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Der Würger mit dem Dreimeterföhnkabel
Der Zusammenhang zwischen der Gesamtheit dessen was wahrnehmbar ist und dem kleinsten Teil eines Wassertropfens
Möchte man das Aufeinandertreffen verschiedener Gesellschaftsschichten in Deutschland beobachten, so kann man sich entweder eine arte-Reportage über eine Tankstelle auf der Hamburger Reeperbahn anschauen, oder den Tchibo-Shop an der Ecke besuchen. Dort gibt es zudem „jede Woche eine neue Welt“. Der Begriff „Welt“ umfasst laut der Online-Enzyklopädie Wikipedia immerhin „die Gesamtheit dessen, was wahrnehmbar ist“. Ist man also auf der Suche, nach der „Gesamtheit dessen, was wahrnehmbar ist“, so findet man das nicht während eines einjährigen Survivaltrips durch Kirgisien, sondern im Tchibo-Shop um die Ecke.
Zwar hat Tchibo in Deutschland einen Bekanntheitsgrad von sage und schreibe neunundneunzig Prozent, allerdings kennt kaum einer den Ursprung des Begriffes „Tchibo“. Im Jahre 1949 wurde sich der Kaffeeröster Carl Tchilling-Hiryan in einem schummrigen Kaffeerösterkeller bei einem Glas Weizenbier der Tatsache bewusst, dass sein Beruf viel mit Bohnen zu tun hat. So kam er auf die glorreiche Idee, den ersten seiner beiden Nachnamen mit dem Wort „Bohnen“ zu verhuddeln; die Geburtsstunde von Tchibo. Wäre Carl sich allerdings der Tatsache bewusst geworden, dass sein Beruf viel mit „rösten“ zu tun hat, so hieße Tchibo heute wohl Tchirö.
Die einzigartige Mischung aus Haushaltsramsch und Kaffee ist der Grund für das meist friedliche Aufeinandertreffen von Bankern, Hausfrauen und Rentnern. Die einen wollen „vor dem Meeting noch kurz nen Kaffee zischen“, anderen liegt daran, ihren Haushalt um wertvollen Schnickschnack zu bereichern, wieder andere sind an der ganzheitlichen Wahrnehmung interessiert, die Tchibo in petto hat. Tchibo-Shops sind Spiegel der deutschen Gesellschaft, um es dramatisch auszudrücken.
Auch mich locken die Angebote, die jede Woche unter einem anderen Motto präsentiert werden, das sich ein Werbetexter beim Scheißen ausdenkt. Diese Woche ist es „Check das! Haus und Auto fit gemacht“, was dafür spricht, dass Tchibo auch die „pimp my ride“-Generation animieren will, an der tchiboischen Gesellschaftsvermengung teilzuhaben. Bald heißt es „Check it! Der real shit aus der hood!“
Diesen Spruch wird sich die Tchibo GmbH für teures Geld von den Schwachmaten-Rappern aus der Selbsthilfegruppe für schwer erziehbare Jugendliche in sozialschwachen Gegenden „Aggro Berlin“ abkaufen.
Das Tchibo-Motto, an das ich mich aus gutem Grund am besten erinnern kann, lautet „Try it! Professionelle Haarpflege für Jedermann“. Es war ein Fön, den ich damals im Auge hatte (wer lustig drauf ist, kann sich gerne ein Clownshütchen aufsetzen und sich das auch mal bildlich vorstellen). Ein Fön mit Ionen-Technologie, die mir bisher nur aus Science-Fiction-Filmen bekannt war, zog mich in seinen Bann. In der Hoffnung, dass die Verkäufer bei Tchibo neben der klingonischen auch noch der deutschen Sprache mächtig seien, betrat ich damals den Tchibo-Shop meiner Heimatstadt.
Vorbei an den Anzugträgern bahnte ich mir den Weg durch die Hausfrauen und stand schließlich vor einer fettigen Verkäuferin.
„Ich bin an ihrem Fön interessiert, was hat der denn für Features?“
Ich habe mir angewöhnt, bei Verkaufsgesprächen der Wortwahl der Verkäufer zuvorzukommen, weil ich mir so einen Scheiß nicht erzählen lassen will. Da erzähl ich den Scheiß lieber selbst.
„Sie meinen den Profi-Haartrockner?“
Glücklicherweise sprach die Verkäuferin kein Klingonisch. Rasch zückte sie einen Fön unterm Tresen hervor.
„Der funktioniert mit Ionen-Technologie und hat 2000 Watt Leistung. Ein Muss für jeden Fön-Fan!“, sagte die Verkäuferin nicht ohne Stolz und wackelte grinsend mit dem Fön. Vermutlich war sie die Enkelin von Carl Bohne.
„Mit Hilfe der Ionen werden Wassertropfen in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt“, fuhr sie fort.
Ich überlegte mir, was der kleinste Bestandteil eines Wassertropfens ist. Vielleicht ein Wassertröpfchen? Jedenfalls musste es bemerkenswerte Effekte zur Folge haben, wenn man sich mit 2000 Watt gebündelter Ionen-Power die Wassertropfen im Haupthaar zerlegt.
„Darf ich mal probefönen?“, fragte ich höflich.
„Wie bitte?“
„Sie haben richtig verstanden. Wenn ich ein Bett kaufen möchte, darf ich doch auch probeliegen.“
„Sicher, aber…“
Ich hatte der Verkäuferin den Fön entrissen. Entweder erblich oder regional bedingt habe ich das Verlangen, einen Verkaufsgegenstand vor dem Kauf an Ort und Stelle auszuprobieren. Wie oft kauft man einen elektrischen Stabmixer, auch Milchschäumer genannt, und merkt erst zuhause, dass dieser zu nichts zu gebrauchen ist. Außer vielleicht, um am unteren Ende lustige Fähnchen zu befestigen und dann den Betätigungsknopf zu drücken.
„Wo ist eine Steckdose?“
„Aber bitte, sie können doch nicht…“
„STECKDOSE!“
„Dort hinten, neben der lebensgroßen Pappfigur von Carl Tchilling-Hiryan, dem Gründer unseres…“
„ICH WEISS!“
Ich hatte den Stecker in die Dose gestöpselt. Der Fön war „stufenlos regelbar“. Alle technischen Geräte, die sich Rang und Namen verschaffen wollen, sind „stufenlos regelbar“. Wenn man bei google.de „stufenlos regelbar“ eingibt, so bekommt man übrigens eine Endlosliste verschiedenster Vibratoren präsentiert. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.
„Stufe 1 ist eher hauchig, was?!“, versuchte ich die Verkäuferin zu beruhigen. Im Nachhinein hatte ich allerdings das Gefühl, dass ich sie mit dieser Bemerkung eher noch mehr verängstigte. Kalter Schweiß rann ihre Stirn herab.
„Stufe 2 ist ganz schön windig…woooh, macht das Spaß. Und Stufe drei ist…“
2000 Watt Ionen-Technologie bratzten durch den Laden. Die Bussinessmänner fürchteten um ihre Schmalzlocken und die Hausfrauen hielten ihre Röcke fest. Der Pappen-Carl ging zu Fall. Der Fön begeisterte mich ungemein. Die Verkäuferin war inzwischen dermaßen durchgeschwitzt, dass ich nicht anders konnte, als sie trocken zu fönen.
„Ich muss durch den Monsun“, trällerte ich und sprang über den Verkaufstresen. Und schon hatte ich auch die Kollegin der Enkelin von Carl gefönt. Schmorgeruch machte sich breit und versetzte mich auf ein höheres Level. Ich konnte sie spüren, die Gesamtheit dessen, was wahrnehmbar ist. Ich fönte alles, was in der Reichweite des Dreimeterkabels lag, und das war erstaunlich viel. Biederen Typen in schwarzen Anzügen verpasste ich die herrlichsten Fönfrisuren, Rentnerinnendauerwellen verwandelten sich in poppiges Junggebliebenengewuschel. Der Pudel einer Dame sah nach meiner Fön-Attacke aus wie ein frittiertes Frettchen, und hätte die Verkäuferin nicht inzwischen trockene bis verschmorte Haare, ich hätte sie glatt noch mal gefönt.
„Ich bin der Würger mit dem Dreimeterfönkabel“, brüllte ich. Es war nur als Spaß gemeint, aber irgendwie nahmen mich alle ernst, einige liefen kreischend aus dem Laden. Also gab ich mir einen Ruck und schaltete den Profi-Haartrockner aus.
Stille herrschte im Tchibo-Shop. In einem Kunstfilm hätte man diese Stille mit rückwärts abgespielter Akkordeonmusik durchbrochen, aber im Tchibo Shop hatte man nicht die technischen Möglichkeiten dazu.
Einige Geschäftsmänner standen wie versteinert da, eine ältere Dame hatte sich an der Kirschtorte verschluckt und hustete einsam vor sich hin.
Die Enkelin von Herrn Tchilling-Hiryan kroch unter dem Tresen vor. Mit Afro sah sie irgendwie amüsant aus.
„U…und? Wie ist der Fön?“, stammelte sie noch etwas benommen.
„Es hat auf jeden Fall gebrettert,“ antwortete ich, „aber ich hätte dann doch lieber nur einen Kaffee!“
Verlegen trank ich meinen Kaffee aus und wurde mir langsam bewusst, welche Angst und welchen Schrecken ich verbreitet haben musste. Es war an der Zeit, Reue zu zeigen, das wurde mir schnell klar. Nun standen sie alle da, die armen Strolche, mit den wildesten Fönfrisuren und den wuscheligsten Haarprachten. Das wollte ich wieder gut machen. Beschämt schlurfte ich zum Tresen.
„Entschuldigen Sie…“
„Ja?!“
„Ich bin an ihrem Glätteisen interessiert, was hat das denn für Features?“
Die Verkäuferin schluckte. Wahrscheinlich befürchtete sie Schreckliches.
„Dürfte ich vielleicht ein ganz klein bisschen Probeglätten, bitte?!“
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es auch bei Tchibo Hausverbot gibt. Allerdings gilt mein Hausverbot nur für diese eine Filiale in meiner Heimatstadt. Heute habe ich mir die aktuelle neue Welt auf der Website von Tchibo angesehen und prompt beschlossen, in die nächste Großstadt zu fahren. Den Staubsauger mit Zyklon-Technologie darf ich mir nicht entgehen lassen. Der hat glaube ich irgendwas mit einäugigen Riesen zu tun…