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Der Weg zurück
Im Prinzip kennt er ja diesen Flur, denn alle Flure in den diversen Flügeln und Stockwerken in diesem Gebäude sind sich ziemlich ähnlich. Er kennt sogar die Möbel, diese hellen Holzstühle, vermutlich aus Birke. Ja, die Maserung, die Farbe, das kennt er doch, da hat er auch schon mit gearbeitet, das ist bestimmt Birke. Und dann diese dunklen, violettfarbenen Stoffbezüge über den Sitzflächen, auch das erkennt er wieder, das ist wie bei den Stühlen in seinem Flur.
Das Problem sind die Details, denn die stimmen nicht. Die Stühle stehen nicht, wie sie sonst stehen, die Bilder, die an den Wänden hängen, sind irgendwie auch nicht die gleichen, obwohl er sich schon eingestehen muss, dass er jetzt im Moment auch nicht sagen könnte, welche Bilder denn da eigentlich hängen sollten, welche die richtigen wären.
So ein Quatsch, Details, Details... Hier ist nichts wie es sein soll, überhaupt gar nichts. Sein Herz schlägt etwas schneller. Er blickt zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, den Flur entlang. Links und rechts die vielen Türen, die zu den Zimmern führen, mit den Plastikklinken und alles, wie bei seinem Flur, aber das hier ist nicht sein Flur, er weiß überhaupt nicht was hinter der nächsten Tür ist, wer da sitzt, was wer da tut. Und an dem Fenster vor ihm, durch das er nichts sehen kann, in dem er nur diesen etwas breiteren Teil des Flurs gespiegelt sieht, der mit Tischen und Stühlen versehen ist, damit man hier seine Zeit verbringen kann wenn man nicht mehr allein sein will oder kann oder darf, und an dem er außer der Spiegelung sonst nur die Nacht sieht, die Schwärze, an diesem Fenster auf dem Sims stehen auch nicht die Blumen, die da stehen sollen, da auf dem Sims steht überhaupt nichts, aber in der Ecke neben dem Fenster steht dafür ein Baum, ein Baum! Ein hässliche Palme in einem hässlichen Topf, einem hässlichen, bemalten Topf!
Das ist wohl Fingerfarbe, da an dem Topf. Auch die kennt er, damit hat er selbst auch schon gearbeitet. Unten ist der Topf grün gemalt worden, und daraus wachsen Stengel, auch in grün, aber dunkler, und daraus wachsen Blätter und an den Spitzen der Stengel sind einfache Blüten gemalt, aus kräftigen Farben, schönes, feuriges rot und tiefes Meeresblau, mit einem satten, gelben Punkt in der Mitte. Aber er findet das jetzt im Moment nicht schön, auch wenn das schöne Farben sind, nein, es ist ganz und gar bedrohlich, er will das nicht sehen und er will nicht hier sein und er will nicht wissen, wer das gemalt hat, er muss hier weg, und zwar schnell, sofort!
Aber er wird sich jetzt nichts anmerken lassen und einfach den Flur weiter hinab laufen, zu den Türen, die aus diesem gewellten Glas gemacht sind, durch das man nicht durchsehen kann. Er geht los, setzt einen Fuß vor den anderen. Kein Problem, er muss nur ruhig bleiben, sich nichts anmerken lassen. Aber er fühlt sich irgendwie gejagt, obwohl er nicht das Gefühl hat, dass ihn jemand verfolgt. Er fühlt sich wie er sich als kleines Kind gefühlt hat, wenn sein Bruder brüllend und lachend hinter ihm hergerannt ist, nur zum Spaß, nur um ihn zu kitzeln, und er nur einen einzigen Schritt Vorsprung hatte, schon fast in Greifnähe seines Bruders war... dieses treibende Gefühl im Rücken, diese Spielart von Panik... Er spürt diese Panik, aber in seinem Rücken ist nicht sein lachender Bruder, hinter ihm ist die Fremde, nicht sein Flur, ein anderer Flur, fast wie seiner, aber nicht seiner. Er trippelt etwas, sein Körper möchte sich schneller bewegen, sein Instinkt will, dass er rennt, aber er will sich nichts anmerken lassen, er will gehen, er will einfach nur Schritt für Schritt gehen, ohne in Panik auszubrechen.
Und dann hört er etwas durch die geschlossene Tür zu seiner rechten, ein Lachen von einem Mann, und da lacht noch jemand, ein anderer Mann, und er kennt die Lache nicht und er will sie nicht hören und jetzt geht er doch schneller, will rennen, versucht sich weiter zum normalen Gang zu zwingen doch es will nicht, es will rennen und er will gehen und er trippelt wieder und merkt, wie sich sein Gesichtsausdruck durch seine Angst verändert und Tränen in seine Augen schießen und jetzt will er rennen und er rennt los, auf die Glastür vor ihm zu... Und kurz bevor er da ist, sieht er wie rechts von ihm, fast unmittelbar vor der Glastür, eine andere Tür aufgeht und jemand herauskommt doch er sieht nicht hin, er will nicht hinsehen, er will hier weg und reißt die Glastür auf, die er jetzt endlich erreicht hat und stürzt hindurch und jetzt ist er im Treppenhaus und er rennt einfach an den Treppen, die links von ihm nach unten führen, vorbei auf die nächste Glastür zu und reißt auch diese auf und sieht wieder einen Flur, wie den, den er eben verlassen hatte, nur anders.
Diesen Flur kennt er, glaubt er. Er geht wieder langsamer, aber sein Herz rast immer noch und sein Gesicht ist immer noch von Panik erfüllt. Seine Augen sind immer noch feucht und aufgerissen. Er geht den Flur entlang, der wie der andere gebaut ist, nur spiegelverkehrt. Gerade so, als ob er den Teil, den er gerade im anderen Flur verlassen hatte, jetzt wieder betritt, nur eben in einem anderen Flur. Aber er hat kein gutes Gefühl bei der Sache, gar kein gutes Gefühl. Er spürt, wie sein Herz hämmert und pocht, hört seinen rasenden Puls, der alles nur noch bedrohlicher und beängstigender macht, und je näher er dem breiteren Teil des Flurs kommt, desto stärker fällt ihm auf, dass auch dies nicht sein Flur ist, und Tränen schießen wieder in seine Augen und es fängt an zu wimmern doch er will nicht wimmern, er will nach Hause, einfach nach Hause und vor ihm, ganz hinten geht eine andere Tür auf und es kommt jemand heraus, ein Mann, ein schwarzer Mann und aus seinem eigenen Mund hört er es schreien und er dreht auf der Stelle um und stürzt wieder zurück Richtung Treppenhaus und reißt die Glastür auf und an der gegenüberliegenden Glastür steht eine Frau, und das muss die Person sein, die er in dem ersten Flur nur im Vorbeirennen bemerkt hatte und er will dort nicht hin und die Person ruft etwas und der Mann hinter ihm ruft etwas doch er hört nicht hin, es und er steuern nach rechts die Treppen hinunter und als er an der Frau vorbeiprescht, spürt er wieder diesen panischen Stoß und dieses Treibende, aber er ist schon wieder weiter und er weiß nicht, ob sie ihm folgt und er springt die letzten zwei Stufen mit einem Satz hinab und unten sieht er das Aquarium und das kommt ihm bekannt vor, jetzt muss er nach rechts und er stürzt rechts durch die Glastür und das ist er, sein Flur, er erkennt ihn sofort, jetzt ist er zuhause aber er rennt trotzdem weiter, an dem breiten Teil des Flurs vorbei, vorbei an dem Fenster mit den Blumen auf dem Sims und den Bildern, den richtigen Bildern und den Stühlen, die genauso aussehen wie die oben aber diesmal die richtigen Stühle sind und ihn beruhigen und dann zählt er im Vorbeirennen die Türen - eins - zwei - drei - und stürzt durch die vierte Tür und hier ist er in seinem Zimmer und er wirft die Tür hinter sich zu und schmeißt sich auf sein Bett und weint und wimmert und hämmert mit seinen Händen auf der Matratze. Doch schon beruhigt er sich, die Fremde liegt hinter ihm, er ist jetzt wieder hier, er ist wieder in seinem Flur.
Die Tür geht auf und herein kommt ein bekanntes Gesicht. Durch seine Tränen nimmt er es nur verschwommen war, aber er kennt dieses Gesicht, und es beruhigt ihn, es zu sehen. Aber er will jetzt nicht hinsehen, er will einfach weinen und dieses schreckliche Gefühl loswerden. Er setzt sich an die Bettkante, legt seine Hände auf sein Gesicht und wippt vor und zurück, wimmernd.
"Alles in Ordnung, Frank? Hast du dich wieder verlaufen?"
Mit den Händen auf seinem Gesicht nickt er.
"Ist doch nicht schlimm. Jetzt bist du ja wieder hier. Es ist doch alles in Ordnung."
Er spürt, wie ihm eine Hand auf die Schulter gelegt wird. Ja, er ist wieder hier, und das ist in Ordnung, aber sonst ist nichts in Ordnung, gar nichts.
"Ich gehe jetzt und hole die Tabletten, die Dr. Zwirnmann empfohlen hat, okay? Die werden dich beruhigen, und dann kannst du schlafen. In Ordnung?"
Er nickt wieder und der Pfleger nimmt behutsam die Hand von seiner Schulter und verlässt den Raum.
Er hasst es, so zu sein. Und er fragt sich, ob er hier jemals wieder raus kann, ob seine Tage irgendwann wieder weniger Horror werden, oder er auf immer und ewig in der Psychiatrie leben muss.