Der weiße Fleck auf meiner Jeans
Der weiße Fleck auf meiner Jeans
Der weiße Fleck auf meiner blauen Jeans in Höhe des rechten Knies ist meiner Mutter ein Dorn im Auge. "Die Hose kannst du doch nicht mehr anziehen! Die trägst du doch hoffentlich nicht im Büro?" - "Doch", sage ich. Warum auch nicht?
Zugegeben, die Hose sieht sicher nicht mehr schön aus. Noch immer dunkel blau und nur auf der rechten Seite ein großer weißer Fleck am Knie. Wäre die Hose auf beiden Seiten gleichmäßig weiß, könnte man denken, sie wäre vom Waschen ausgebleicht. Aber so? Ich habe nie darüber nachgedacht, die Hose deshalb wegzuwerfen. Über den Fleck habe ich mir auch keine Gedanken mehr gemacht, aber so wurde ich daran erinnert. Und je länger ich daran denke, wie der Fleck auf die Hose gekommen ist, desto lieber wird mir die Jeans.
Es ist eine enge, aber bequeme Jeans aus Stretch, die ich auch meistens auf Reisen trage. So auch im Januar 2002 auf dem Flug nach Venedig.
Es war kalt in Venedig, so um die 0 Grad, die Gehwege waren teilweise vereist, aber die Sonne schien. Jeden Morgen studierte ich am Frühstückstisch im Hotel den Reiseführer, den mir mein Chef zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich suchte mir dann all die faszinierenden Orte aus, die ich mir für an dem Tag ansehen wollte. An diesem Tag war ich im Dogenpalast und in der Basilica San Marco und ich erinnere mich, dass ich mehr von Venedig gesehen habe, als ich eigentlich geplant hatte, so oft habe ich mich in den vielen unübersichtlichen Gassen verfahren. Mit "verfahren" meine ich nicht "verlaufen". Denn an diesem Morgen hatte ich mein Kickboard zusammengebaut und mich den belustigten Blicken und Kommentaren der Venezianer und Touristen ausgesetzt. Eingepackt in eine dicke Winterjacke mit Handschuhen, Sonnenbrille und Rucksack auf dem Rücken bin ich auf dem Aluroller durch Venedig geflitzt. In der ganzen Woche ist mir kein zweites Kickboard begegnet.
Der Markusplatz war dann auch eine Herausforderung. Er war größer als ich ihn mir vorgestellt hatte, umrahmt von den eindrucksvollen Prokuratien. Viele Leute waren nicht auf dem Platz unterwegs, die meisten gingen an den Geschäften unter den Prokuratien entlang. Der Platz lag riesengroß und fast leer in schönster Mittagssonne. Was sein muss, muss sein, dachte ich und flitzte los. Quer über den Jahrhunderte alten Platz, sämtliche Blicke hinter mir herziehend und Tauben aufscheuchend.
Wie ich so durch Venedig sauste, kam ich bei der Rialtobrücke an einer kleinen Kirche, der Chiesa San Bortolomé, vorbei. Dort wurden für den Abend Karten für ein Vivaldikonzert verkauft. Die Karte war teuer, aber wenn man schon mal in Venedig ist, dachte ich und kaufte eine Karte. Beginn war 20.30 Uhr und bis 20.00 Uhr sollte man die Plätze eingenommen haben, stand auf der Karte. Ich hatte noch drei Stunden Zeit bis dahin. Es war eiskalt und sobald ich mit meinem Roller stehen blieb, fing ich an zu frieren. Also blieb mir nichts anderes übrig als weiter durch die dunkel werdenden Gassen zu rollen und mir die Paläste und die vielen kleinen hell erleuchteten Geschäfte anzusehen. Ins Hotel zu gehen hätte sich nicht mehr gelohnt und wer weiß, ob ich abends noch Lust gehabt hätte, aus dem warmen Hotelzimmer, wieder in die Kälte raus ans andere Ende der Stadt zu fahren. Ich war seit 10.00 Uhr morgens auf dem Roller unterwegs. Es sieht so leicht aus, darauf zu fahren, aber wer das eine Weile gemacht hat, weiß, dass das anstrengend werden kann. Man steht die ganze Zeit nur auf einem Bein und mit dem anderen macht man immer dieselbe Bewegung des Abstoßens vom Boden. Schon am Morgen nach zehn Minuten wußte ich, wo ich am nächsten Tag Muskelkater haben würde. Dazu kommt das Straßenpflaster auf Venedigs Gassen, das einen gehörig durchrüttelt.
Jetzt, nach sieben Stunden taten mir die Beine weh, Gesicht und Hände waren verfroren, es war mittlerweile dunkel und ich musste noch drei Stunden auf den Beginn des Konzerts warten.
Auf der Rialtobrücke fand ich einen kleinen Glühweinstand. Der Glühwein war zu heiss und zu süß, den Rest habe ich weggeschüttet, er war eklig. Um warm zu bleiben, rollte ich noch einmal durch die Gassen um das Rialtoviertel. Zwanzig Minuten später war ich wieder an der Kirche. Also weiter in eine andere Richtung gerollt. Im Dunkeln sehen die Gassen mit den Glas- Masken-, Schmuck- und Touristengeschäften alle gleich aus. Ich schlängelte mich durch die Menschenmassen und sobald diese weniger und die Gassen einsam und noch dunkler wurden, kehrte ich um. Zielsicher fand ich jedesmal zur Kirche an der Rialtobrücke zurück, einen Stadtplan hatte ich nicht mit. Meine Beine spürte ich mittlerweile nicht mehr, auch ansonsten war ich müde und kalt und sehnte mich in ein warmes Bett. Aber es war immer noch eine Stunde Zeit. Mein Gott, wohin jetzt noch? Ich riss mich also zusammen, um noch eine kleine Runde zu drehen, die mir eine halbe Stunde einbrachte, bevor ich schon wieder vor der Kirche stand. Was freute ich mich auf das Konzert. Ich stellte mir einen gepolsterten Sitz in einem behaglich warmen Kirchenraum vor, auf den ich zu sinken gedachte, um mit geschlossenen Augen und alle Viere von mir streckend Vivaldi zu lauschen. Aber was sollte ich mit der letzten halben Stunde machen? Es wurde immer kälter draußen und stehen bleiben konnte ich nicht. Zähne zusammenbeissen und ein letztes Mal durch die Gassen rollen. Und dann passierte es. Ich wußte nicht mehr wo ich war. Bravo! Gut gemacht! Ich versuchte es mit dieser Gasse und mit einer anderen, mit vielen anderen. Nichts zu sehen, was ich wiedererkannte. Es wurde zehn vor acht. In zehn Minuten war Einlass. Was tun? Was tun? Ich rollte weiter in irgendwelche dunklen und einsamen Gassen, die mich zurückbringen sollten, aber Fehlanzeige. Keine Geschäfte mehr, keine Touristen, keine Venezianer. Aber dafür wieder eine Brücke. Die bestimmt vierzigste an diesem Tag, über die ich meinen Roller tragen durfte. Mir fiel bald der Arm ab. Man hörte nur noch das Klappern der Hartgummiräder auf dem feuchten Steinpflaster, das umso lauter wurde, wenn ich einen menschenleeren dunklen Platz überquerte. Ich war völlig allein, hektisch und dann fiel mir der Film "Wenn die Gondeln Trauer tragen" ein. Bevor sich jedoch Panik breit machen konnte, tat sich da hinten etwas auf, das ich schon mal gesehen hatte. Ich fuhr darauf zu und.... oh nein! Ich stand auf dem großen leeren Markusplatz, weit, weit von der Rialtobrücke weg. Umkehren? Und mich noch mehr verfahren? Nein, von hier aus wusste ich, wie ich zum Rialtoviertel kam. Ich musste nur quer über den Markusplatz zur Vaporettostation. Von dort brauchte das Schiff ca. zwanzig Minuten zur Kirche. Also gab ich Gas. So schnell, dachte ich, ist der Markusplatz noch nie überquert worden. Ich stiess mich zwei, drei Mal kräftig ab und flog geradezu quer über den riesengroßen dunklen Platz. Ein unbeschreibliches Gefühl. Bis zu dem Moment, als das Hinterrad auf dem Eis wegrutschte. Sehr unelegant landete ich mit den Knien auf dem harten Steinboden. Aua! Das hatte weh getan! Einen kurzen Moment verschwendete ich mit dem Gedanken "Hoffentlich hat das jetzt keiner gesehen", doch nichts wie aufgerafft. Vivaldi wartet! Ich schwang mich wieder auf , stieß ab und kam keine zwei Meter weit. Das Hinterrad rutschte weg und ich wiederholte den Fall bis ins Detail, nur dass ich mir das rechte Knie diesmal richtig weh tat. Ich raffte mich auf und konnte kaum auftreten. Von da an schob ich meinen Roller humpelnd und fluchend die letzten zwei oder dreihundert Meter zum Wasser. Es war acht Uhr. Die Linie 82 war die schnellste, doch die fuhr natürlich nicht mehr. Wartete ich also auf die Linie 1, die an jedem verdammten Gondelpfahl hält. Acht Stationen tuckerte das Boot und vor meinem geistigen Auge sah ich bereits Menschenmassen die Kirche füllen und mich mit meinem lädierten Knie und meinem Roller zu spät in das Konzert platzen, mit entsetzlichem Muskelkater, Schmerzen im Knie, frierend und mit Taubendreck an der Hose in der kalten Kirche das ganze Konzert über stehen. Um fünf vor halb neun legte das Vaporetto endlich an und ich lief humpelnd mit dem Roller über der Schulter zur Kirche.
Sie war halb voll und ich sicherte mir ein Plätzchen neben einem warmen Heizofen. Auf dem Stuhl lag ein Kissen und ich nahm mir noch das von dem freien Platz neben mir. Das Konzert begann, ich machte die Augen zu und brauchte mich die nächste Stunde nicht mehr zu bewegen, während der Taubendreck auf meiner Jeans trocknete.