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Der weiße Hirsch
Das hohe Piepsen des Weckers riss Annika brutal aus dem Schlaf. Durch die vertrocknete Make-up Schicht von letzter Nacht blinzelte sie in die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Stöhnend drehte sie sich zur Seite und drückte wütend auf den Knopf. Der Wecker verstummte. Lustlos drehte sie sich auf die Seite und wollte weiter schlafen.
Doch da kam ihre kleine Schwester ins Zimmer und rief: „Schule, Schule, Schule!“
Toll, ihre kleine nervige Schwester freute sich auf die Schule und machte einen großen Auffuhr deswegen. Sie kam in die erste Klasse und hatte schon Wochen vorher Federmäppchen mit Stiften gefüllt und Bücher und Hefte in ihre neue Schultasche gestopft Annika selbst hätte noch am liebsten Ferien.
Paula, so hieß ihre Schwester, musste sich ducken, als Annika ihr Kopfkissen nach ihr warf. Es klatschte gegen die Wand und fiel zu Boden.
„Halt die Klappe!“
„Aufstehen!“, rief Paula munter und zog ihr die Decke weg.
„He!“ Annika zog die Decke wieder zurück, wickelte sich darin ein und drehte sich trotzig wieder auf die Seite.
„Du kommst noch zu spät!“
Sie zog an der Decke.
„Ist mir doch egal!“ Annika zog die Decke über den Kopf.
Ihre Schwester bekam einen Fußtritt ab. „Lass mich in Ruhe, du nerviges Biest!“
Paula wich einen weiteren Fußtritt aus und schüttelte den Kopf.
„Also, so geht das nicht!“
Ihre Schwester schnappte sich ihren Wecker, verstellte die Weckzeit und das Gerät fing wieder an zu piepsen.
„Mach das Ding aus!“, schrie Annika durch die Decke. Das Piepsen verriet ihr, dass ihre Schwester sich nicht beirren lies. Wütend schlug sie die Decke zurück. „Na warte!“
Einige Zeit rauften sie miteinander, bis ihre Mutter im Türrahmen stand. Sie sah müde aus, dicke Ringe zeigten sich unter ihren Augen. Ihre Haare waren ungekämmt und ihre Schminke vom vorherigen Tag hatte sie auch noch nicht abgewaschen.
„Paula geht frühstücken, Annika, du wäschst dich, ziehst dich an und machst dieses bescheuerte Ding aus!“
Annika fand ihre Mutter klasse. Sie versuchte nie, wie andere Mütter zu schlichten, sondern wieder Ordnung in den Alltag zu bringen.
Annika drückte ein zweites Mal den Knopf und ging dann ins Bad. Sie wusch sich das Make-up von letzter Nacht ab, kämmte sich ihre roten Haare und legte wieder Schminke auf. Kajal, Wimperntusche, Rouge und Lippenstift, dann war sie fertig. Sie ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Ihr Lieblingstop eine Jeans, darüber ein knallroter Rock. Annika zog immer Röcke an, auch im Winter, wenn es draußen kalt war. Es war ihr Markenzeichen. Deswegen wurde sie von ihren Freundinnen oft Rocki genannt.
Sie ging nach unten zum Frühstück, wo der Rest der Familie schon fast aufgegessen hatte. Ihr Vater las die Zeitung, ihre Mutter schmierte Pausenbrote und Paula kaute an einem Marmeladentoast.
Ihr Vater sah auf, als sie in die Küche kam.
„Kannst du dir nicht einmal was Anständiges anziehen?“, brummte er. Das sagte er fast jeden Morgen. Annika rollte mit den Augen.
„Lass sie, sie kann das selbst entscheiden“, sagte ihre Mutter. Ein triumphierendes Lächeln huschte über Annikas Gesicht, ihrem Vater entging das nicht.
„Schatz, schau dir das Kind doch einmal an! Die sieht ja aus wie…“
„Ich habe schon Mädels gesehen in ihrem Alter, die sahen schlimmer aus“, unterbrach sie ihn.
„Ich finde das cool“, meinte Paule und schluckte ihren letzten Bissen herunter.
Ihr Vater grunzte nur und murmelte etwas von der „Jugend heutzutage“ und versteckte sich wieder hinter der Tageszeitung.
Ein weißer Hirsch schimmerte an seiner Seite.
„Papi?“ Annika stockte der Atem.
„Hmmm?“
Der Hirsch war verschwunden. Annika schauerte. Vielleicht war alles nur Einbildung…
„WAS?“
„Nichts.“ Annika atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Das hast du dir nur eingebildet, sagte sie zu sich selbst, du bist nur noch nicht ganz wach…
Sie ging zu Kaffeemaschine und schenkte sich einen Kaffee ein. Wegen ihrer zittrigen Hände vergoss sie das heiße Getränk über ihre Hände.
„Autsch!“
Sie lies die Tasse fallen. Sie zerbrach nicht, worüber sie sich wunderte.
Ihr Vater hatte sich wieder der Zeitung zugewendet und hatte sie auch nicht weiter gefragt. Paula lies ihre Glücksmaus Kitty in ihre Schultasche gleiten und hatte von all dem nichts mitbekommen. Ihre Mutter trank Tee und hatte sich über einen Werbeprospekt gebeugt. Erleichtert atmete Annika auf.
Als sie sich nach der Tasse bückte, war er wieder da. Der weiße Hirsch stand genau vor ihr, aufrichtig und stolz. Sie hätte fast aufgeschrieen. Sie richtete sich auf und wich zurück. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Das, was sie sah, war jenseits aller Vorstellungskraft. Es gabt KEINE weißen Hirsche, schon gar nicht hier in ihrer Küche.
„Mama!“, schrie sie. In dem Moment verschwand der Hirsch.
„Ja Schätzchen?“ Ihre Mutter hatte noch nicht einmal aufgesehen.
„Da war was weißes.“
„Was denn?“
Annika überlegte kurz.
„Ein Hirsch“, sagte sie schließlich mit fester stimme.
„Kann schon sein, kann schon sein“, kicherte ihre Mutter. Wollte sie Annika reinlegen, verspotten? Annika biss sich auf die Unterlippe.
„Nein, wirklich!“
Keiner reagierte. Nur Paula lächelte sie an. War es spöttisch oder verschmitzt? Annika konnte es nicht so genau sagen.
Das war seltsam. Annika erinnerte sich an viele Situationen in ihren Leben, wo sie glaubte nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Einmal hatte sich Annika, als sie sieben war, das Knie aufgeschlagen und ihre Mutter hatte eine Salbe draufgeschmiert, die die Wunde in nur einem Tag geheilt hat. Als sie neun gewesen war, glaubte sie in dem Zimmer ihrer Stimmen zu hören, obwohl sie doch keine Freundinnen zu sich eingeladen hatte. Als sie Paulas Zimmer betrat, sah sie gerade noch, wie ihr Plüschelefant wieder auf ihr Bett kletterte. Beim „Mensch-ärgere-dich_nicht“ hatte ihr Vater immer die Zahl gewürfelt, die er brauchte um zu gewinnen. Und warum der Rasen bei ihnen noch prächtig grün war obwohl es schon die ganze zeit fürchterlich heiß war und das Gras der Nachbarn schon längst braun war, konnte sie sich auch nicht erklären. Sie hatten noch nicht ein mal den Rasensprenger eingeschaltet.
Annika schenkte sich neuen Kaffee ein und nahm einen großen Schluck. Es ging ihr schon bald viel besser. Als sie ausgetrunken hatte stellte sie die leere Tasse in die Spülmaschine und schnappte sich ihre Schultasche.
„So Mama, ich muss jetzt los.“
„He, nimm Paula mit! Nicht, dass sie noch auf die Straße rennt.“
Annika fiel es besonders schwer, nicht die Augen zu verdrehen.
Paula trank noch einen letzten Schluck Kakao und gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss. Sie versuchte es auch bei ihrem Vater, aber dessen Gesicht war stur hinter der Zeitung verborgen. Sie zuckte mit den Schultern und ging mit Paula zur Tür, wo der weiße Hirsch stand. Vor Schreck schrie Annika auf.
„Mama, sieh mal, da ist er wieder!“
Ihre Mutter sah sie an, verzog aber vorsorglich keine Miene. Paula schien erfreut.
„Hexe, Hexe“, rief Paula und lachte. „Hexe, Hexe!“
„Hör auf!“
Annika hatte auf einmal richtig Angst. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde in ihrer Brust zerspringen. Jetzt legte ihr Vater sogar seine Zeitung bei Seite und sang mit: „Hexe, Hexe! Hexe, Hexe!“ Ihre Mutter sprang begeistert mit ein: „Hexe, Hexe!“
Die Tassen wirbelten aus ihren Schränken, rotierten rasend schnell um sie herum und begannen im Takt zu klirren und zu klimpern. Annika stand da wie erstarrt, die Augen weit geöffnet vor Angst und Entsetzen.
„Du bist auch eine Hexe! Ich habe es doch gewusst!“, rief Paula über das Geklimper und Geklirre hinweg, „Mama und Papa haben die ganze Zeit gedacht, du wärst nur ein Mensch. Aber das bist du nicht. Nur Hexen können den weißen Hirsch sehen. Du wirst jetzt zaubern lernen, so wie ich! Endlich müssen wir nichts mehr vor dir verheimlichen!“
„Nein!“, schrie Annika, ohne zu wissen warum. Sie wollte nur noch raus. Weg von diesen Verrückten. Sie rüttelte an der Haustür, sie war verschlossen. Annika trat einmal fest dagegen, ihre Eltern und ihre Schwester hatten wieder angefangen zu singen.
Der Hirsch stand neben ihr und stupste sie besänftigend an. Annika stieß ihn mit der Macht ihrer Verzweiflung weg. Der Hirsch stieg und traf sie mit den harten Hufen. Blut lief ihr den Unterarm herunter und tropfte auf den Küchenboden. Der Hirsch sah sie zornig an und verschwand. Dann wurde alles schwarz um sie und sie fiel ins Leere…
Der Wecker piepste wieder irgendwo in ihrem Zimmer. Annika konnte nicht aufstehen. Ihre Glieder waren so schwer… Paula kam in ihr Zimmer, suchte den Wecker, fand ihn und schaltete ihn aus. Annika stöhnte. Es war alles nur ein Traum, dachte sie und lächelte.
Ihre Mutter kam ins Zimmer. Sie trug einen Kessel und einen ausgefransten Besen.
„Guten morgen. Na, wie geht es dir?“
„Ganz gut.“
„Toll, dann können wir auch gleich anfangen.“
Annika erschrak. Sie schloss kurz die Augen und sah dann auf ihren Arm. Am Unterarm klebte Blut. Der Hirsch stand neben ihr. Kleine wesen flatterten im Raum, winzige Elfen und Feen. Es war doch kein Traum…
„Aufstehen, Hexe…“