liebe die Rede war - aber mir ist nie bewusst geworden, dass das Erotische, was in den Märchen vorkam, etwas mit dem
Schönen zu tun hatte. Dies, so könnte ich mir vorstellen, könnte mein Märchen unter anderem auch dadurch liefern, dass es in einem fremden Kulturkreis spielt und dadurch die Aufmerksamkeit des Kindes von den national gebundenen, also unerotischen, nicht internationalen Teilen des Geschehens nicht so stark abgelenkt wird. Denn obwohl sie natürlich durch ihre Fremdartigkeit ein gewisses Interesse auf sich lenken, bringen sie den kleinen Zuhörer eben ganz einfach dadurch nicht gar so sehr in Panik, dass sie sich weit weg, in einem
wirklich fremden Land zutragen, gewissermaßen, um mit Goethe zu sprechen, "weit hinten in der Türkei".
sirwen schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
In diesem Sinne scheint mir mein Märchen "Der verzauberte Fluss" ganz nett den Charakter Südamerikas neu zu schaffen.
Der Sinn, in dem ich hier meinte, dass der Charakter Südamerikas nachgeschaffen werde, war der nicht gar so logische Handlungsstrang, die fehlende gut begründete und wahrscheinliche Verwicklung (um dies hier noch hinzuzufügen).
sirwen schrieb:
Wie kann man einen bestehenden Charakter neu erschaffen? Man kann höchstens einen anderen Aspekt zeigen oder gänzlich etwas neues kreieren.
Warum sollte man den Charakter Südamerikas, der sich ja auch so schon auf der Welt in Tausenden und Abertausenden unterschiedlichen Dingen ausformt, nicht noch ein Abertausend-und-erstes-Mal neu schaffen können? Ich war gestern zufällig in einem Möbel-Laden, und irgendwie gefielen mir alle die Möbel, die dort standen, nicht. Ich sagte das zu demjenigen, der mich in den Laden mitgeschleppt hatte. Da erklärte er mir, dass das alles
asiatische Möbel waren. Und auf einmal war mir klar, wie der Inhaber des Geschäftes es überhaupt geschafft hatte, lauter Möbel einzukaufen, die alle diese und keinen andere Art von Altmodischheit, Verschnörkeltheit und Verschrobenheit besaßen. Er hatte einfach darauf geachtet, dass man ihm nur asiatische Ware lieferte. Ich hatte das aber gar nicht gewusst, und trotzdem war mir aufgefallen, dass jedes Möbelstück in der Handlung einen ganz bestimmten Charakter besaß. So ist es also bewiesen, dass ein Kontinent einen eigenen Charakter besitzen kann, den man in einem kleineren Kunstwerk - wie zum Beispiel einem Stuhl, einem Tisch oder einem Schrank - neu erschaffen kann. Denn das Sortiment in dem Geschäft bestand ja letztlich doch nur aus lauter einzelnen Objekten - und trotzdem hatte ich das ganz Spezifische wahrgenommen, was eben das Asiatische war.
sirwen schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Dort wurde mir von fachkundiger Seite gesagt, dass die dort Lebenden kein Geld haben, um auf andere Kontinente zu reisen.
Das muss dir kein Fachkundiger erzählen...
Der Betreffende war insofern fachkundig, als er selbst zu der Schicht gehörte, die sich Interkontinentalreisen nicht leisten konnte (obwohl er einen Käfer besaß, in dem er mich freundlicher Weise zu den Ruinen der ältesten in ganz Amerika nachgewiesenen Stadt hinaufgefahren hatte, und an der Universität von Oaxaca studierte).
sirwen schrieb:
Im Übrigen stelle ich mir die Frage, was du damit bezwecken willst, deine Geschichten auf kg.de zu posten, wenn du eh (wie es scheint) von ihnen überzeugt bist. Was soll sich dann jemand die Mühe machen, eine Kritik zu schreiben, wenn du deine Geschichten sowieso für gut und nicht mehr änderungsbedürftig hältst?
Da muss irgendwie ein Missverständnis entstanden sein. Konstruktive Änderungsvorschläge nehme ich gern entgegen. Von meinem anderen Märchen, "Der Geisteskranke", das allerdings, weil es keine phantastischen Elemente enthält, in die Rubrik "Sonstiges" verschoben wurde, habe ich zum Beisipiel den Schluss gestrichen, nachdem das ein Foren-Benutzer vorgeschlagen hatte. Auch an meinem Märchen "Der verzauberte Fluss" kann ich gerne etwas ändern. Das ist ja gerade bei Märchen sowieso üblich. Es gibt auf der Welt kein einziges Märchen, das nicht in unterschiedlichen Fassungen und Abwandlungen im Umlauf [gewesen] wäre.
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Und nun die Antwort auf Malinches (sehr erfreuliches!) Posting.
Zunächst einmal: Ich habe mir alle interpunktorischen und orthographischen Details genau überlegt. Es befindet sich kein Tippfehler mehr in meinem Märchen. Was die Verwendung des Apostrophs in dürstet's (ich hatte geschrieben: "dürstet`s") angeht, muss ich sagen, dass ich den ganz senkrechten Strich nicht schön finde und daher immer nach meinem Gefühl entweder durch den leicht links- oder durch den leicht rechtsgeneigten ersetze. Man sollte bedenken, dass in einem gedruckten Buch der ganz senkrechte Strich gar nicht vorkommt, wenn es ordentlich gesetzt ist.
Nun noch zu ein paar Fragen bzw. Verbesserungsvorschlägen von Malinche im Einzelnen.
Malinche schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Quetzalcoatl wird dir weisen, welche es ist und wie du an sie rankommst.
Ich fände „herankommst“ besser, weil das „rankommst“ stilistisch so aus der Sprache rausfällt.
Das würde die Sprach- und Satzmelodik des Märchens zerstören. Es würde gewissermaßen lätschig werden, zu lange Worte, zu feuilletonistisch, kaffeehausmäßig. Dass in derben Dingen eine etwas derbere Sprache verwendet wird, kennt man aus Märchen.
Malinche schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Denn er wusste nicht, was und wo der Geist des Jupiter ist.
Nun, damit ist er nicht alleine. … Ernsthafte Anmerkung: … was und wo der Geist des Jupiters war. klingt für mein Empfinden jedenfalls besser
Ich habe hier und auch an anderen Stellen bewusst das Präsens gebraucht, um die Sache direkter, derber, märchenähnlicher zu machen. Ich verachte moderne Publikationen (jetzt hätte ich gerade schon fast aus Versehen "mordende Publikationen" geschrieben), die durch inadäquate "sei"s und "hereinkommen"s/"herauskommen"s den natürlichen Fluss der Sprache des Landvolks zerstört. Das erinnert an die berüchtigten schlechten Übertragungen von mittelhochdeutschen Texten ins Neuhochdeutsche, in denen es dann heißt "Da stand Siegfried auf dem Estrich" und so. Natürlich sind die Details in jedem Text wieder anders, und manchmal erscheint es mir auch nach einer gewissen Zeit wieder anders formuliert besser, aber ich kann zunächst einmal natürlich nur das stehenlassen, was mir
jetzt gut vorkommt, und das sind beim obigen Märchen eben unter anderem auch die von Dir jetzt nicht so gut gefundenen Worte... Sorry!
Malinche schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Sie aber fuhr ihn mit dem barschen Fluch an:
"Sei still, Ingolf! Das darf ich keinem sagen. Es gehört zu den Geheimnissen hier im Amazonaswald."
„Sei still, Ingolf“ ist ein Fluch?
Gemäß Grimmschem Wörterbuch auf jeden Fall, da brauch ich erst gar nicht nachzuschauen. (Übrigens gibt es das Grimmsche Wörterbuch auf einem Server der Universität Trier auch für jedermann kostenlos online.) Was die Verwendung des Begriffes "Fluch" im Märchen angeht, kenne ich mich nicht so genau aus. Sprachlich erscheint es mir im vorliegenden Märchen-Text hilfreich, den Ausspruch der Hexe durch die Bemerkung, dass es ein Fluch ist, prägnanter zu kennzeichnen. Die leichte Abschattung in der Bedeutung - also das Problem, dass es nur eine
leichte Abschattung ist, was ja u.U. schwer verstanden werden und beim Kinde zu Verwirrung führen könnte - kommt mir hier unbedenklich vor. Auch rein kunstästhetisch habe ich da in diesem Fall keine Bedenken.
Malinche schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
Und im darauf folgenden Jahr wurde über den Rio Parana eine gewaltige Brücke gebaut, und niemand musste mehr die Fee Schallammalla aufsuchen und ihre aberwitzigen Prüfungen über sich ergehen lassen, nur um sich von der anderen Seite des Stromes eine Braut holen zu können.
Hier verstehe ich nicht, warum es auf einmal um den Paraná geht. Am Anfang hieß der Fluss doch noch anders. Und warum scheint es auf einmal so, als ob Schallamalla an allem Schuld ist? Es ist doch jedem freigestellt, sie um Rat zu bitten?
Dass der Fluss auf einmal anders heißt, ist auch mir aufgefallen, noch bevor ich mein Märchen gepostet habe. Es erscheint mir aber als eine natürliche Auflösung der Märchen-Ebene, als ein natürliches Zurückführen des kindlichen Zuhörers in die Wirklichkeit, als eine natürliche Verbindung des Märchen-Inhalts mit der aktuellen Wirklichkeit.
Malinche schrieb:
Ich habe mich beim Lesen eigentlich gefreut, als Teotihuacan ins Spiel kam (...), der Ort, wo die Menschen zu Göttern wurden.
Das weiß ich ja gar nicht mehr. Aber das passt natürlich gut in mein Märchen. Da scheint mir das Unterbewusstsein, als es mir Schallammallas Worte diktierte (denn die
hat es mir diktiert!), dem Text eine erfreuliche topologische Stärke untergejubelt zu haben.
Malinche schrieb:
Gemeinsam mit meiner grundsätzlichen Vorliebe für ein geschicktes Mischen der Elemente ändert das aber nichts an meinem Gefühl, dass das Märchen so irgendwie komisch ist. Das Zusammenwirken der Elemente ist für mein Empfinden nicht stimmig. Deinem Posting entnehme ich, dass du sehr wohl eine Intention hattest und dich auch mit den Sachen auskennst, über die du schreibst, aber ich muss deine Geschichte von deiner Erklärung losgelöst betrachten und sie unabhängig davon auf mich wirken lassen. Und in dem Fall wirkt das alles auf mich eher willkürlich zusammengewürfelt. Die Geschichte spielt im tiefsten Mittelalter und du arbeitest mit echten Geografiebezeichnungen (gleich zu Beginn der Verweis auf den Jangtse-Kiang), aber dann reist Ingolf nach Mexiko (das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in dieser Form existiert!), und der vielversprechende Geist des Jupiter entsteht, wenn man ein bisschen mit Zauberkräutern herumexperimentiert. Bitte sei mir nicht böse, wenn ich das hier so formuliere, es geht hier wirklich nur um das Gefühl, das ich beim Lesen hatte. Ich habe keine Ahnung, wie du das Ganze stimmiger machen könntest. Aber auf mich wirkt es wie ein Gericht, in das du zu viele unterschiedliche Gewürze reingetan hast.
Auch mir scheint die Verwandlung von Gräsern in den Geist des Jupiter motivisch nicht ganz hieb- und stichfest zu sein. Da muss ich mir nochmal was überlegen. Im Moment habe ich dazu aber keine Zeit. Ich vermute aber, dass sich das wird machen lassen, ohne am Rest des Märchens etwas bzw. ohne daran allzu viel ändern zu müssen. Aber auch das muss sich natürlich erst weisen.
Malinche schrieb:
Hans Dunkelberg schrieb:
In diesem Sinne scheint mir mein Märchen "Der verzauberte Fluss" ganz nett den Charakter Südamerikas neu zu schaffen.
Den Charakter Südamerikas schafft ein Märchen, das im europäischen Mittelalter zu beginnen scheint, für mein Empfinden nicht. Ich bin hier, als angehende Altamerikanistik-Studentin und Begeisterte für die lateinamerikanischen Kulturen, auch ein bisschen vorbelastet, wenn jemand den Charakter dieses Kontinents „ganz nett“ neu schaffen will, darauf reagiere ich wie allergisch.
Wahrscheinlich kommt Deine allergische Reaktion hier daher, dass es Dir unangenehm aufstößt, nicht exakt unterscheiden zu können, ob ich in mein "ganz nett" (in Bezug auf mein Nachschaffen) auch ein bisschen den Sinn hineingelegt haben könnte, dass die südamerikanische Kultur "ganz nett" sei. Das habe ich aber ganz bestimmt nicht gedacht. Ganz im Gegenteil habe ich ja noch absichtlich "ganz nett" geschrieben, um nicht zu überheblich einzufordern, dass ich von der Kultur Südamerikas etwas verstehe. Für Dich als Wissenschaftlerin könnte nun allerdings natürlich noch ein gewisses Missfallen über meine nur halbherzige Beschäftigung mit Deinem Fachgebiet verbleiben. Dazu muss ich sagen, dass man das nicht bei jedem kleineren Werk von einem Schriftsteller verlangen kann. Es ging mir eben doch vornehmlcih um ein Märchen und damit also automatisch auch irgendwo um eine mehr intuitive Herangehensweise des Autors. Für mich ist das bei Märchen so - wurden sie doch durch die Jahrtausende hindurch stets von irgendwelchen alten Mütterchen weitertradiert, die bestimmt keine Professoren waren!
Mit freundlichem Gruß -
Hans Dunkelberg