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Der Wartende

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02.12.2001
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Der Wartende

Der Wartende

Die Flocken glänzten vor dem dunklen Hintergrund. Schnee bedeckte den Grasboden, den die Schienen von allen Seiten umzingelt hatten. Die Nacht zog sich still zurück, sie war ohnehin ruhig. Nachrichten brachten keine Sensationen für arbeitsfreie Hausfrauen. Krankenschwestern, Wächter, billige Lohnarbeiter stiegen in die Straßenbahnen ein, kamen schlummernd heraus. Die Straßenbahnen kreisten um die Stadt, schlängelten müßig über den Asphalt. Der Blutkreislauf der Stadt funktionierte noch nicht, Autos waren selten zu sehen, Ampeln blinzelten nutzlos.

Am Rand des Grasbodens tauchten zwei Reisetaschen und drei Säcke auf. Hinter ihnen blieben die Spuren, braun und grün, und trennten den Grasboden in zwei unschuldig weiße Halbkreise. Eine Straßenbahn machte ruhig ihren Kreis um diese Hälften.

„Wieder dieser Kerl“, hörte man hinter dem Fahrer.

Die Flocken änderten ihren Rhythmus, Licht drang vom Osten ein, die Sonne erwachte. Drei Säcke und zwei Reisetaschen hielten vor ihrer Telefonzelle an und blieben neben einer Mauer stehen. Es war kalt. Eine Straßenbahn hielt an. Arbeiter stiegen aus. Es gab kein Gespräch. Die herrschende Stille unterbrach nur das Quietschen der Tür. Irgendwo in der Ferne hörte man Vögel. Sie grüßten den neuen Tag. Oder riefen sie einander? Wer weiß. Der Mensch begreift immer nur jenes, was ihm schon bekannt ist, eine Sprache, die irgendwann in seiner Vergangenheit erschienen ist. Alles andere, alles, was ihm fremd ist, versteht er nicht. In den meisten Fällen verstehen sich Menschen sich untereinander nicht, weil sie verschiedene Sprachen sprechen. Genau so wie Vögel. Das Wort ist ein kleiner Stein, vereinsamt, bedeutungslos. Wenn wir ihn auf einer Neige ins Rollen bringen wird aus ihm ein Satz, ein Teil der Masse, er wird sich in der Schar wiederholen, am Himmel über Dächer widerhallen. Nur in der Schar, in der Masse kann dieser Stein sein Leben abrollen, in einer Mauer, in einem Flußbett, nur in der Mehrzahl, nur in einer Funktion und immer bedingt. Stein. Wort. Mensch.

Ihn hatte seit langem keiner verstanden. Seit Jahren hatte er kein Gespräch. Seine Tage verbrachte er immer auf demselben Platz, aber Nächte? Das wußte niemand. Alle wußten, daß er neben dieser Telefonzelle bis zur Dämmerung stand. Und seine drei Säcke und zwei Reisetaschen. Sie gehörten schon zur Stadt. So ähnlich wie eine Fassade. Da, neben der Telefonzelle. Niemand wußte, was in diesen Taschen war. Vielleicht wußte er selbst das nicht mehr.

Handys sangen verschiedene Melodien, Gespräche suchten ihre Menschen. Das Licht eroberte den Raum. Die Zahl der Schuhe vergrößerte sich. Die Straßenbahnen fuhren öfter vorbei, die Ruftöne wurden unruhiger. Ein Mädchen fing auf einmal an, laut zu schimpfen, warf ihren Schuh und zog ihn wieder an. Die Bettler machten ihre Groschen, indem sie die glänzenden Schuhe suchten und vor den alten und schmutzigen auswichen. Das Leben ging weiter, verlor einige Tropfen im Krankenbett, aber der Lauf war unverändert, schnell, immer schneller und immer brutaler. In dem Schaufenster vor den drei Säcken und zwei Reisetaschen flimmerte ein Fernseher: Willkommen in Paradiesland!

Die vorbeigehenden Hemden, die aus luxuriösen Mänteln hervorragten, wurden immer moderner und teurer. Die Wörter wurden immer lauter, das Murmeln der Masse lebendiger. Die Straßenbahnen kamen ununterbrochen, die nervösen Fahrer erzeugten heulende Töne. Kinder gingen zu ihren Schulen, zuerst einzeln, mit einsamen Augen und dann immer wieder gruppenweise mit Spielen und Hochmut. Alles, was gestern in der Mattscheibe flimmerte, Werbungen, Tagesschau, Film, alles verlängerte sein Leben in kleinen Köpfen und nahm andere, viel größere Dimensionen an, wie ein Echo in einem Lautsprecher. Die Zahl der kleineren Köpfe verminderte sich und man hörte zwischen dem Schaufenster und der Telefonzelle nur noch eilige Schritte der kleinen Schuhgrößen. Die Säcke bewegten sich ein wenig, der Abstand war kleiner.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als nur noch die verlangsamten Schritte, machtlos und mit Unterbrechungen, den Raum zwischen der Telefonzelle und dem Schaufenster einnahmen. Es waren warme Pullis, warme Mützen und Zittern der Hände. Sie stiegen langsam in eine Straßenbahn, mit Unsicherheit. Der Blutkreislauf der Stadt verlangsamte sich wieder, der Nebel lichtete sich über der Stadt, zog sich aus der schmutzigen Luft, aus allen grauen Fassaden, aus den verdrießlichen Dächern zurück. Die Sonne streichelte Fenster der jungen Seelen, holte ihnen den Atem der Natur, den Wunsch nach dem Ausgehen, aber brannte Falten, lenkte Aufmerksamkeit auf eigene Schwäche, reizte das Husten, den Schmerz in den Knochen. Drei Säcke und zwei Reisetaschen standen stolz, bewegungslos in Raum und Zeit.

Einige Kinder kehrten aus der Schule zurück, die Stöckel aus den Büros, den Raum erfüllte das Lachen, verführerische Bewegungen des Rocks und lächerlich überlegene, zu schnelle Bewegungen der Hosen. Der Raum wurde voll, die Augen blinzelten schneller, folgten zahllosen und verschiedensten Gestalten, die ermüdende Gehirne kaum noch einordnen konnten. Die Sonne ging unter, flüchtete in eine andere Stadt, in eine andere Unruhe des Menschlichen und des Tierischen. Die Dunkelheit kehrte zurück, eroberte Luftschicht für Luftschicht, übernahm die Flure zwischen Gebäuden und Wegen. Die Menschen vertrieben sie mit dem künstlichen Licht, das Geld mit Werbungen. Alles beruhigte sich in der Umarmung der Dunkelheit, in ihrem starken Zusammendrücken, der das Bewußtsein einschläferte und die Konzentration auflöste. Nur die Gedanken wurden lauter, verließen das Geflüster des Tages, bekamen Nachhall.

Man hörte keine Schritte mehr, die Schuhe erholten sich in den Schränken und bemerkten nicht, daß zwei Reisetaschen und drei Säcke sich nicht bewegten, daß sie zwischen Schaufenster und Telefonzelle blieben. Die orangefarbene Tracht warf sie in den Mülleimer und bedeckte. Das Licht verschwand. Die Dunkelheit verschwand. Sie waren zum ersten Mal das, was sie seit langem waren. Einsam.

 

"Der Wartende"... hm. Ganz interessant geschrieben, wenn auch nicht gerade das Spannendste, was ich je gelesen habe. Einige Formulierungen sind wirklich gelungen, andere sind ein wenig umständlich geraten.
Auf jeden Fall stellenweise aus einer ungewohnten Perspektive geschrieben, Gegenstände stehen oft für Personen.
Nun, in Punkto der Aussage bin ich mir nicht ganz so sicher. Eine Art Zivilisationskritik, wie es mir scheint.
Ganz raus bin ich am Ende: Ist der Besitzer der Säcke und Taschen tot? Oder ist er nur weggegangen? Warum ist er nicht mehr da? Weshalb werden herrenlose Taschen einfach weggeworfen?
Wartet der Wartende nun nicht mehr?
Ist Godot endlich angekommen?

[Beitrag editiert von: Ben Jockisch am 03.12.2001 um 00:21]

 

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